Tödliche Arbeitsunfälle: Wieviel ist ein Arbeiterleben wert?

Am frühen Montagmorgen, dem 1. Juli, wurde ein Gleisbauarbeiter getötet. Der 49-Jährige, der zu einem Bautrupp am Gleiskörper der Bahnstrecke Diedelsheim– Gondelsheim im Landkreis Karlsruhe gehörte, wurde von einem durchfahrenden Regionalzug erfasst und tödlich verletzt. Über die Umstände und Ursachen ist bisher nichts Näheres zu erfahren.

In derselben ersten Juliwoche starb auch ein Bauarbeiter auf dem Gelände der Hamburger Kupferschmiede Aurubis. Am Vormittag des 4. Juli waren dort Arbeiter einer Gerüstbaufirma im Bereich einer Stranggussanlage mit Verladearbeiten beschäftigt, als sich mehrere Stangen aus ihrer Befestigung an einem Kran lösten und aus mehreren Metern Höhe herabstürzten. Der Arbeiter wurde am Kopf so schwer verletzt, dass er kurz darauf im Krankenhaus verstarb. Er wurde nur 26 Jahre alt.

Großbaustelle "Four" in Frankfurt am Main. Auf dieser Baustelle kam es im April 2024 zu einem tödlichen Unfall durch herabstürzende Bauteile (Foto: Feldarbeit / Wikipedia) [Photo by Feldarbeit / CC BY-SA 4.0]

Jahr für Jahr kommt es in Deutschland zu einigen hunderttausend Arbeitsunfällen; davon verlaufen mehrere hundert tödlich. Laut Statistika ereignen sich jedes Jahr mehr als 700.000 Arbeitsunfälle.

Bisher hat der längerfristige Trend von Jahr zu Jahr einen stetigen Rückgang gezeigt. In den zehn Jahren von 2011 bis 2021 gingen die Unfall-Gesamtzahlen von 900.000 auf 700.000 zurück. Aber dies könnte sich ändern.

In den letzten Jahren, insbesondere seit der Corona-Pandemie, seitdem sich die Maxime „Profite vor Leben“ mehr und mehr durchsetzt, steigen die Zahlen wieder an. Und vor allem, seitdem die deutsche Regierung den Kurs auf ungezügelte Kriegspolitik hält, stellt sich die Frage: Was wird die Aufrüstung und Kriegsorgie Arbeiter und Arbeiterinnen an Steuern, Reallohnsenkungen, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen – und auch an Leben kosten? Was ist ein Arbeiterleben wert?

Die tödlichen Arbeitsunfälle, die in der Vor-Corona-Zeit stetig zurückgingen, könnten wieder ansteigen. Im Jahr 2011 wurden 886 tödliche Arbeitsunfälle registriert (519 Betriebs- und 367 Wegeunfälle). Im Jahr 2021 waren es noch 369, davon 100 Wegeunfälle. In der Zeit von 2006 auf 2021 hatte sich die Zahl der tödlichen Unfälle halbiert: Wurden im Jahr 2006 noch mehr als zwei von 100.000 Erwerbstätigen Opfer eines tödlichen Arbeitsunfalls, war es 2021 nur noch knapp einer von 100.000. In der EU ging die Zahl in dieser Zeit von 2,31 tödlichen Arbeitsunfällen je 100.000 Erwerbstätige auf 1,76 zurück. Aber dieser Trend ist offenbar gestoppt.

Laut der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) betrug im Jahr 2023 die Gesamtzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle fast eine Million. 783.462 Unfälle im Betrieb und 184.355 Wegeunfälle waren es genau, die „eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder den Tod“ zur Folge hatten.

Mehr als 10.000 davon wurden als schwere Arbeitsunfälle verzeichnet, „bei denen es zur Zahlung einer Rente oder eines Sterbegelds gekommen ist“. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle betrug 599 (381 im Betrieb und 218 als Wegeunfall). In den Vorjahren betrugen die Gesamtzahlen tödlicher Arbeitsunfälle: 508 im Jahr 2020, 628 im Jahr 2021 und 423 im Jahr 2022.

Insgesamt sind die Zahlen nicht sehr verlässlich. Sie werden im Wesentlichen durch die Unfallversicherungen erhoben, denen längst nicht alle Unfälle gemeldet werden. Für eine Dunkelziffer sorgen beispielsweise Baufirmen, die Arbeiter aus Osteuropa oder Afrika ohne Papiere beschäftigen und sie auch bei Unfällen kaum melden. Andere wieder zahlen Prämien für unfallfreie Monate, was die realen Zahlen ebenfalls verfälschen kann.

Was die Corona-Pandemie betrifft, so haben die Lockdowns zwar zu einem relativen Rückgang der Arbeitsunfälle geführt. Wie viele sich jedoch am Arbeitsplatz angesteckt haben oder gestorben sind, ist unklar und wurde nicht im Detail erfasst. Insgesamt sind in Deutschland mindestens 183.000 Menschen an Corona gestorben.

In jedem Fall hat die Pandemie für zunehmende Gefährdung am Arbeitsplatz gesorgt. Covid-19 bewirkte einen deutlichen Anstieg der Berufskrankheiten: Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit um 62 Prozent gegenüber dem Vorjahr an und betrug insgesamt fast 370.000 Anzeigen. Fast achtzig Prozent davon betrafen den Verdacht auf Corona oder Long Covid. Sie kamen vor allem aus dem Bereich der Krankenhäuser und Pflegeheime.

