Im Konflikt bei der DaimlerChrysler-Tochter Mercedes haben IG Metall und Betriebsrat uneingeschränkt vor den Forderungen des Unternehmensvorstands kapituliert. Nachdem sie in den vergangenen Wochen noch zu Protestaktionen aufgerufen hatten, an denen sich Zehntausende beteiligten, stimmten sie am vergangenen Freitag der Forderung des Vorstands in vollem Umfang zu, in den deutschen Werken eine halbe Milliarde Euro pro Jahr an Personalkosten einzusparen.
Für die Beschäftigten bedeutet dies empfindliche Lohneinbußen und zum Teil wesentlich härtere Arbeitsbedingungen. Als Gegenleistung, verkündeten Gewerkschaft und Betriebsrat, habe sich der Konzern auf eine Beschäftigungsgarantie bis zum Jahr 2012 verpflichtet. Dies, so der IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters, sei "ein Erfolg, den man nicht hoch genug bewerten kann".
Doch bei näherem Hinsehen erweist sich dieser "Erfolg" als weitgehend illusorisch. Die Behauptung der Gewerkschaft, alle 160.000 Arbeitsplätze des Konzerns in Deutschland seien gesichert, dient vor allem dazu, angesichts der schamlosen Kapitulation das Gesicht zu wahren.
Auf der Web-Site des Konzerns ist lediglich von "Beschäftigungssicherung von über 6.000 Arbeitsplätzen" die Rede. Das ergibt sich unmittelbar aus der Entscheidung, das neue Modell der C-Klasse im Werk Sindelfingen bei Stuttgart zu bauen, nachdem der Betriebsrat der Erpressung des Vorstands nachgegeben hat. Dieser hatte gedroht, die Produktion nach Bremen und Südafrika zu verlagern, was den Verlust von 6.000 Arbeitsplätzen in Sindelfingen nach sich gezogen hätte.
Die IG Metall behauptet zwar, der Vorstand habe sich verpflichtet, acht Jahre lang in ganz Deutschland auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten (der entsprechende Vertragstext wurde bisher nicht veröffentlicht). Doch selbst wenn dies zutreffen sollte, würde dies den Konzern nicht daran hindern, die Belegschaft abzubauen, indem er Beschäftigte, die aus Altersgründen oder aufgrund befristeter Arbeitsverträge ausscheiden, nicht ersetzt. Die mit dem Betriebsrat getroffene Vereinbarung verschafft ihm außerdem die Möglichkeit, neue Beschäftigte zu wesentlich niedrigeren Löhnen einzustellen sowie Auszubildende nach Abschluss der Lehre je nach Bedarf an unterschiedlichen Standorten einzusetzen - was ebenfalls Personal spart.
Mercedes-Chef Jürgen Hubbert hat zudem bereits angekündigt, dass neu verhandelt werden müsse, falls sich das wirtschaftliche Umfeld stark verändere. "Was sie (die Arbeitsplatzgarantie) wirklich wert ist, weiß keiner," folgerte daraus die Frankfurter Rundschau.
Ein Wendepunkt
Die bei DaimlerChrysler getroffene Vereinbarung kennzeichnet einen Wendepunkt in den bundesdeutschen Klassenbeziehungen. Nachdem die IG Metall vor einigen Wochen bereits mit dem Siemens-Konzern vereinbart hatte, in den Handy-Werken in Bocholt und Kamp-Lintfort die 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich einzuführen, ist DaimlerChrysler nun das zweite Flaggschiff der deutschen Industrie, in dem sie sich zu weitgehenden Zugeständnissen bereit erklärt.
