Ein Jahr seit dem Erdbeben in der Türkei und Syrien – Teil 2

Zweiter Teil einer dreiteiligen Serie

Bürgerliche Parteien überbieten sich mit Versprechen

Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023, etwa drei Monate nach der Katastrophe, reisten Präsident Erdoğan und Vertreter seiner Regierung in die Erdbebenregion und lieferten sich mit dem bürgerlichen Oppositionsbündnis unter Führung der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) einen Wettstreit der Versprechungen. Diese Versprechen wurden jedoch von Erdoğan nach seinem Wahlsieg und den Oppositionsparteien an der Spitze mehrerer Kommunen schnell vergessen.

Luftaufnahme der Zerstörungen in Kahramanmaraş im Süden der Türkei vom 8. Februar 2023 [AP Photo/Ahmet Akpolat]

Die Regierung hatte angekündigt, dass 750.000 Lira (heute 22.660 Euro) in Form von Zuschüssen und 750.000 Lira in Form von Krediten an diejenigen vergeben werden sollten, die ihre zerstörten, stark oder mäßig beschädigten Häuser wieder aufbauen wollten. Allerdings war dies für Menschen, die schon in normalen Zeiten Schwierigkeiten hatten, neue Häuser zu bauen, nicht möglich. Es gibt zwar keine Angaben dazu, wie viele Menschen die Subvention in Anspruch genommen haben, allerdings kündigte Erdoğan ein ähnliches Darlehen für diejenigen an, die ihre Häuser in Istanbul erdbebensicher machen wollen. Dieses Darlehen soll kurz vor den Kommunalwahlen am 31. März 2024 vergeben werden.

In Istanbul in der Marmara-Region, wo Wissenschaftler bald mit einem schweren Erdbeben rechnen, gelten Hunderttausende von Gebäuden als instabil und Millionen Menschen sind gefährdet.

Unmittelbar nach dem Erdbeben vom Februar 2023 erklärte der damalige Innenminister Süleyman Soylu: „Die AFAD [die offizielle Hilfsorganisation] und unser Familienministerium werden Hilfsgelder für Möbel zur Verfügung stellen. Wir haben die Vorbereitungen abgeschlossen und werden in zwei bis drei Tagen bekannt geben, wie hoch die Möbel-Hilfsgelder für die Erdbebenopfer ausfallen werden.“ Antworten auf parlamentarische Anfragen der Oppositionsparteien deuten jedoch darauf hin, dass noch keine Zahlungen erfolgt sind.

Eine weitere Maßnahme, deren Umsetzung die Regierung bis Ende 2023 versprochen hatte, war das „Heiratsdarlehen“, das in den elf vom Erdbeben betroffenen Provinzen an neu vermählte Ehepaare unter 26 Jahren vergeben werden sollte. Laut den vorliegenden Informationen sollte das Darlehen in Höhe von 150.000 Lira (heute 4.530 Euro) eine tilgungsfreie Zeit von zwei Jahren haben und innerhalb von vier Jahren zurückgezahlt werden. Der Gesetzentwurf wurde zwar dem türkischen Parlament vorgelegt, aber noch nicht in die Praxis umgesetzt.

Das bekannteste Versprechen der Regierung betraf den Wohnungsbau. Am 15. März 2023 hatte Erdoğan erklärt: „Wir wollen nächstes Jahr 319.000 Häuser bauen, insgesamt 650.000, und sie den Eigentümern übergeben.“ Wenngleich noch eineinhalb Monate Zeit sind, hat der Bau der meisten dieser Häuser noch nicht einmal begonnen. Aus Propagandazwecken wurde vor den Wahlen im letzten Jahr noch schnell mit dem Bau von 46.000 Häusern begonnen. Sie sollen per Losziehung am Jahrestag des Erdbebens an die Besitzer übergeben werden.

Laut einem Bericht der Stadtplanungskammer (ŞPO) vom Oktober 2023 gab es in der Provinz Hatay insgesamt 887.909 Wohnhäuser. Die Zahl der „zerstörten oder schwer beschädigten“ Häuser betrug 258.974 oder 29 Prozent der Gesamtzahl. Die Zahl der „mäßig beschädigten“ Häuser belief sich auf 308.438 oder 35 Prozent der Gesamtzahl. Die Zahl der ausgeschriebenen Sozialwohnungen in der Stadt wurde mit nur 12.000 im Bezirk Antakya und 12.000 im Bezirk Defne angegeben.

