Flüchtlinge in Heidelberg: „Wann dürfen wir endlich lernen und arbeiten?“

Mittags um zwei füllt sich der Platz vor dem Patrick Henry Village. Dutzende Menschen warten hier auf drei Shuttlebusse, die sie ins Heidelberger Zentrum bringen. Es ist die einzige Verkehrsverbindung, die die Flüchtlinge mit ihrer Umwelt verbindet.

Die Menschen kommen aus Nordafrika und aus Syrien, Afghanistan, Bangladesch, Irak und andern Ländern. Im Patrick Henry Village angekommen, haben sie ein Leben in Krieg und Terror und eine strapaziöse Reise im Schlauchboot übers Mittelmeer und zu Fuß über tausende Kilometer Wegstrecke hinter sich. Sie sind erschöpft, doch voller Hoffnungen auf eine Zukunft in Frieden.

Sie verstehen nicht, was hier mit ihnen geschieht und warum sie wochenlang untätig hingehalten, in alte Kasernen gesperrt und von der Bevölkerung isoliert werden. Das Patrick Henry Village liegt weit draußen vor der Stadt Heidelberg, über eine halbe Stunde von der nächstgelegenen Straßenbahnendhaltestelle entfernt.

Es ist eine ehemalige Wohnsiedlung der US-Army aus den 1950er Jahren (in Heidelberg befand sich lange Zeit ein Hauptquartier der US-EUCOM, der amerikanischen Streitkräfte in Europa). Seit dem Anschlag vom 11. September 2001 ist das gesamte, fast hundert Hektar große Gelände mit einem hohen Drahtzaun von der Umwelt abgeriegelt.

Anfang November 2015 befinden sich rund 5000 Flüchtlinge im Patrick Henry Village. Hier ist die zentrale Erstaufnahmestelle von Baden-Württemberg. Und jetzt soll hier voraussichtlich eines der beschlossenen Schnellverfahrenszentren eingerichtet werden.

Die Berliner Regierungsparteien CDU, CSU und SPD haben sich letzte Woche darauf geeinigt, bis zu fünf solcher „Beschleunigungszentren“ einzurichten, um Flüchtlinge aus „sicheren Herkunftsländern“ von den andern zu trennen und rascher abschieben zu können.

Dafür sei das Patrick Henry Village geradezu ideal, „eine Art Vorzeigeprojekt“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Die Grünen) letzte Woche. Hier nehmen Bundeswehrsoldaten den Flüchtlingen in über dreißig „einheitlichen Bearbeitungssstraßen“ die Fingerabdrücke und biometrischen Daten, hier werden sie registriert und auch geröntgt.

Ein Team der World Socialist Web Site besucht den Ort, kommt jedoch nur bis zum bewachten Eingang und wird nicht weiter vorgelassen. Hier sprechen wir mit Menschen, die im Patrick Henry Village gestrandet sind. Was die Regierung mit ihnen vorhat, davon wissen sie wenig, aber sie sind alle voller Hoffnungen und Pläne.

„Ich möchte Deutsch lernen und Arbeit suchen“, sagt uns Manouar [alle Namen von der Redaktion geändert], der aus einem Dorf an der algerisch-tunesischen Grenze stammt. Er habe Glück, sagt der Siebzehnjährige, denn er sei in das Programm für „unbegleitete Minderjährige“ gekommen, so dass er in ein Heim des Heidelberger Jugendamts aufgenommen werde. „Ich hoffe so sehr auf den neuen Transfer, damit ich endlich eine Schule besuchen kann.“

Manouar ist schon seit drei Monaten in Heidelberg und hat sich die deutsche Sprache aus einem Handbuch selbst beigebracht. Auf Deutsch und Französisch erzählt er uns seine Geschichte. Mit sechs Jahren durfte er ein Jahr lang eine Schule besuchen, aber sein Vater starb, und er musste seit seinem siebenten Lebensjahr arbeiten und zum Unterhalt der Familie beitragen. „Da gab es für mich keine Schule mehr.“ Er half bei der Apfel- und Tomatenernte und klopfte Steine auf dem Bau: „Ich habe alles gemacht. Aber mein Herz ist dabei gestorben“, sagt Manouar. Weder in Tunesien noch in Algerien fänden junge Menschen eine Zukunft.

