Am 25. August stellte der Paritätische Wohlfahrtsverband seine Studie zu den Auswirkungen von Hartz IV auf die Entwicklung der Kinderarmut in Deutschland vor. Das Ergebnis ist eine vernichtende Kritik der Sozialpolitik der rot-grünen Koalition. Mit Hartz IV wurde der größte soziale Umbau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingeleitet.
"Hartz IV heißt zu wenig für zu viele", lautet der Titel und das Fazit der Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV). Laut seinen Berechnungen hat die Einführung des Arbeitslosengelds II, das den Kernpunkt von Hartz IV bildet, die Zahl der von Armut betroffenen Kinder unter 15 Jahren auf 1,7 Millionen steigen lassen. Über 1,5 Millionen Kinder leben auf Sozialhilfeniveau. Auf weitere 200.000 schätzt der Verband die Dunkelziffer der Kinder, die zwar ein Anrecht auf Sozialleistungen hätten, diese jedoch nicht in Anspruch nehmen. Ende 2004 hatte die Zahl der Kinder in der Sozialhilfe laut offizieller Statistik noch 965.000 betragen.
Insgesamt leben bundesweit 14,2 Prozent und damit jedes siebte Kind in Armut. In Westdeutschland beträgt die Kinderarmutsquote 12,4 Prozent, in Ostdeutschland 23,7 Prozent. In vielen Städten Ostdeutschlands wird die 30-Prozent-Marke deutlich überschritten. In Berlin beträgt sie 29,9 Prozent, in Schwerin 34,3 Prozent, in Görlitz 35 Prozent.
Auch in Westdeutschland werden in einigen Städten erschreckend hohe Zahlen registriert. Bremerhaven befindet sich mit 38,4 Prozent an der Spitze, in Kiel beträgt die Kinderarmutsquote 29,6 Prozent, in Offenbach am Main 28,7 Prozent, in Gelsenkirchen 28,1 und in fast allen anderen Städten des Ruhrgebiets über 20 Prozent.
Der Geschäftsführer des DPWV, Ulrich Schneider, erklärte bei der Vorstellung des Berichts: "Es ist verheerend für ein Gemeinwesen, wenn ein Drittel der Kinder vom normalen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Für Kinder, die von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe leben müssen, ist vieles Tabu, was für andere selbstverständlich ist: Musikunterricht, Turnen im Sportverein, Zoobesuch oder Computerkurs." Auch an die Bezahlung von Nachhilfeunterricht sei nicht zu denken.
Zusammenfassend gelangt der Paritätische Wohlfahrtsverband zum Schluss, dass die Einkommensarmut von Kindern eine historisch neue Dimension und eine neue Qualität erreicht hat. "Neu ist nicht nur die Größenordnung des Problems. Neu ist auch die Tatsache, dass diese Rekordkinderarmut mit In-Kraft-Treten von Hartz IV quasi über Nacht entstand."
Dieses Hochschnellen der Kinderarmut ist eine Folge davon, dass sich die Anzahl der Menschen, die vom Sozialhilfesatz leben müssen, mit der Einführung von Hartz IV mehr als verdoppelt hat.
"Betrug die Zahl derer, die zu Jahresende 2004 außerhalb von Einrichtungen auf Sozialhilfeniveau leben mussten, noch rund drei Millionen, so ist sie binnen sieben Monaten auf 6,16 Millionen hochgeschnellt", heißt es in der Studie. "Bezieht man die anzunehmende Dunkelziffer, die Zahl derer also, die ihre Ansprüche aus unterschiedlichen Gründen nicht geltend machen, mit ein, sind es sogar 7,18 Millionen Menschen - 8,7 Prozent der Bevölkerung."
Mit der Einführung des Arbeitslosengelds II (345 Euro im Westen, 331 Euro im Osten) ist die frühere Arbeitslosenhilfe, die sich prozentual am letzten Nettoverdienst orientierte, auf Sozialhilfeniveau abgesenkt worden. Zusätzlich bezieht ein großer Teil der früheren Sozialhilfeempfänger, die als arbeitsfähig gelten, jetzt Arbeitslosengeld II. Die restlichen Sozialhilfeempfänger beziehen Sozialgeld in gleicher Höhe.
