Als sich 2014 der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal jährte, brach die alte Debatte wieder auf, ob die Großmächte in den Krieg „geschlittert“ oder „geschlafwandelt“ seien, oder ob sie ihn gezielt vom Zaun gebrochen hätten. Beim Aufmarsch der Nato gegen Russland erübrigt sich diese Frage. Die europäischen Mächte schlittern nicht in den Krieg, sie stürzen sich hinein.
In den vergangenen Tagen warfen sich führende europäische Staatsmänner, Militärs und Meinungsmacher gegenseitig vor, im Krieg gegen Russland nicht weit genug zu gehen. Wie pubertierende Jungen bei einer Mutprobe beschimpften sie sich gegenseitig als Feiglinge, Weichlinge und nützliche Idioten Putins.
Der französische Präsident Emmanuel Macron forderte seine europäischen Verbündeten auf, „nicht feige zu sein,“ nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz seinem Vorschlag, westliche Truppen in die Ukraine zu schicken, öffentlich widersprochen hatte.
Ben Wallace, bis letzten Sommer britischer Verteidigungsminister, beschimpfte Scholz als „falschen Mann im falschen Job zur falschen Zeit“, weil er sich weigere, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern.
Nach der Veröffentlichung eines abgehörten Gesprächs deutscher Offiziere durch russische Medien schrieb der konservative britische Telegraph unter Berufung auf eine „diplomatische Quelle“, Russland habe „Deutschland als schwächstes Glied in der Allianz und Scholz als nützlichen Idioten identifiziert, um Deutschland aus der Gleichung zu nehmen“. Damit habe Russland nicht unrecht.
Scholz seinerseits brüstet sich damit, dass außer den USA kein anderes Land derart viel Geld und Waffen in den Ukrainekrieg gesteckt habe, wie Deutschland. Laut dem Ukraine Support Tracker des Kieler Wirtschaftsinstituts belaufen sich die deutschen Hilfszusagen in den ersten beiden Kriegsjahren auf 22 Mrd. Euro, davon allein 17,7 Milliarden für militärische Zwecke. Großbritannien liegt mit insgesamt 15,7 Mrd. an dritter Stelle und Frankreich mit 1,8 Milliarden auf Platz 14.
Auch die Lieferung von Taurus lehnt Scholz nur ab, weil er den Zeitpunkt für verfrüht hält, so wie er sich einst gegen die Lieferung von Leopard-Panzern sträubte, bevor die Amerikaner mitzogen. Er will Deutschland nicht vorzeitig exponieren. Eine spätere Lieferung hält er sich dagegen ausdrücklich offen.
Der Wettbewerb „Wer ist der waghalsigste Kriegstreiber“ wird auch innerhalb Deutschlands selbst ausgetragen. Die öffentlichen und privaten Medien werben rund um die Uhr für eine Eskalation des Kriegs gegen Russland.
Der Grünen-Abgeordnete Anton Hofreiter warf dem Kanzler der eigenen Regierungskoalition in den ZDF-Abendnachrichten wutentbrannt mangelnde Führungskraft und Schwäche gegenüber Putin vor, weil er die Lieferung von Taurus ablehne. Die Rüstungslobbyistin und selbsternannte Kriegsexpertin Agnes Strack-Zimmermann (FDP) stimmte im Bundestag sogar gegen die eigene Regierung für einen Antrag der Opposition, der die sofortige Lieferung von Taurus an die Ukraine fordert.
Die Risiken, die Macron, Scholz, Biden, Sunak und alle anderen Kriegstreiber eingehen, sind atemberaubend. Sie spielen Russisch Roulette mit der Atombombe.
In ihrer Propaganda gibt es einen offensichtlichen Widerspruch: Einerseits dämonisieren sie Putin als Verkörperung des Bösen, als Reinkarnation Hitlers, der die Eroberung ganz Europas plane und zu jedem Verbrechen fähig sei. Andererseits tun sie seine wiederholten Warnungen, Atomwaffen einzusetzen, falls sich Russland in seiner Existenz bedroht sieht, als nicht ernstzunehmenden Bluff ab. So wie sie vor Kriegsbeginn alle Warnungen in den Wind schlugen, Russland werde militärisch reagieren, falls die Nato ihre Expansion nach Osten fortsetze und die Ukraine weiter militärisch aufrüste, schlagen sie nun die Warnungen vor einer nuklearen Eskalation in den Wind.