Eine hohe Zahl schwerer und tödlicher Unfälle gab es zuletzt bei der Deutschen Bahn, die der Bundesregierung gehört und zugunsten des Kriegshaushalts jedes Jahr mehr kaputtgespart wird. Im vergangenen Jahr 2023 kam es bei der Bahn zu mindestens elf tödlichen Unfällen. Die Todesopfer waren ein Lokführer, ein Rangierlokführer, zwei DB-Gleisarbeiter, sechs Arbeiter von Fremdfirmen (im Gleisbau und im Grünschnitt) und ein DB-Azubi.

Vor allem die Bauwirtschaft ist bei den tödlichen Arbeitsunfällen an erster Stelle zu nennen. Durchschnittlich passieren knapp über 14 Prozent aller Arbeitsunfälle am Bau. In anderen Worten: Jeder siebte Arbeitsunfall ereignet sich auf einer Baustelle.

Im Jahr 2011 wurden noch mehr als 135.000 Arbeitsunfälle auf Baustellen gemeldet. Bis zum Jahr 2022 ist diese Zahl auf knapp 100.000 Arbeitsunfälle zurückgegangen. Auch dieser Trend könnte sich wieder umdrehen. Denn um Unfälle zu vermeiden, ist es notwendig, alle technischen Schutzvorkehrungen zu nutzen und vor allem die Bauarbeiter auszubilden und mit Persönlicher Schutzausrüstung (PSA) auszustatten: Sicherheitsschuhe, Helm, Schutzbrille, Gehörschutz, Handschuhe, Seil und Karabiner, etc. Bei dem immer größeren Stress, Mangel an geschulten Vorarbeitern und einer wachsenden Zahl an nicht ausgebildeten Hilfsarbeitern nehmen zwangsläufig auch die Unfälle wieder zu.

In dem Jahrzehnt von 2011 bis 2021 passierten im Durchschnitt pro Jahr 118.000 Arbeitsunfälle auf Baustellen, was über 320 Unfällen pro Tag entspricht. In diesen Zahlen sind natürlich alle Unfälle – von einer leichten Quetschung bis hin zum tödlichen Sturz vom Dach – enthalten. Doch auch die schweren und tödlichen Unfälle betreffen die Baustellen in besonderem Maß. Von besagten 118.000 Arbeitsunfällen pro Jahr waren durchschnittlich 2.700 schwer und sogar 85 tödlich. Im Jahr 2022 haben sich laut Angaben der IG BAU 74 tödliche Arbeitsunfälle am Bau ereignet. Für das Jahr 2023 liegen noch keine Zahlen vor.

Diese Zahlen heißen im Klartext: Alle vier bis fünf Tage, mehr als einmal pro Woche, stirbt ein Arbeiter auf einer deutschen Baustelle. Er stürzt vom Gerüst oder vom Dach, wird durch ein herabfallendes oder umstürzendes Teil erschlagen oder begraben oder erstickt jämmerlich, wenn unerwartet giftige Gase aus einer Leitung austreten.

Die Unfälle werfen ein Licht auf die Tatsache, dass gerade die schlecht bezahlten, wenig gewürdigten Berufe die größten Gefahren bergen. Mit dafür verantwortlich sind die Gewerkschaften, allen voran EVG, IG Metall oder IG BAU. In ihrer Unterstützung der deutschen Wirtschaft und der Kriegsinteressen der Regierung sorgen sie dafür, dass die Sicherheit der Beschäftigten hintangestellt wird.

In der Bauwirtschaft hat die Gewerkschaft IG BAU vor kurzem die beste Gelegenheit versäumt, die prekäre Situation der Niedriglöhne bei großer Unfallgefahr zu thematisieren. Sie hat den ersten bundesweiten Bauarbeiterstreik seit 22 Jahren mit einer miserablen Tarifeinigung abgewürgt, worauf die Bauunternehmer 10.000 Stellenstreichungen ankündigten.

Mit andern Worten: Die IG BAU sorgt mit dafür, dass rund eine Million Bauarbeiter nicht nur mit Reallohnsenkung und Arbeitsplatzverlust für die Profite und die Kriegspolitik bezahlen, sondern infolge des Personalabbaus zwangsläufig auch unter gesteigerter Unfallgefahr schuften müssen.

Die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei appellieren an alle Arbeiter in den gefährdeten Berufen, sich in Aktionskomitees zusammenzuschließen, die unabhängig von den Gewerkschaften handeln können. So können sie alle notwendigen Infos sammeln und zugänglich machen und sich mit Kolleginnen und Kollegen in den anderen Betrieben und Ländern im Kampf zusammenschließen. Das Leben und Wohlergehen der Arbeiter ist wichtiger als die Profite! Und die Probleme der globalen Profit- und Kriegswirtschaft packt man am besten international gemeinsam an. Genau zu diesem Zweck wurde die Internationale Arbeiterassoziation der Aktionskomitees gegründet.

Normalerweise bleiben die besonderen Umstände und Ursachen der tödlich verlaufenden Arbeitsunfälle im Dunkeln. Kaum je erfährt man über kurze, unpersönliche Polizeimeldungen hinaus Näheres darüber, wie es zu diesem konkreten Tod kommen konnte, und was er für Angehörige und Kollegen bedeutet. Doch es gibt immer mehr Ausnahmen von der Regel.

Nach dem Tod des 19-jährigen Bahn-Azubis Simon Hedemann im September 2023 nahmen seine Eltern den Kampf um eine volle Aufklärung auf. Der WSWS sagten sie: „Unser Sohn ist bei der Ausübung seiner Arbeit ums Leben gekommen, doch über das WIE und WESHALB lässt man uns im Unklaren.“

Auch Katharina Lopes Duarte, die Partnerin des Bahnarbeiters Ali Ceyhan (33), der im gleichen September 2023 bei Gleisbauarbeiten von einem Zug erfasst und getötet wurde, ging in die Offensive. „Ali darf nicht als eine Zahl in der Statistik verschwinden“, sagte sie der WSWS.

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