Bisher waren entsprechende Vereinbarungen meist auf kleinere Betriebe beschränkt gewesen, die am Rand der Pleite standen und, weil sie den Arbeitgeberverband verlassen hatten, nicht an den Flächentarifvertrag gebunden waren. DaimlerChrysler arbeitet dagegen hoch profitabel. Allein die Mercedes-Tochter erzielte im vergangenen Jahr einen Gewinn von 3,1 Milliarden Euro. Die Gehälter der Vorstandsmitglieder haben sich in den letzten fünf Jahren fast verdreifacht, auf durchschnittlich 3,7 Millionen Euro im Jahr. (Dass sich die Vorstandsmitglieder nun ebenfalls auf eine zehnprozentige Kürzung ihrer Bezüge eingelassen haben, ist ein schlechter Witz, stiegen diese doch im vergangenen Jahr noch um 130 Prozent!).
Es ist offensichtlich, dass die IG Metall mit ihrer Kapitulation bei DaimlerChrysler einen Präzedenzfall geschaffen hat, der Schule machen wird. Wenn sie in einem hochprofitablen Betrieb mit hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad und - wie die letzten Tage gezeigt haben - einer kampfbereiten Belegschaft derart einknickt, öffnet sie damit alle Schleusen: jeder Lohn, jeder Arbeitsplatz, jede soziale Errungenschaft in den Betrieben wird in Frage gestellt.
Andere Konzerne werden unweigerlich auf die Wettbewerbsvorteile hinweisen, die DaimlerChrysler durch die Vereinbarung erlangt hat, und ähnliche Zugeständnisse einfordern - und das nicht nur in Deutschland.
In den Chefetagen der französischen Industrie wird die Entwicklung in Deutschland mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt, wie der Frankreich-Korrespondent der Frankfurter Rundschau zu melden weiß: "Was da drüben, auf dem anderen Rheinufer, passiert, fasziniert die Bosse und die Verfechter einer abgespeckten' Marktwirtschaft.... Zuerst der Siemens-Coup, jetzt DaimlerChrysler: Kostenentlastungsprogramme sofort, Jobgarantien in der Zukunft, Mehrarbeit ohne Lohnausgleich - paradiesische Perspektiven, die man sich auch im eigenen Land wünscht."
Auch den Kollegen in Südafrika, wo die Löhne mit 850 Euro im Monat bedeutend niedriger sind, fällt der Deal in Deutschland in den Rücken. Dort befindet sich die Gewerkschaft NUMSA in einem Konflikt über Löhne und soziale Rechte in der Automobilindustrie (u. a. Urlaub, Lohnfortzahlung bei Krankheit, die Bereitstellung von AIDS-Medikamenten). Es wird gestreikt, auch bei DaimlerChrysler. Doch anstatt einen gemeinsamen Kampf zu führen, wurde den südafrikanischen Arbeitern mit dem Abschluss in Deutschland vorgeführt, dass Gegenwehr zwecklos ist.
Die deutsche Politik und Wirtschaft haben den Signalcharakter der Vereinbarung ebenfalls erkannt. DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp sagte: "Die erreichte Einigung hat Modellcharakter für den Standort Deutschland." Ähnlich äußerte sich Bundesarbeits- und -wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD). Er sah "einen guten Tag für den Standort Deutschland". Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) war mit dem Ergebnis höchst zufrieden und nannte die Vereinbarung einen "Sieg der Vernunft". Der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber sprach von einem "Zukunftssignal für Deutschland".
IG Metall und Betriebsrat haben mit ihrer Kapitulation eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, deren Ende nicht abzusehen ist. Während SPD und Grüne mit der Agenda 2010 die Verantwortung für die Demontage des Sozialstaats übernommen haben, sorgen die sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionäre in den Betrieben dafür, dass vergangene Errungenschaften zerstört werden.
Union und FDP bleibt unter diesen Umständen nur noch die Aufgabe, Beifall zu klatschen und eins draufzusatteln. Kaum war der Daimler-Deal bekannt, trat der Fraktionsvorsitzende der Union Friedrich Merz auch schon mit der Forderung nach der völligen Abschaffung des Kündigungsschutzes an die Öffentlichkeit. Auch die Mittelstandsvereinigungen und die FDP verlangten weitere Einschnitte.