„Ich habe so viel Schlimmes gesehen“, fährt Manouar fort. „Aber das Schlimmste war meine Überfahrt über das Mittelmeer.“ Dort habe er „zweimal den Tod gesehen“. In einem überfüllten Mini-Boot habe er miterlebt, wie die Menschen ertrunken seien. Das werde er nie mehr vergessen, sagt Manouar. Nach der Landung in Mazara, Sizilien, sei er nach Agrigent und Palermo gekommen, habe danach Italien über Rom und Mailand durchquert und sei nach Frankreich gegangen. In Paris und in Straßburg habe er „immer auf der Straße gelebt“.

Nach Deutschland gekommen, habe man ihn ins Patrick Henry Village gebracht. Er sei jedoch „sehr froh“, endlich wieder hier rauszukommen. „Dort drin ist das Essen nicht gesund. Es sind nur Kohlenhydrate, wer das isst, schläft sofort ein. Es ist ein Essen für Gefangene, es hat mich krank gemacht.“ Man habe dort „keinen Respekt für die Menschen. Es gibt nichts zu tun, nur Essen und Schlafen.“

Beim Warten auf den Shuttlebus in die Innenstadt sprechen wir mit einer Gruppe von mehreren jungen Syrern. Wie uns Djamal erklärt, ist es sein Traum, Küchen-Designer zu werden, doch in Damaskus konnte er seine Ausbildung nicht mehr fortsetzen: „Die ganze syrische Jugend ist auf der Flucht.“ Khaliq und Safiye sind ein Paar, sie haben auf der Flucht in der Türkei geheiratet. Khaliq hat Ökonomie studiert und Safiye Kommunikationswissenschaften. Ein weiterer Freund von ihnen, Iskandar, ist Koch und hofft, in Deutschland Arbeit zu finden.

„In Syrien herrscht seit 2011 Bürgerkrieg, und alles wurde zerstört. Auch unsere Zukunft“, sagt Khaliq. „Täglich gab es Angriffe. Wir konnten dort nicht mehr leben, weil wir alles verloren haben.“ Die jungen Leute setzen ihre ganze Hoffnung auf Deutschland: „Wir möchten nur in Frieden leben“, sagt Safiye. Sie sind erst zwei Tage in Heidelberg, und sie berichten, dass sie bisher fast die ganze Zeit geschlafen haben: „Wir waren so müde von der Reise und sind nur froh, dass wir es geschafft haben.“

Über vier Wochen hat ihre 6000 Kilometer weite Reise gedauert. „In der letzten Woche konnte man praktisch gar nicht mehr schlafen“, berichtet Khaliq. „Wir haben fast alles zu Fuß zurückgelegt, ein paar Strecken per Bus und zuletzt ein Stück mit dem Zug.“ Das Schlimmste von allem war die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland: „Wir waren mit vierzig Personen in einem neun Meter großen Schiff – das war entsetzlich. Wir hatten Angst, alle zu ertrinken.“

Nach den Bedingungen in Patrick Henry Village gefragt, äußert sich ein junger Mann aus Bangladesch sehr unzufrieden: Hier sei es sehr eng, das Wachpersonal sei oft unfreundlich und das Essen schlecht. Er werde versuchen, sich eine andereWohnstatt zu suchen, wo er sich wohler fühle.

Samir, ein junger Mann aus Afghanistan, berichtet, er sei nach einem 48-tägigen Fußmarsch vor ungefähr zwei Wochen in einer Kaserne in Mannheim aufgenommen und jetzt frisch nach Heidelberg verlegt worden, wo er auf die Registrierung warte. Samir ist der Meinung, er sei schon bei seiner Ankunft in Deutschland registriert worden, undeigentlich weiß er nicht, weshalb und für wie lange er nach Heidelberg verlegt wurde.

Ganz sicher werde er als Asylant anerkannt, sagt Samir. Er berichtet: „Ich komme aus dem Kriegsgebiet. Mein Dorf wurde von zwei Seiten beschossen, von der einen Seite durch die Taliban und von der andern durch ISAF- und Regierungssoldaten. Es wurde zu gefährlich zum Leben, deshalb habe ich mich auf den Weg nach Deutschland gemacht.“ Samir hofft, hier bald Deutsch lernen zu können, sich Arbeit zu suchen und eine Existenz aufzubauen.