Es gibt nur eine Erklärung für dieses Verhalten: Die US-Regierung, das Nato-Hauptquartier in Brüssel und die europäischen Regierungen planen selbst den Einsatz von Atombomben. Sie erwägen ernsthaft den Einsatz von Waffen, die sie lange als Mittel der Abschreckung verharmlost hatten.
2014 hatten sie in Kiew einem rechten, pro-westlichen Regime an die Macht verholfen und anschließend die ukrainische Armee systematisch reorganisiert und aufgerüstet. Damit provozierten sie gezielt den militärischen Angriff Russlands. Sie hofften, Russland wirtschaftlich und militärisch auszubluten und das riesige Land mit seinen gewaltigen Rohstoffen unter ihre Kontrolle zu bringen.
Nun, da die ukrainische Armee nach hunderttausenden Verlusten auf eine Niederlage zusteuert, planen sie eine weitere Eskalation des Kriegs. Der Einsatz von Nato-Bodentruppen, der zum Teil bereits stattfindet, die Lieferung von hochpräzisen Taurus-Marschflugkörpern, die Moskau erreichen können, die gewaltigen Nato-Manöver an der russischen Grenze sowie die Verwandlung der Ostsee und des Schwarzen Meers in Nato-Gewässer sollen Moskau zu einer militärischen Reaktion provozieren. Gelangen die Militärs und Geheimdienstler, die Einfluss auf Putin haben, zum Schluss, dass ein Krieg mit der Nato unvermeidlich ist, könnten sie folgern, dass Angriff die beste Verteidigung ist, und der Nato den Vorwand für eine gewaltige Eskalation liefern.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Das ist reiner Wahnsinn. Aber der Schlieffen-Plan, mit dem sich Deutschland vor 1914 auf einen Zwei-Fronten-Krieg gegen Frankreich und Russland vorbereitete, und erst recht Hitlers Welteroberungspläne waren ebenfalls Wahnsinn. Trotzdem wurden sie umgesetzt und von den Generälen und der herrschenden Klasse bis zum bitteren Ende unterstützt.
Die Außenpolitik der kapitalistischen Mächte wird, insbesondere in Zeiten des Krieges, nicht von der kantschen Logik der Vernunft, sondern von der Klassenlogik des Imperialismus bestimmt. Nach Jahrzehnten der wachsenden sozialen Ungleichheit und der Anhäufung riesiger Mengen spekulativen Kapitals hat die Krise des Weltkapitalismus wieder einen Punkt erreicht, an dem es auf kapitalistischer Grundlage nur einen Ausweg gibt: Die gewaltsame Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten und die brutale Unterdrückung der Arbeiterklasse.
Das ist der Grund für die Unterstützung des Kriegs gegen Russland und des Genozids an den Palästinensern durch alle Parteien, die den Kapitalismus verteidigen. Die Kriegspolitik wird nicht nur von den Vertretern der Konzerne und Banken, sondern auch von den Sprachrohren der wohlhabenden Mittelschichten unterstützt, die vom Börsen- und Immobilienboom der vergangenen Jahrzehnte profitiert haben. Die Gewerkschaften, die sich in korporatistische Apparate zur Disziplinierung der Arbeiter verwandelt haben, stehen ebenso dahinter, wie die Grünen, die SPD und die Linkspartei.
Vor allem die Grünen sind regelrecht kriegsbesoffen. Hatten sie in ihrer Gründerzeit noch Atomwaffendepots blockiert, rufen sie heute am lautesten nach der Atombombe.
In der Arbeiterklasse und breiten Schichten der Bevölkerung stößt die Kriegspolitik dagegen auf Zurückweisung. So lehnen einer ARD-Deutschlandtrend-Umfrage zufolge trotz permanenter Kriegspropaganda 61 Prozent der Befragten die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab. Lediglich 29 Prozent sind dafür. Nur unter den Anhängern von Grünen und FDP haben die Befürworter die Mehrheit.
Doch im Rahmen der bestehenden Parteien und Institutionen kann diese Opposition nicht zur Geltung kommen. Die Abwehr einer nuklearen Katastrophe erfordert den Aufbau einer mächtigen Antikriegsbewegung, die sich auf die internationale Arbeiterklasse stützt und den Kampf gegen Krieg und Militarismus mit Kampf gegen soziale Ungleichheit und seine Ursache, den Kapitalismus verbindet.
Dafür kämpfen die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre internationalen Schwesterorganisationen im Internationalen Komitee der Vierten Internationale.