Illusionen in den Markt und die Realität der kapitalistischen Krise

Der seit einem Monat anhaltende Aufwärtstrend an der Börse hat zahlreiche optimistische Kommentare in den Medien und von Mitgliedern der Obama-Regierung ausgelöst. Tenor: die US-Wirtschaft ist auf dem Weg der Besserung. Eine ernsthafte Prüfung des Zustands des Finanzsystems und der Wirtschaft allgemein legen jedoch nahe, dass kein Anlass zum Feiern besteht.

Der Dow-Jones-Index hat 1.500 Punkte zugelegt, seit er am 9. März mit 6.547 Punkten den tiefsten Stand seit elf Jahren erreicht hatte. Am 9. April schloss die Börse bei 8.083 Punkten. Der jüngste Aufwärtstrend markiert keineswegs das Ende der Finanzkrise; es ist der dritte Aufwärtstrend seit dem Crash im September-Oktober 2008, der auf die Insolvenz von Lehman Brothers und die staatliche Rettungsaktion für die American International Group (AIG) folgte.

Ein vergleichbarer Aufschwung um 1.500 Punkte ereignete sich in der Woche, die am 4. November 2008 mit der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten endete. Im Anschluss daran verlor der Dow in den folgenden drei Wochen 2.000 Punkte. Im Dezember gab es einen erneuten 1.500-Punkte-Anstieg, ausgelöst durch Obamas Entscheidung, Timothy Geithner, den Wunschkandidaten der Wall Street, zum Finanzminister zu ernennen, ehe in den ersten beiden Monaten dieses Jahres die Fahrt um 2.500 Punkte nach unten ging.

Auch der letzte Kursanstieg lässt sich auf eine positive Reaktion der Wall Street auf eine Entscheidung Obamas zu ihren Gunsten zurückführen - die Bekanntgabe der ungeheuren Größenordnung der nächsten Runde der staatlichen Rettungsaktion für das Finanzsystem. Ein erneuter Kursverfall ist jedoch durchaus möglich, insbesondere bei einem weiteren Finanzschock, wie etwa dem Bankrott oder der staatlichen Übernahme einer weiteren Großbank wie der Citibank oder der Bank of America oder Druck auf den überbewerteten US-Dollar.

Dessen ungeachtet schlachtete Obama den Kursanstieg und die Prognose eines Rekordgewinns im ersten Quartal durch Wells Fargo aus, um am Freitag nach einem Treffen mit seinen wichtigsten Wirtschaftsberatern zu verkünden: "Sie können jetzt erste Anzeichen von Hoffnung in der Gesamtwirtschaft erkennen." Und, so fügte er hinzu, "wir sehen jetzt allererste Fortschritte. Wenn wir durchhalten, und uns von der einen oder anderen Schwierigkeit nicht kleinkriegen lassen, dann, davon bin ich überzeugt, werden wir unsere Wirtschaft wieder zum Laufen bringen."

Obamas erster Wirtschaftsberater Lawrence Summers eröffnete die letzte Runde, die Wirtschaft "stark zu reden", mit einer vielzitierten Rede vor dem Economic Club of Washington: "Seit Mitte letzten Herbstes war die Wirtschaft wie ein Ball, der vom Tisch herunterfällt. Ich glaube, es gibt Anlass zur Zuversicht, dass dies in den nächsten Monaten vorbei sein wird, dass wir nicht länger das Gefühl des freien Falls spüren werden."

Die Arbeitslosigkeit würde zwar das ganze Jahr über weiter steigen, so Summers weiter, doch die staatlichen Rettungsaktionen und das Konjunkturprogramm würden "übertriebene Ängste" überwinden.

Hier wird versucht, steigende Aktienkurse und gestiegene Bankgewinne mit wirtschaftlicher Erholung gleichzusetzen, obwohl Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut immer größere Teile der Bevölkerung heimsuchen. Die Klasseninteressen, die die Obama-Regierung vertritt, treten so noch deutlicher zutage.

Die tatsächliche Entwicklung der Wirtschaftskrise straft die rosigen Prognosen der Regierung Lügen:

- Der Auftragsrückgang ist so stark, dass US-Hersteller zu weniger als 68 Prozent ausgelastet sind. Seit Beginn der Aufzeichnungen ist das der niedrigste Stand.

- Im März konnten 35 Unternehmen ihre Zahlungen auf Schuldverschreibungen nicht leisten, laut der Rating-Agentur Moody's der höchste Monatswert seit der Großen Depression. Die Ausfallrate ist von 1.5 Prozent 2008 auf nun 7 Prozent angestiegen und wird, so Moody's, im vierten Quartal bei 14.6 Prozent liegen.

