Am Donnerstag traf sich der britische Außenminister David Cameron in Berlin mit seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock, um über eine massive Ausweitung der Militärhilfe an die Ukraine zu diskutieren.
Nur wenige Tage zuvor hatte der russische Staatssender RT einen Mitschnitt von Gesprächen zwischen hohen deutschen Generälen vom 19. Februar veröffentlicht, bei dem es um die Frage ging, wie Langstreckenmarschflugkörper des Typ „Taurus“ für Angriffe auf russische Ziele an die Ukraine geliefert werden können. Ein Vorschlag war, Deutschland könne die Marschflugkörper an Großbritannien liefern, das bereits „Leute vor Ort“ habe. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bereits früher erklärt, Großbritannien habe Truppen in der Ukraine stationiert.
Die Veröffentlichung des Leaks war eine Reaktion Russlands auf die öffentliche Ankündigung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die Nato-Mächte müssten im Kampf gegen Russland nicht nur weitere Lieferungen von Raketen erwägen, sondern auch Bodentruppen in die Ukraine schicken.
Scholz hat sich öffentlich gegen Macrons Forderung nach der Entsendung von Bodentruppen und zuvor gegen die Lieferung von Taurus-Raketen ausgesprochen. Er erklärte, bei der Ausrichtung der Marschflugkörper auf bestimmte Ziele sei die Beteiligung deutscher Soldaten erforderlich, was einen direkten Konflikt mit Russland bedeuten würde. Die Taurus-Raketen haben eine Reichweite von 500 Kilometern und könnten von der nordöstlichen Grenze der Ukraine sogar Moskau erreichen.
Macron erklärte daraufhin, eindeutig an Scholz gerichtet, er stehe voll hinter seiner Forderung nach Nato-Bodentruppen und fuhr fort: „Wir nähern uns einem Moment in Europa, in dem es angebracht ist, nicht feige zu sein.“
Die britischen Medien veröffentlichen eine Flutwelle von Artikeln, in denen sie Deutschland und Scholz verurteilen, weil er die Anwesenheit britischer Truppen in der Ukraine bestätigt hat und sich weigert, Taurus-Raketen zu schicken.
Der ehemalige Verteidigungsminister Ben Wallace erklärte gegenüber der Times, das geleakte Gespräch über Taurus zeige, dass Berlin „weder sicher noch zuverlässig“ sei, und dass Scholz, was die Sicherheit Europas betreffe, „der falsche Mann am falschen Platz zur falschen Zeit“ sei.
Im Leitartikel des Telegraph vom Dienstag hieß es: „Deutsche Unsicherheit in Verteidigungsfragen: Olaf Scholz muss der Ukraine die dringend benötigten Taurus-Langstreckenraketen geben.“ Der ehemalige Colonel der British Army, Richard Kemp, veröffentlichte eine Kolumne mit dem Titel: „Es war wahnhaft, zu glauben, dass sich Deutschland geändert hätte.“
Camerons Besuch in Deutschland und die Diskussion mit Baerbock, die er als Gleichgesinnte sieht, war darauf angelegt, die Beziehungen zu Berlin zu glätten und deutlich zu machen, dass Großbritannien Macrons Haltung zu den Taurus-Raketen unterstützt. Auf diese Weise soll Scholz zu einem Kurswechsel gezwungen werden, wie er es bereits bei einer seiner früheren „roten Linien“, der Entsendung von Leopard-Panzern in die Ukraine, getan hatte.
Damals hatte Scholz von Washington verlangt, erst amerikanische M1-Abrams-Kampfpanzer zu schicken, bevor Deutschland die Lieferung von Leopard-Panzern zusichern würde. Unter seiner Führung ist Deutschland nach den USA der zweitgrößte Lieferant von tödlichen Waffen im Wert von Milliarden Euro für den Nato-Krieg gegen Russland.
Zwar würde Cameron dies nicht offen aussprechen, doch hat er gegenüber Baerbock im Privaten zweifellos betont, dass er die volle Unterstützung der Biden-Regierung genießt. Als Scholz am Montag seine Haltung zu den Taurus bekräftigte, hatte Baerbock betont, die Koalitionspartner der Grünen – Scholz’ SPD und die FDP – sollten die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern und „alle[r] Materialien“, die das Selenskyj-Regime braucht, „intensiv prüfen“.
Nach vier Stunden Gesprächen über die Ukraine, den Gazastreifen und „illegale Zuwanderung“ traten Cameron und Baerbock gemeinsam vor die Presse. Cameron verweigerte eine Stellungnahme zu dem Angriff des ehemaligen Außenministers Wallace und erklärte, die Frage der Lieferung von Taurus-Raketen sei Deutschlands Entscheidung. Er lobte Deutschlands bisherige „enorme“ Leistungen als zweitgrößter Waffenlieferant.
Auf die Frage, ob Großbritannien Deutschland dazu dränge, der Ukraine Taurus-Raketen zu liefern, erklärte er, dies sei „eine Frage, über die die deutsche Regierung zu entscheiden“ habe. Allerdings wiederholte er daraufhin nahezu wortgetreu Macrons Argumente, warum die Nato – und vor allem ihre europäischen Mitgliedsstaaten – nicht mit der Entsendung von Truppen zögern sollten, auch wenn Russland mit einer Eskalation drohe.
Cameron erklärte:
Ich kann nur über Großbritanniens Erfahrung sprechen, wie wirkungsvoll diese Waffen der Ukraine dabei geholfen haben, sich gegen diese illegale Aggression zu wehren.
Es hieß immer: „Der Ukraine Panzerabwehrwaffen zu geben, ist eine Eskalation.“ Nein, das war es nicht.