Flächentarifvertrag
Ein Argument, mit dem die IG Metall ihre Kapitulation verteidigt, lautet, durch die Vereinbarung sei ein Eingriff in den Flächentarifvertrag verhindert worden. Das erinnert an das berüchtigte Argument jenes amerikanischen Generals, der während des Vietnamkriegs erklärt hatte, manchmal müsse man ein Dorf zerstören, um es zu befreien.
Die ursprüngliche Aufgabe von Flächentarifverträgen bestand darin, eine Standortkonkurrenz auf Kosten der Beschäftigten zu unterbinden. Indem sie einheitliche Löhne und Arbeitbedingungen für eine gesamte Branche vorschrieben, verhinderten sie, dass die Beschäftigten einzelner Betriebe - erst recht kleinerer - von ihrer Geschäftsführung unter Druck gesetzt wurden. Das lag auch im Interesse der Unternehmen, da Arbeitskämpfe in einzelnen Betrieben so weitgehend unterbunden wurden.
Doch mittlerweile sind die Flächentarifverträge mit derart vielen Öffnungsklauseln und Ausnahmeregelungen versehen worden, dass sie die gegenteilige Aufgabe erfüllen. Sie sorgen für unterschiedliche Löhne und Arbeitsbedingungen an verschiedenen Standorten und selbst in einzelnen Unternehmen. Ihre wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, sicherzustellen, dass die Gewerkschafts- und Betriebsratsfunktionäre an den Angriffen auf die Belegschaft beteiligt werden. Diese sichern so ihre Pfründe und halten gleichzeitig den Widerstand der Belegschaft in Schach.
Das zeigte sich in exemplarischer Weise bei DaimlerChrysler. Mercedes-Personalvorstand Günther Fleig konnte hervorheben: "Die Vereinbarung nutzt konsequent die Möglichkeiten des im Februar diesen Jahres geschlossenen Tarifvertrages."
Der im Februar dieses Jahres vereinbarte Vertrag für Baden-Württemberg, auf den sich Fleig beruft, trägt sowohl seine Unterschrift (für die Metall-Unternehmen) als auch die von DaimlerChrysler-Betriebsratschef Erich Klemm (für die IG Metall). Es heißt darin: "Ist es unter Abwägung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen erforderlich, durch abweichende Tarifregelung eine nachhaltige Verbesserung der Beschäftigungsentwicklung zu sichern, so werden die Tarifvertragsparteien nach gemeinsamer Prüfung mit den Betriebsparteien ergänzende Tarifregelungen vereinbaren oder es wird einvernehmlich befristet von tariflichen Mindeststandards abgewichen (z.B. Kürzung von Sonderzahlungen, Stundung von Ansprüchen, Erhöhung oder Absenkung der Arbeitszeit mit oder ohne vollen Lohnausgleich)."
Das Abweichen von "tariflichen Mindeststandards" ist also Bestandteil des Flächentarifvertrags. Entscheidend für die Betriebsräte und die Gewerkschaft ist aber die Passage: "...so werden die Tarifvertragsparteien nach gemeinsamer Prüfung mit den Betriebsparteien ergänzende Tarifregelungen vereinbaren...". Sie garantiert, dass ihre Dienste in Anspruch genommen werden.
Der schnelle Abschluss bei DaimlerChrysler war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Widerstand der Belegschaft der Kontrolle des Betriebsrats zu entgleiten drohte. Oppositionelle Gewerkschafter gewannen an Einfluss und organisierten gegen den Willen des Gesamtbetriebsrats und der IG Metall Protestaktionen, wie die Blockierung der Bundesstraße 10 am 15. Juli, als 2000 Arbeiter der Frühschicht aus dem Werk in Mettingen geschlossen nach Untertürkheim zogen.
