Am Mittwoch wurde der Bürgermeister der Istanbuler Gemeinde Esenyurt, Professor Dr. Ahmet Özer von der Republikanischen Volkspartei (CHP), wegen „Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation PKK/KCK“ verhaftet.
Das Innenministerium kündigte die Ernennung des stellvertretenden Gouverneurs von Istanbul, Can Aksoy, zum provisorischen Bürgermeister der Gemeinde an.
Die Verhaftung eines gewählten Bürgermeisters und die Ernennung eines Sachverwalters als dessen Nachfolger sind ein klarer Angriff auf demokratische Grundrechte. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan versucht seit langem, die politische Opposition durch solche undemokratischen Manöver zu unterdrücken und einen Polizeistaat aufzubauen.
Seit 2015 greift die Regierung systematisch zu dieser reaktionären Praxis, um gewählte Bürgermeister abzusetzen, vor allem Mitglieder der kurdisch-nationalistischen Bewegung. Das Vorgehen bedeutet auch die faktische Abschaffung des verfassungsmäßigen Rechts, zu wählen und gewählt zu werden.
Laut der Erklärung der Oberstaatsanwaltschaft von Istanbul wurde die Kommunikation von Ahmet Özer überwacht, weil sein Name in „organisatorischen Dokumenten“ erwähnt wurde, „die bei Mitgliedern einer Terrororganisation beschlagnahmt wurden“. Angeblich stand Özer innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren „mehrfach in Kontakt mit PKK-Mitgliedern und hat 14-mal den stellvertretenden Vorsitzenden der Kongra-gel, Remzi Kartal, kontaktiert“.
Özer wird unter anderem beschuldigt, sich mit Şevket Tuci getroffen zu haben. Tuci ist seit 17 Jahren Özers Anwalt und war bei dessen Vernehmung durch Polizei und Staatsanwaltschaft in diesem Fall anwesend. Faik Kaplan, der die in der Anklage gegen Özer erwähnte Geldüberweisung getätigt hat, erklärte, seine Tochter habe in Özers Haus gewohnt, er selbst habe die Miete bezahlt und auch einen Mietvertrag gehabt.
Berichten zufolge stammt Özer aus der gleichen Volksgruppe wie Remzi Kartal, mit dem er sich zuletzt 2015 getroffen hatte. Damals fanden verschiedene offizielle Treffen mit Kartal in Europa im Rahmen des „Friedensprozesses“ statt. All das weist darauf hin, dass es sich um erfundene Anschuldigungen handelt und der Fall einen politischen Hintergrund hat.
Özer wurde am 31. März mit 49 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Esenyurt gewählt. Esenyurt, eine Industriestadt mit großer kurdischer Wählerschaft, ist mit rund einer Million Einwohnern der größte Distrikt der Türkei. Özer ist kurdischer Soziologe und Akademiker und wurde im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der CHP und der Volkspartei für Demokratie und Gleichheit (DEM) als Kandidat für die Kommunalwahlen nominiert. Im Einklang mit dieser Strategie nominierte die DEM in einigen Städten und Distrikten, vor allem in Istanbul, keine eigenen Kandidaten und forderte ihre Wähler auf, für die CHP zu stimmen.
In seiner ersten Stellungnahme, die der Presse vor seiner Verhaftung zugespielt wurde, erklärte Özer: „Ich bin Autor und habe etwa 40 Bücher geschrieben, u.a. über regionale Entwicklungen, einige davon Romane, einige über die kurdische Frage. Ich habe etwa 200 landesweit veröffentlichte Artikel und über 300 Abhandlungen geschrieben.“
Er betonte, dass es sich um einen politischen Fall handelt und fuhr fort: „Ich bin Wissenschaftler, der in jungen Jahren Professor wurde. Ich bin Akademiker, und seit mehr als zehn Jahren Mitglied der CHP. Ich war Kandidat bei den letzten Wahlen, habe als Berater für [den Bürgermeister der Stadt Istanbul] İmamoğlu gearbeitet. Ich war Mitglied der staatlichen Planungsorganisation... bis heute liegt nichts gegen mich vor. Sie versuchen, mich abzusetzen, indem sie irgendwelche Ereignisse von vor zehn oder fünfzehn Jahren hervorholen.“
Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel erklärte in seiner ersten Stellungnahme: „Dieser Umgang mit einem Wissenschaftler, Meinungsführer und Politiker, der seit Jahren leitende Positionen im öffentlichen Dienst und der akademischen Welt innehat, der noch vor sechs Monaten von den zuständigen Behörden für unbedenklich befunden wurde und der mit großer Zustimmung der Wähler in Esenyurt gewählt wurde, ist unfair und die Anschuldigungen sind haltlos.“
Özel erklärte weiter: „Diese Ereignisse sind nicht unabhängig von den Ereignissen der letzten Wochen. Wir haben das hässliche Spiel gesehen, die große Verschwörung. Wir werden uns weder daran beteiligen, noch davor kapitulieren.“
Der CHP-Vorsitzende rief für Donnerstag zu Massenprotesten in Esenyurt auf. Bei der Kundgebung, die von der DEM unterstützt wurde, erklärte er vor Tausenden von Teilnehmern: „Weder ein Anruf bei einem Verwandten zur Anteilnahme an einem Todesfall noch ein Telefonat vor zehn Jahren kann mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden. Erdoğan selbst hat offen angekündigt, dass Ahmet Özel verhaftet würde. Das war also geplant.“ Özel fügte hinzu, die Staatsanwaltschaft habe auf Anweisung von Erdoğan gehandelt.
