„Dieser Staat macht uns bettelarm“

SGP diskutiert in Eisenach über eine sozialistische Perspektive gegen Krieg und Sozialabbau

Am Infostand der SGP auf dem Marktplatz von Eisenach, 28.08.2024

Vor den Landtagswahlen, die am Sonntag in Thüringen und Sachsen stattfinden, griff ein Team der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) am Mittwoch in Eisenach ein und sprach mit Arbeitern, Jugendlichen und Rentnern über eine sozialistische Perspektive im Kampf gegen Krieg, soziale Verwüstung und das Erstarken der extremen Rechten. Mit Arbeiterinnen und Arbeitern des Opel-Werks in Eisenach diskutierte das SGP-Team über die Notwendigkeit, Aktionskomitees aufzubauen und gemeinsam mit den Stellantis-Kollegen in den USA einen Kampf zur Verteidigung aller Arbeitsplätze zu führen. Die World Socialist Web Site wird dazu einen gesonderten Bericht veröffentlichen.

Die Opposition gegen den Nato-Stellvertreterkrieg in der Ukraine gegen Russland und die Empörung über die reaktionäre Bilanz der Ramelow-Regierung (Linkspartei, SPD und Grüne) waren in Eisenach mit Händen zu greifen. Innerhalb weniger Stunden blieben dutzende Passanten stehen, um mit SGP-Mitgliedern zu diskutieren und ihre Lage zu schildern.

Gerade ältere Passanten, von denen viele den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit erlebt haben, fühlten sich von der Perspektive der SGP angesprochen, die Arbeiterklasse international gegen die kapitalistischen Kriegstreiber zu vereinen. Typische Reaktionen waren: „Ich bin in ein Kriegskind und weiß noch, wie es damals war. So weit darf es nie wieder kommen.“ Oder: „Ich habe Gänsehaut, das sehe ich ganz genauso. Ich wünsche Ihnen ganz viel Kraft.“

Irmgard im Gespräch mit dem stellvertretenden SGP-Vorsitzenden Dietmar Gaisenkersting

Irmgard, eine arme Rentnerin, spricht sich nachdrücklich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) aus, der den Krieg gegen die Ukraine unterstützt und zuletzt die Entsendung deutscher Soldaten in die Ukraine befürwortet hat. Vor der Wende arbeitete sie in der Uhrenfabrik Ruhla. In dem „Volkseigenen Betrieb“ arbeiteten zu Hochzeiten fast 10.000 Beschäftigte.

Nach der Wende wurde das Werk von der Treuhandanstalt zerschlagen und seine Teile privatisiert. Irmgard wurde wie viele andere auch gedrängt, bei einem der neuen Betriebe einen neuen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, „für 3,40 Mark die Stunde im Dreischichtbetrieb. Nach einem halben Jahr waren wir alle arbeitslos, dann ohne Abfindung, weil wir ja einen neuen Vertrag unterschrieben hatten.“ Sie habe dann 10 Jahre lang „aus dem Container gelebt“.

Deshalb weist sie die tendenziöse mediale Berichterstattung über Ostdeutschland scharf zurück. „Dieses ganze Gerede vom ‚guten Westen‘ und ‚bösen Osten‘ ist doch Blödsinn. Wir haben allen Grund zum Jammern. Dieser Staat macht uns bettelarm. So geht das nicht weiter.“ Irmgards Abneigung gilt auch der ehemaligen Linkspartei-Politikerin und heutigen BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf, „von der ich anfangs viel gehalten habe“. Doch als Oberbürgermeisterin von Eisenach „hat sie die soziale Infrastruktur zerstört“, sagt Irmgard. „Nun verlässt sie das sinkende Schiff.“

Vanessa, eine junge Mutter, sagt: „Ich bin aktuell in Elternzeit und ich muss sagen, das Elterngeld ist eigentlich erbärmlich. Dafür, dass man immer noch genau dieselben, zum Teil auch steigenden Kosten hat durch die Kindeserziehung, sind 65 Prozent davon einfach nicht wirklich lebensfähig. Ich habe in den letzten Monaten wirklich jeden Cent umdrehen müssen. Das nächste sind die Kindergärten und Schulplätze. Es kann nicht sein, dass ich hier in Thüringen 320 Euro im Monat für den Kindergartenplatz zahle – ohne das Essensgeld für das Kind. Das ist ganz schön heftig. Immer mehr Menschen wissen auch nicht, wie sie ihre Strom- und Heizrechnungen bezahlen sollen.“