Samir weiß nichts von den Plänen der Bundesregierung und der Nato, neue Luftschläge gegen die Taliban in Afghanistan zu führen und Flüchtlinge in das Land zurückzuschicken. Vor wenigen Tagen hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärt, Deutschland habe hohe Summen an Entwicklungshilfe an Afghanistan gezahlt, und deshalb könne man erwarten, „dass die Afghanen in ihrem Land bleiben“.

Samir berichtet dann von seiner Odyssee über den Balkan: „Es war fürchterlich.“ Im Iran sei der Flüchtlingstross mit Gewehren beschossen worden, und in Bulgarien habe die Grenzpolizei Hunde auf die Flüchtlinge gehetzt. „Ich habe gesehen, wie die Hunde einem andern Flüchtling ein Stück Fleisch aus dem Arm rissen, und auch ich selbst wurde zweimal von den Hunden am Arm gepackt.“ Die einzige Stadt, in der sie auf der Flucht Unterkunft und etwas zu essen und zu trinken erhalten hätten, sei Belgrad gewesen. „Nun sind all meine Kleider und Schuhe ruiniert. Auch hier habe ich bisher keine Kleidung bekommen: Was ich am Leib trage, hat mir ein Freund ausgeliehen.“

Eine junge Frau, die in Damaskus Deutsch studiert hat, erklärt: „Hier ist es gar nicht so schlecht; zuvor an der deutschen Grenze war es viel schlimmer: Man ließ uns von abends elf Uhr bis am frühen Morgen in der Kälte stehen und auf den Bus warten. Hier konnte ich jetzt etwas ausruhen.“

Drei junge Kurden aus dem nordsyrischen Gebiet um Aleppo berichten uns von ihrer Flucht. „Wir haben die Türkei durchquert und sind über das Meer nach Griechenland gekommen, danach haben wir Mazedonien und Serbien zu Fuß durchquert. Aber das Schlimmste kam in Ungarn: Auf dem Bahnhof von Budapest mussten wir fünf Tage lang warten. Wir sind so froh, dass wir das hinter uns haben!“

Der 22-jährige Mansur möchte als Lehrer arbeiten. „Ich hätte nur noch ein Jahr gehabt, um die Schule abzuschließen. Dann kam Daesch [arabische Bezeichnung für den Islamischen Staat], und kurz darauf die Kampfjets der Amerikaner und auch der Russen. Unsere Schule wurde komplett zerstört.“ Jetzt sei er mit seinem 17-jährigen Bruder hier, berichtet Mansur. Sein zweiter Bruder und sein Vater seien zurückgeblieben.

„Zuerst wurden wir nach Zirndorf bei Nürnberg gebracht, von dort kamen wir nach Sasbachwalden bei Achern, und jetzt sind wir seit zwanzig Tagen hier in Heidelberg. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“

Die jungen Männer berichten, dass es im Patrick Henry Village nur zweimal am Tag etwas zu essen gebe: „Morgens bekommen wir Frühstück, dann Mittags ein Essen, aber danach ist Schluss bis zum nächsten Morgen“, berichtet Mansur. „Für mich ist es nicht so schlimm, aber für meinen jüngeren Bruder ist es schrecklich. Er fragt ständig: Wann kommen wir hier raus? Wann ziehen wir in ein richtiges Haus? Wann dürfen wir endlich die Schule besuchen oder arbeiten?“ Aber in den fast drei Wochen, die sie nun im Patrick Henry Village seien, hätten sie keinen Termin für ein Asylgespräch oder einen Gesundheitscheck erhalten. „Mein kleiner Bruder kann das Warten und die Untätigkeit kaum noch aushalten.“

Wenn die Flüchtlinge in Heidelberg den Shuttlebus verlassen und zur Bahnhofstraße gehen, fällt ihr Blick auf eine große Werbewand der Bundeswehr. „Krisenherde löschst du nicht mit Abwarten und Teetrinken. Mach was wirklich zählt.de. Bundeswehr.“

Das Plakat gehört zu einer neuen, über zehn Millionen Euro teuren Werbekampagne der Bundeswehr, um junge Menschen für die geplanten Einsätze in Osteuropa, dem Nahen Osten oder in Afrika zu werben.

„Wir sehen jetzt klar“, sagt Safiye aus Damaskus: „Es sind die Regierungen, die Krieg führen. Die einfachen Menschen wollen keinen Krieg. Die Menschen in Deutschland haben uns sehr freundlich aufgenommen.“

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