„Der Ukraine Panzer zu schicken, ist eine Eskalation“. Nein, das war es nicht. „Der Ukraine Langstreckenartillerie oder Langstreckengeschosse zu schicken, ist eine Eskalation.“ Nein, das ist es nicht.
Er fügte hinzu: „Wenn man einem Land hilft, sich gegen eine illegale und völlig ungerechtfertigte Aggression zu wehren, sollte man sich durch nichts daran hindern lassen, diesem Land dabei zu helfen, sein Gebiet zurückzuerobern.“
Cameron erklärte, er habe „keinen Zweifel an der Kampfkraft [der ukrainischen Armee] und ihrer Fähigkeit, dieser entsetzlichen russischen Aggression zu widerstehen.“ Tatsächlich hat die ukrainische Armee massive Verluste erlitten und kann ohne Nato-Waffenlieferungen nicht operieren.
Dann betonte er: „Solange wir nicht in einer Lage sind, in der ein Nato-Soldat einen russischen Soldaten tötet, verursachen wir keine Eskalation. Wir ermöglichen es der Ukraine, sich zu verteidigen.“
Er erklärte: „Für uns lautet die Frage: Werden wir... das durchziehen? Werden wir ihnen geben, was sie brauchen? Werden wir sie mit allem unterstützen, was wir haben? Ich glaube, das ist nun der Test für die Politiker dieser Generation.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Schon zu Beginn der Pressekonferenz hatte sich Baerbock mit Camerons eskalierender Position solidarisiert und erklärt: „Wer das ignoriert, dass es ein Vernichtungskrieg ist, dass man jetzt alles mobilisieren muss, damit die Ukraine zum Frieden kommen kann, der handelt fahrlässig... konkret braucht es mehr Munition, mehr Luftverteidigung, mehr weitreichende Waffen, damit die Ukraine ihr Überleben sichern kann.“
Nach Scholz’ Äußerungen und den Leaks von RT weiß jeder, natürlich auch Cameron, dass Großbritannien bereits Truppen in der Ukraine stationiert hat. Auch die britische Regierung sah sich gezwungen, dies einzuräumen. Doch momentan konzentriert sich London darauf, Langstreckenraketen zu schicken, und macht nur knapp vor einer offenen Unterstützung von Macrons Forderung nach Truppen halt.
Die Financial Times veröffentlichte letzte Woche einen Leitartikel über „Europas schädliche Spaltungen in der Frage nach Militärhilfe für die Ukraine“, in dem es hieß: „Macrons tiefere Botschaft, dass Nato-Mitglieder bereits sein müssen, mehr zu tun, um der Ukraine gegen die wieder erstarkten russischen Truppen zu helfen, ist durchaus begründet. Allerdings sollte [die Nato] dies nicht durch die Entsendung von Truppen, sondern durch die Lieferung von mehr Waffen tun. Dass [Macron] sich öffentlich für Bodentruppen ausgesprochen hat, erwischte die Verbündeten auf dem falschen Fuß und hat die strategischen Spaltungen um militärische Unterstützung für Kiew offengelegt – gerade in dem Moment, wenn eine vereinte Front notwendig wäre.“
Gleichzeitig betonte die Zeitung: „Scholz sollte seinen Widerstand gegen die Lieferung von Taurus-Raketen aufgeben, die eine größere Reichweite haben als diejenigen aus Frankreich und Großbritannien und die die Ukraine lautstark fordert.“
Die FT erkennt die zunehmende Antikriegsstimmung, die sich in den weltweiten Demonstrationen gegen Israels Völkermord im Gazastreifen äußert, und warnte: „Das Problem ist, dass es verbreitet Bedenken gibt, dass selbst begrenzte Truppenverlegungen die Nato auf den Pfad einer direkten Konfrontation mit Moskau bringen würden. Führende westliche Politiker haben zwar die Notwendigkeit betont, Kiew zu helfen, und Wähler aufgefordert, die hohen Energiekosten zu tragen. Doch nicht nur Scholz wird befürchten, dass Diskussionen über die Entsendung von Soldaten dazu führen könnte, dass die Stimmung gegen den Krieg umschlägt.“
Tatsächlich ist die Angst vor dem Widerstand der Bevölkerung, wenn das volle Ausmaß der Kriegspläne bekannt wird, ein wichtiger Grund für Scholz’ politische Erwägungen. Laut einer aktuellen Umfrage lehnt eine Mehrheit von 61 Prozent der Bevölkerung in Deutschland die Lieferung von Taurus-Raketen ab. Eine noch größere Mehrheit von 80 Prozent ist gegen die Entsendung von Nato-Truppen.
Doch war es nicht Scholz, sondern Macron, der am deutlichsten gemacht, welchen Kurs die wichtigsten Nato-Mächte, einschließlich der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands trotz ihrer taktischen Differenzen einschlagen.
The Hill, eine einflussreiche, den Demokraten nahestehende News-Website aus Washington, veröffentlichte am 7. März einen Artikel des ehemaligen US-Militärgeheimdienstoffiziers Jonathan Sweet über die Kontroverse zwischen Macron und Scholz. Darin schrieb Sweet:
„Macron drückt die Knöpfe und bringt führende westliche Politiker in eine zunehmend ungemütliche Lage. Sie müssen gedrängt werden, um ein Gefühl der Dringlichkeit zu schaffen. Das kleine schmutzige Geheimnis, dass möglicherweise Bodentruppen notwendig sind, falls Russland Kiew bedroht, ist jetzt öffentlich. ... Mit halben Sachen wird man den Krieg nicht gewinnen. Der Westen braucht einen Plan und eine Botschaft für Russland: dass die Ukraine nicht scheitern wird und dass alle Optionen auf dem Tisch liegen.“
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