Vanessa

Die deutschen Waffenlieferungen an das ukrainische Militär und die Aufrüstung der Bundeswehr lehnt Vanessa strikt ab: „Ich habe Angst, dass es bald auch hier knallt. Dass das Militär hier immer mehr umherfährt und am Himmel unterwegs ist, macht mir Sorgen. Das Geld gehört in unser Bildungssystem, in die Kindergärten. Es gehört in die Löhne der Leute, die in der Medizin und Pflege arbeiten. Es sollte deutlich mehr für die Familien getan werden. Es gibt in den Dörfern und den Städten einen Haufen Probleme, die einfach nicht angegangen werden.“

Eine Passantin sagte, nachdem sie erfuhr, dass die SGP eine sozialistische Partei ist, die für soziale Gleichheit kämpft: „Die soziale Ungerechtigkeit ist ein großes Problem. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer.“ Sie selbst habe früher einige Jahre Arbeitslosigkeit erlebt und wisse, wie schwierig es ist, einen vernünftig bezahlten Job zu finden. Sie sei völlig unentschlossen, wen sie in der Landtagswahl wählen soll.

Im Gespräch wurde deutlich, dass sie wie andere Passanten auch von der ausländerfeindlichen Hetze gegen Flüchtlinge beeinflusst ist, die von den Medien, allen Landtagsparteien und auch vom BSW verbreitet wird. Angeblich würden Migranten mehr Wohnraum und Geld erhalten. Mitglieder der SGP betonten, dass die soziale Misere ein Ergebnis der jahrzehntelangen Sparpolitik der bürgerlichen Parteien und der horrenden Kriegsausgaben ist. Der Versuch, ausländische Arbeiter und Flüchtlinge zum Sündenbock für die soziale Not zu machen, soll die Arbeiterklasse spalten und von der Kriegs- und Kürzungspolitik der herrschenden Klasse ablenken. Daraufhin reagierte die Passantin nachdenklich und nahm auch das WSWS-Flugblatt „Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist keine Alternative zu Ampel und AfD“ mit, um sich mit der Kritik der SGP am BSW auseinanderzusetzen.

Eine Rentnerin, die sich in der Gruppe „Omas gegen Rechts“ engagiert, stellte SGP-Mitgliedern besorgt die Frage, warum die AfD auch von Arbeitern Unterstützung erhalte, obwohl sie entgegengesetzte gesellschaftliche Interessen vertrete. Darauf erwiderte ein SGP-Mitglied, dass die Abwicklung der Sowjetunion und der DDR durch die Stalinisten sowie die darauffolgende jahrzehntelange Kriegs- und Kürzungspolitik, die insbesondere von SPD, Grünen und Linkspartei unter dem Banner „linker“ Politik vorangetrieben wurde, die soziale Verzweiflung und politische Verwirrung geschaffen haben, die nun von den rechtesten Kräften ausgeschlachtet werde. In den Landes- und Bundesregierungen zeige sich zudem, dass diese Parteien keinen Kampf gegen rechts führen, sondern das Programm der AfD im Gegenteil selbst in die Tat umsetzen.

Mehrere Gesprächspartner reagierten besonders interessiert, als SGP-Mitglieder erläuterten, dass die herrschende Klasse Deutschlands mit ihrer Beteiligung am Stellvertreterkrieg in der Ukraine handfeste wirtschaftliche und geostrategische Interessen verfolgt und daran arbeitet, das Land zu einem Außenposten der Europäischen Union und in einen abhängigen Rohstofflieferanten für die deutsche und europäische Industrie zu verwandeln und auch Russland selbst militärisch zu unterwerfen. Der Auffassung, dass die deutschen Eliten allein auf Geheiß der USA am Krieg teilnähmen, traten SGP-Mitglieder mit Nachdruck entgegen.

Ebenso groß war das Interesse an den historischen Grundlagen der SGP und ihrem trotzkistischen Erbe. „Trotzki! Den kenne ich“, sagte Maxim (Name von der Redaktion geändert), ein Kriegsflüchtling aus der Ukraine, der an den Büchertisch der SGP trat und auf das Buch „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert“ von David North wies.