Mit dieser Umwandlung, bzw. Umbenennung wurden gleichzeitig die einmaligen Leistungen für Sozialgeld- und Arbeitslosengeld II-Bezieher gestrichen. Unter solche einmalige Leistungen fallen zum Beispiel die Erstattung der Ausgaben für die Einschulung von Kindern - die Anschaffung eines Schulranzens, einer Schultüte, von Turnbeutel, Turnbekleidung, Schreibheften und Schreibmaterial. Die Ausgaben dafür können sich schnell auf 180 Euro addieren. "Wie soll dies bei einem Kinder-Regelsatz von 207 Euro im Monat bestritten werden?" fragte Ulrich Schneider bei der Vorstellung des Berichts.
Schneider sagte, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II und Sozialgeld müssten mindestens um 19 Prozent erhöht werden, um nur annähernd den Bedarf zu decken. Damit spielte er auf die Tatsache an, dass die Sozialhilfe seit Jahren nicht mehr an die sich erhöhenden Lebenshaltungskosten angepasst worden ist und die Bundesregierung durch eine selektive Auswahl von Statistiken und Erhebungen das Niveau weiter herunter gedrückt hat.
Während im Vorfeld der Einführung von Hartz IV viel vom "Fördern und Fordern" der Arbeitslosen die Rede war, ist nur das Fordern übrig geblieben. Der Erhalt des Arbeitslosengeldes II ist an strenge Kriterien gebunden. Dazu zählt, dass jede Form von Billiglohnarbeit, insbesondere Ein-Euro-Jobs, angenommen werden muss, wenn sie angeboten wird. Ansonsten können die Leistungen gekürzt und bei mehrmaliger Ablehnung ganz gestrichen werden.
Als erste Bilanz konstatierte Ulrich Schneider: "Was acht Monate nach Inkrafttreten von Hartz IV als handfeste Realität für Millionen Arbeit Suchender und ihre Angehörigen bleibt, sind die Kürzungen der Leistungen auf Sozialhilfeniveau."
Die Studie räumt auch mit dem Mythos auf, Familien mit Kindern und geringem Einkommen würden durch einen neu eingeführten Kinderzuschlag davor verschont, auf das Niveau von Arbeitslosengeld-II-Empfängern abzusinken. Dieser Kinderzuschlag kann maximal 140 Euro pro Kind und Monat betragen und wird längstens 36 Monate bezahlt. Er muss bei der Familienkasse, die auch das Kindergeld auszahlt, gesondert beantragt werden.
Selbst wer diesen Kinderzuschlag erhält, steht oft schlechter da, als Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die für jedes Kind Anspruch auf 207 Euro monatlich haben. Die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband vorgelegten Zahlen zeigen nun, dass solche Anträge trotzdem fast durchgehend negativ beschieden wurden. Am Stichtag, dem 31. Juli 2005, war der Kinderzuschlag nur 31.852 Haushalten und Bedarfsgemeinschaften bewilligt worden, in denen 44.141 Kinder unter 18 Jahren leben. Den rund 30.000 bewilligten Fällen stehen über eine halbe Million statistisch erfasste Anträge zwischen Januar und Juli 2005 gegenüber. Im selben Zeitraum sind über 300.000 Ablehnungen statistisch erfasst, allein im Juli über 100.000.
Die Studie des DPWV bietet wertvolles und aktuelles Material (Stand Juli 2005) zu den Auswirkungen von Hartz IV auf Millionen betroffene Menschen. Die vollständige Studie und dazu gehöriges Tabellenmaterial können über www.paritaet.org herunter geladen werden.
Das rapide Ansteigen der Kinderarmut in Deutschland ist eine Bankrott-Erklärung der Reformpolitik der Schröder-Regierung und eine Anklage gegen ein Gesellschaftssystem, das einen großen Teil der Kinder in die Armut drängt und jeder Zukunftsperspektive beraubt.