Einer Radikalisierung des Protests ist der Abschluss nun zuvorgekommen. Die Stuttgarter Zeitung kommentierte: "Die Erleichterung ist förmlich zu spüren. Endlich haben sich die Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertreter bei DaimlerChrysler geeinigt. Das ist gut so, denn ein Scheitern der Verhandlungen hätte kaum kalkulierbare Folgen gehabt: weitere Massenproteste und noch höhere kaum zu erfüllende Erwartungen auf beiden Seiten des Verhandlungstischs."
Doch während sich Gewerkschaft, Konzern, Politik und Medien "erleichtert" zeigen, fühlen sich die Beschäftigten verraten und verkauft. "Ein abgekartetes Spiel" zwischen Betriebsrat und Konzernspitze vermuteten Arbeiter, berichtet die Stuttgarter Zeitung vom Samstag. In der gleichen Ausgabe schildert die Zeitung die Empörung der Beschäftigten während der Betriebsversammlung vom vergangenen Freitag in der Stuttgarter Schleyer-Halle. "In der Halle steigen Helmut Lense und Wolfgang Nieke, die Spitzen des Betriebsrats, aufs Podium. Nieke will reden, und er scheitert, weil er gegen das gellende Pfeifkonzert keine Chance hat."
Spaltung der Belegschaft
Mit der Vereinbarung bei DaimlerChrysler haben IG Metall und Betriebsrat nicht nur massiven Lohnsenkungen zugestimmt, sondern auch die Voraussetzungen für eine Spaltung und Entsolidarisierung der Belegschaft geschaffen - zwischen alten und neuen Beschäftigten, zwischen Produktion und Dienstleistungsbereich, zwischen Produktion und Entwicklung. Aufgrund der Presse-Erklärungen von DaimlerChrysler, IG Metall und Betriebsrat ergibt sich bisher folgendes Bild:
Tarife:Die größten Einsparungen werden bei den Löhnen erzielt. Im Rahmen des neuen Entgeltrahmentarifvertrags (ERA), der die Löhne von Arbeitern und Angestellten angleicht und gleichzeitig die Bewertung der Entlohnung neu regelt, werden die Entgelte von 2006 an um 2,79 Prozent gesenkt. Im ersten Jahr wird die Kürzung durch eine Einmalzahlung ausgeglichen. Neu eingestellte Arbeiter erhalten von sofort an einen niedrigeren Lohn.
Zuschläge:Die höheren Schichtzuschläge (20 Prozent ab 12 Uhr mittags) im Werk Sindelfingen bleiben nur für die jetzigen Beschäftigten bestehen. Für Neueingestellte gibt es diese Zuschläge nicht.
Arbeitszeitverlängerung: Die rund 20.000 Beschäftigten in Dienstleistungsbereichen (Kantine, Werkschutz, Druckerei, Reinigungsdienst) sollen nach den bedeutend niedrigeren Branchentarifen bezahlt werden und gleichzeitig länger arbeiten. Die Wochenarbeitszeit wird bis 2007 von 35 auf 39 Stunden ausgeweitet. Im Bereich Forschung und Entwicklung (ebenfalls 20.000 Beschäftigte) wird die 40-Stunden-Woche mit Lohnausgleich "auf freiwilliger Basis" eingeführt. Eine Forderung, deren Durchsetzung noch im Frühjahr am Protest der Belegschaft gescheitert war.
Auszubildende: Sie werden nach der Lehre drei Jahre lang in eine konzerneigene "Personalagentur" (besser: Leiharbeitsfirma) namens "DC Move" übernommen und werden bundesweit flexibel eingesetzt. Die Gründung dieser Agentur, die auch befristet Beschäftigte und Neueinsteiger von einem Standort zum anderen schicken kann, wurde seit Oktober 2003 von der Konzernspitze gefordert. Jetzt ist sie durchgesetzt.
Pausen:Die heftig umstrittene "Steinkühler-Pause" von fünf Minuten pro Stunde für die Arbeiter am Band bleibt zwar offiziell erhalten, sie wird aber zur Hälfte auf Weiterbildungszeiten angerechnet. Ein Weiterbildungstag pro Jahr wird abgezogen.