Maxim äußerte seine volle Unterstützung für eine Vereinigung der ukrainischen und russischen Arbeiter im Kampf gegen den Krieg. Er nickte, als SGP-Vertreter erklärten, warum es notwendig ist, eine internationale Bewegung gegen Krieg aufzubauen, die sich auf den Kampf der Linken Opposition unter Trotzki gegen den Stalinismus stützt. Als SGP-Mitglieder ihn auf die Kampagne für die Freilassung des ukrainischen Sozialisten Bogdan Syrotjuk hinwiesen, der wegen seiner Kriegsopposition in der Ukraine verhaftet wurde, reagierte Maxim besonders stark.

Er stammt aus Donezk in der Ostukraine und sieht die Gefahr einer weiteren Kriegseskalation mit großer Sorge. In der Bevölkerung habe die Selenskjy-Regierung keine starke Unterstützung mehr. Er selbst habe 2014 zunächst positiv auf die Demonstrationen auf dem Maidan-Platz reagiert. Ein Jahr später sei jedoch klar geworden, dass es sich nicht – wie in den Medien dargestellt – um eine Revolution handelte, sondern um einen rechten Putsch.

Vor allem die unmittelbaren sozialen Folgen des Kriegs wie ständige Stromausfälle und hohe Preise würden die Menschen stark belasten. Er unterstütze weder Selenskjy noch das russische Putin-Regime. Sie dienen den Interessen der Oligarchen, betonte er und berichtete von der enormen sozialen Ungleichheit und der Korruption millionenschwerer Unternehmer in Donezk, die ihre Angestellten ausbeuten.

Der weiter eskalierende Ukrainekrieg bewegte fast alle, mit denen die WSWS in Eisenach sprach. Zu Ramelows Forderung, deutsche Soldaten in die Ukraine zu schicken, erklärte eine Rentnerin empört: „Ihr seid doch verrückt. Ich bin wütend darüber, was dieser Mensch sich einbildet. Ich verstehe es wirklich nicht, dass die Ukraine mit ihren Nazi-Symbolen durch die Gegend laufen kann – und wir liefern Waffen.“

Sie kritisierte außerdem die verheerende Lage geflüchteter Familien in Deutschland: „Sie dürfen nicht arbeiten, wenn sie in diesen Unterkünften eingesperrt sind. Ist das nicht ein Irrsinn? Sie kommen mehr oder weniger in Konzentrationslager. Was sollen die jungen Leute tun?“

Angesprochen auf die Frage, welche Probleme die Thüringer bewegen, sagte sie: „Die Automobilwerke werden geschlossen, die Zulieferer sind weg. Gucken Sie doch mal, die Infrastruktur bricht zusammen.“ Gerade die junge Generation sei davon hart getroffen.

Das bestätigen auch die Fakten. Die Arbeitslosenquote in Thüringen liegt aktuell bei rund 6 Prozent. Laut Angaben der Bundesagentur für Arbeit im Juni stieg die Zahl der Langzeitarbeitslosen im ersten Halbjahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um fast 15 Prozent. Auch die Unterbeschäftigung hat zugenommen. Tausende Arbeiter waren zudem von Kurzarbeit betroffen; im März waren es demnach 7400 Beschäftigte in 300 Betrieben.

Wie die Thüringer Allgemeine Ende Juli berichtete, sind junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren in Thüringen besonders stark von Armut betroffen. Mit 34,2 Prozent liege der Anteil um fast neun Prozent höher als der bundesweite Durchschnitt. Der neueste Lebenslagenbericht des Bildungsministeriums in Thüringen von 2024 zeige zudem, dass sich die psychische Gesundheit junger Menschen in den vergangenen Jahren „deutlich verschlechtert“ habe. Rund 45 Prozent geben an, „häufig unglücklich oder niedergeschlagen“ zu sein.

Eine der wichtigsten Quellen des Berichts ist die Thüringer Kinder- und Jugendbefragung von Orbit e.V. im Dezember 2021 und Januar 2022. Die Mehrheit der Befragten zwischen 12 und 27 Jahren nannte „soziale Gerechtigkeit“ als größte gesellschaftliche Herausforderung (57,6 Prozent). Darauf folgten Klimawandel (54,9 Prozent), Krieg/Terror (51,1 Prozent) Armut (50,9 Prozent), Umweltverschmutzung (45,8 Prozent) und Krankheiten (43,2 Prozent).