- Bloomberg News prognostizierte einen Rückgang der Unternehmensgewinne im ersten Quartal um 37 Prozent. Es ist der siebte vierteljährliche Rückgang in Folge und der höchste seit den 1930er Jahren.

- Dem Markt für Kreditausfallrisikoversicherungen ist zu entnehmen, dass seit einiger Zeit spekulative Geschäfte auf den Zusammenbruch Citibank und der Bank of America getätigt werden. Ähnlich verhielt es sich vor der Auflösung von Bear Stearns und Lehman Brothers im letzten Jahr.

- Der Welthandel bricht noch stärker ein als 1929-30, schenkt man einem Bericht Glauben, der diese Woche von den Wirtschaftswissenschaftlern Barry Eichengreen von der University of California und Kevin O’Rourke vom Ireland’s Trinity College veröffentlicht wird.

Die Vertiefung der Krise zeigt sich vor allem an den Auswirkungen auf Arbeitsplätze und den Lebensstandard der Arbeiterklasse:

Das Bureau of Labor Statistics berichtete, dass 24 Millionen Arbeiter, d.h. 15.6 Prozent der Gesamtzahl der Beschäftigten, entweder unterbeschäftigt sind oder nur Teilzeit arbeiten, obwohl sie eine Vollzeitstelle möchten. Diese Gruppe ist damit in weniger als einem Jahr um 10 Prozent gewachsen.

- Nach einer von Reuters am 7. April veröffentlichten Umfrage wollen 40 Prozent der US-Unternehmen in diesem Jahr die Löhne und Gehälter einfrieren oder kürzen.

- USA Today berichtet, die Unternehmen hätten in fünf Bereichen die freiwilligen Leistungen für die Mitarbeiter gekürzt, darunter die 401(k) Beiträge zur privaten Rentenversicherung ihrer Beschäftigten und Aufwendungsersatz für Fortbildungen.

- Der durchschnittliche 401 (k)-Konto verzeichnete 2008 einen Rückgang um 28 Prozent, meldet der Fidelity Investments Mutual Fund.

- Anträge auf Privatinsolvenz sind gegenüber dem Vorjahr um 38 Prozent gestiegen, sagt Mike Bickford, Vorsitzender der Automated Access to Court Electronic Records. Insgesamt meldeten im März 130.793 Personen Insolvenz an.

Diese Zahlen erlauben nur eine realistische Schlussfolgerung: Das kapitalistische System erlebt seinen schlimmsten Wirtschaftszusammenbruch seit den 1930er Jahren, und scheint viel eher am Beginn dieser Krise zu stehen als ihr Ende erreicht zu haben. Die Krise erschüttert nicht nur die politischen Illusionen in den Präsidenten Obama, sondern in das Profitsystem selbst.

Vergangene Woche sollten Amerikaner in einer Meinungsumfrage kundtun, ob sie ein kapitalistisches oder ein sozialistisches Wirtschafssystem bevorzugen. Beide Begriffe wurden nicht näher bestimmt. Etwa 20 Prozent sprachen sich für Sozialismus aus, 53 Prozent für Kapitalismus und 27 Prozent waren unschlüssig. In einem Land, in dem seit Generationen antisozialistische Propaganda allgegenwärtig ist, sind diese Zahlen erstaunlich.

Die gegenwärtige Krise bestätigt die Perspektive, auf die sich die World Socialist Web Site gründet. Millionen von jungen Leuten und Arbeitern suchen nach einer Alternative zum bestehenden sozioökonomischen System, dessen Scheitern offenkundig ist. Die zentrale politische Aufgabe ist der Aufbau einer politischen Bewegung der Arbeiterklasse, die diese Alternative verkörpern kann.

Die WSWS, die Socialist Equality Party und die International Students for Social Equality (ISSE) organisieren eine Reihe von Konferenzen in den Vereinigten Staaten mit dem Thema: "Die Weltwirtschaftskrise, das Scheitern des Kapitalismus und die sozialistische Antwort". Diese Konferenzen in Detroit, New York und Los Angeles werden sich mit den historischen Ursprüngen der gegenwärtigen Krise befassen und eine programmatische Antwort entwickeln, die den Bedürfnissen der Arbeiterklasse entspricht.

Wir rufen alle unsere Leser auf, an diesen Konferenzen teilzunehmen und sich der entscheidenden Aufgabe zu widmen, eine sozialistische Bewegung der amerikanischen und internationalen Arbeiterklasse aufzubauen.

Siehe auch:
Warum steigen die Aktienkurse an der Wall Street?
(7. April 2009)
OECD zeichnet düsteres Bild von der Weltwirtschaft
( 2. April 2009)
Europäische Mächte verwerfen amerikanisch-britische Vorschläge für Konjunkturprogramme
( 31. März 2009)
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