Die DEM verurteilte die Aktion in den sozialen Medien: „Die Verhaftung des Bürgermeisters von Esenyurt, Ahmet Özer, und die Ernennung eines Sachverwalters für die Gemeinde ist ein offener Putsch gegen den Willen der Bevölkerung, eine widerrechtliche Aneignung ihres Willens. Die kommunale Demokratie und der Wille der Bevölkerung werden missachtet. Wir werden angesichts dieser Gesetzlosigkeit und dieses politischen Putsches nicht schweigen.“
Im Vorfeld von Özers Verhaftung aufgrund erfundener Anschuldigungen und der Ernennung eines Sachverwalters an seiner Stelle war es in der Türkei zu wichtigen Entwicklungen gekommen. Am Dienstag letzter Woche gab Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Erdoğans faschistischem Verbündeten innerhalb des „Volksbündnisses“, eine beispiellose Erklärung ab. Er forderte, die Isolation des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan solle aufgehoben werden, und er solle im Parlament sprechen, und zwar „laut verkünden, dass der Terrorismus vollständig überwunden und die Organisation [PKK] aufgelöst ist.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die DEM und die CHP begrüßten Bahçelis Erklärung, die von Erdoğan unterstützt wurde, als Beginn eines neuen „Friedensprozesses“ mit der PKK. Um zu signalisieren, dass die seit 44 Monaten andauernde, gegen ihn verhängte Isolation aufgehoben wurde, durfte sich Öcalan mit seinem Neffen Ömer Öcalan treffen, dem DEM-Abgeordneten für Şanlıurfa.
Doch nur einen Tag nach Bahçelis Rede, als Erdoğan zum BRICS-Gipfel in Russland war, gab es in Ankara einen Anschlag mit Bomben und Schusswaffen auf die Niederlassung des staatlichen Rüstungskonzerns Turkish Aerospace Industries Corporation (TAI). Sieben Menschen wurden getötet, darunter zwei der Angreifer. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag.
Daraufhin flog die türkische Luftwaffe tagelang Luftangriffe auf angebliche Ziele der PKK und der YPG in Syrien und dem Irak. Das Verteidigungsministerium erklärte am Donnerstag: „In der letzten Woche wurden 198 Terroristen neutralisiert.“ Laut der kurdischen Nachrichtenagentur Mezopotamya ajansı wurden in Syrien bei den Luftangriffen 17 Menschen getötet und 65 verwundet, die meisten davon Zivilisten. Es folgte eine Welle von Verhaftungen von Anhängern der kurdischen politischen Bewegung im Land. Berichten zufolge wurden 55 Menschen in 17 Provinzen verhaftet.
Diese Ereignisse entwickeln sich zu einer Zeit, in der Israel mit Unterstützung der USA den Völkermord in Gaza forciert hat und in den Libanon einmarschiert ist sowie einen Großangriff auf den Iran plant.
Die herrschende Elite der Türkei versucht, ihre Machtposition im Inland zu stärken, weil sie befürchtet, dass eine Ausweitung des Kriegs ihre Interessen in der Region beeinträchtigen könnte. Erdoğan drückte dies unmissverständlich aus, als er erklärte: „Während die Landkarten mit Blut neu gezeichnet werden, während der Krieg, den Israel von Gaza bis zum Libanon führt, sich unseren Grenzen nähert, versuchen wir, unsere innere Front zu stärken.“
Erdoğan genehmigte Özers Verhaftung und erklärte gegenüber CHP-Chef Özel, der sich dagegen aussprach: „Warum machen Sie sich gerade darüber Sorgen, während sich unsere Geografie in einen Feuerring verwandelt hat und Mitglieder der Terrororganisation in Esenyurt wüten?“
Einerseits befürwortet die Erdoğan-Regierung die Freilassung Öcalans und die Aussöhnung mit der kurdischen Bewegung in der Türkei, um die PKK zu zwingen, ihre Waffen niederzulegen. Andererseits verteidigt sie die Verhaftung eines gewählten Bürgermeisters des Parteienbündnisses aus CHP und DEM auf der Grundlage erfundener Anschuldigungen und setzt ihre Politik der militärischen Unterdrückung der PKK-YPG fort. Auf diese Weise versucht die herrschende Elite der Türkei vor dem Hintergrund des eskalierenden Kriegs im Nahen Osten ihre Interessen durch widersprüchliche Manöver zu schützen.
Die jüngsten Entwicklungen zeigen auch, wie hohl die Versprechen der eng mit dem Imperialismus verbundenen türkischen Elite sind, Demokratie und Frieden zu schaffen. Der Weg vorwärts liegt in der Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms. Die Arbeiterklasse ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die in der Lage ist, die Freilassung aller politischen Gefangenen zu erreichen, demokratische Rechte dauerhaft zu verteidigen und Völkermord und Krieg zu stoppen.
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