In Eisenach selbst ist die Lage vieler Familien prekär. Laut dem Eisenacher Lebenslagenbericht 2018 lebten rund 21,4 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in einer einkommensschwachen Familie mit mindestens einem arbeitslosen Elternteil. Die Sozialplanerin Christin Mäder sagte, „dass sich aufgrund der Erkenntnisse aus der Jugendbefragung für Eisenach vermehrt das Phänomen von ‚working poor‘ (Arbeitsarmut) nachweisen lässt“. Kinder und Jugendliche mit Eltern, die im Niedriglohnsektor arbeiten, müssten deutlich häufiger auf bestimmte Güter und Aktivitäten verzichten.

Verantwortlich für die soziale und politische Krise in Thüringen ist die Landesregierung unter Linkspartei-Ministerpräsident Bodo Ramelow, der seit 2014 eine rot-rot-grüne Koalition leitet. Katja Wolf, die jetzt von der Linkspartei zum BSW gewechselt ist, war von 2012 bis 2024 Oberbürgermeisterin in Eisenach.

Vor drei Wochen gab sie dem Sender Jung&Naiv ein Interview, in dem sie offen zugab, den Sozialabbau in Eisenach vorangetrieben zu haben, um die Stadt aus den Schulden zu bringen. „Es war ganz klassisch – nennt sich Haushaltssicherungskonzept – die Ansammlung der Grausamkeiten: von der Streichung des Essensgeldzuschusses bis zur Erhöhung der Parkgebühren, von der Erhöhung der Hundesteuer bis zur Erhöhung der Gewerbesteuer. Das waren alles Maßnahmen, die tatsächlich unschön waren, aber dazu geführt haben, dass die Stadt wieder handlungsfähig ist. Und wir haben freiwillig unsere Kreisfreiheit aufgegeben – das hat keine andere deutsche Stadt getan –, weil wir an dem Punkt waren: Können wir uns leider nicht leisten.“

Der Journalist Thilo Jung kommentierte: „Die Linke hat schön gespart überall.“ Darauf sagte Wolf lapidar und ohne mit der Wimper zu zucken: „Ja.“ Den Essensgeldzuschuss zu streichen, sei zwar „politisch nicht korrekt“ gewesen, „aber alternativlos“. Auf die Frage von Jung, ob sie als „linke“ Bürgermeisterin denn irgendetwas Linkes gemacht habe, erklärte sie: die Liste der Grausamkeiten „gerecht“ zu verteilen. Kommunen in der „Haushaltssicherung“ hätten eben nicht „die Chance, in Schönheit zu sterben“.

Wolf versuchte dann, die Armen gegen die Flüchtlinge aufzuhetzen. Angesprochen darauf, wie viele Tafeln es in Eisenach gebe, sagte sie, nur eine einzige – und die habe jetzt mehr Menschen zu versorgen als früher, weil auch „die Syrer und Ukrainer“ einen Anspruch darauf haben und „dafür sorgen, dass die Schlange länger geworden ist“.

Mit dieser abstoßenden Hetze bestätigt Wolf völlig ungeniert, dass die Linkspartei und das BSW arbeiterfeindliche Parteien sind, die – wie überall, wo sie auf kommunaler oder Landesebene (mit)regieren – im Interesse des Kapitals die schärfsten Kürzungen durchsetzen. Die Linkspartei hat damit nicht nur den Nährboden für die AfD geschaffen, sie und ihr Spaltprodukt, das BSW, übernehmen auch immer aggressiver die Flüchtlingshetze der Faschisten, um die Arbeiter zu spalten.

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Das führende SGP-Mitglied, Katja Rippert, gab auf dem Marktplatz in Eisenach ein Statement ab, in dem sie erklärte:

„Faschismus, Krieg und soziale Verwüstung können nur durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen ihre Ursache, den Kapitalismus, bekämpft werden. Kein Problem kann gelöst werden, ohne die Macht der Banken und Konzerne zu brechen und sie unter demokratische Kontrolle zu stellen.

Eine solche Bewegung muss international und unabhängig von allen bürgerlichen Parteien – einschließlich des BSW und der Linken – sowie den Gewerkschaften sein, die sich in Interessenvertreter der Konzerne verwandelt haben.

Für diese Perspektive treten die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterorganisationen im Internationalen Komitee der Vierten Internationale ein. Wir rufen alle Arbeitenden und Jugendlichen auf, die gegen Krieg und den Aufstieg der AfD kämpfen wollen: Schließt Euch den Sozialisten an, macht mit bei der SGP!“

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