Zerstörte Gebäude in der türkischen Provinz Hatay nach dem Erdbeben der Stärke 7,8 [Photo: Hilmi Hacaloğlu - Voice of America]

Im gleichen Bericht hieß es, dass in Hatay 166.035 Erdbebenopfer in 62.050 Containern leben. Dazu kommen die 5.380 Menschen, die in Zeltstädten leben, die Tausende von Menschen, die in Zelten und nicht registrierten Behelfscontainern außerhalb der Zeltstädte leben und die Erdbebenopfer, die vorübergehend aus der Erdbebenregion abgewandert sind. Die Zahl der ausgeschriebenen Sozialwohnungen liegt daher weit unter dem tatsächlichen Bedarf der betroffenen Bevölkerung.

Wer ist für die Zerstörung verantwortlich?

Nach Ansicht der Regierung und der Kommunen, einschließlich derjenigen unter Führung der Oppositionsparteien, wären die Verwüstungen durch die beiden beispiellosen Erdbeben, die sie als „Jahrhundertkatastrophe“ bezeichneten, nicht zu verhindern gewesen.

Tatsächlich haben Wissenschaftler schon lange schwere Erdbeben vorhergesagt. Obwohl in den Berichten der Regierung auf die Gefahr hingewiesen wurde, wurde nichts unternommen. Im Jahr 2020 veröffentlichte das Gouverneursamt von Kahramanmaraş und die Katastrophen- und Notfallmanagement-Behörde AFAD, die dem Innenministerium untersteht, einen Bericht, in dem ein Erdbebenszenario der Stärke 7,5 in der Stadt skizziert wurde. Dort hieß es: „Im Falle eines schweren Erdbebens wird damit gerechnet, dass ein Großteil der Stadt betroffen sein wird.“

Der Bericht fasste die dringend notwendigen Maßnahmen wie folgt zusammen:

Um den Verlust von Menschenleben und Eigentum bei einem möglichen Erdbeben so gering wie möglich zu halten, ist es unerlässlich, detaillierte Bodenuntersuchungen in Wohngebieten durchzuführen und Gebäude in gefährdeten Zonen zu evakuieren. Darüber hinaus müssen die Erdbebenaktivität und das Erdbebenrisiko bei der Auswahl der Standorte für die Errichtung und Entwicklung neuer Dörfer, Städte und Gemeinden berücksichtigt werden. Erdbebensichere Gebäude mit korrekt verstärktem Beton und statischen Berechnungen sollten auf festem Boden fern von aktiven Verwerfungen errichtet werden.

Im Jahr 2019 wurde eine Masterarbeit über Antakya, den zentralen Bezirk von Hatay, veröffentlicht und den Behörden zur Verfügung gestellt. Laut der Arbeit besteht „80 Prozent der Bausubstanz im Stadtgebiet aus gefährdeten Bauten. Obwohl diese Tatsachen in Berichten dargelegt wurden und bekannt ist, dass diese Stadt dringend umgestaltet werden muss, wurde bisher keine nennenswerte Arbeit in dieser Hinsicht unternommen.“

Der Vorsitzende der Kammer Geologischer Ingenieure, Hüseyin Alan, hatte im März 2021 mehrere staatliche Institutionen, darunter auch das Präsidium und die AFAD, schriftlich vor einem Erdbeben gewarnt und einen wissenschaftlichen Bericht geschickt. Alan schlug darin vor: „Die Stadt sollte entsprechend der Karte der aktiven Verwerfungslinien neu geplant werden. Bestehende Gebäude müssen geprüft und städtebauliche Umgestaltungsmaßnahmen durchgeführt werden. In Maraş muss ein Erdbebenplan erstellt werden.“

Auch diese wichtigen Warnungen wurden ignoriert.

Die türkische Regierung und das gesamte politische Establishment, deren Politik vom Profitstreben und der Anhäufung von Reichtum der herrschenden Klasse sowie von nationalen Erwägungen bestimmt wird, sind verantwortlich für die Verwüstungen nach dem Erdbeben. In Syrien sind die von den USA angeführten Nato-Mächte die Hauptverantwortlichen.

Zerstörungen in Jindires, Gouvernement Aleppo, Syrien [Photo by Alaa Ealyawi - Own work / CC BY-SA 4.0]

Allerdings wurde keine einzige Person oder Behörde zur Rechenschaft gezogen, weder international noch in der Türkei. Nur ein paar türkische Bauunternehmer wurden nach der Zerstörung verhaftet. Der Hauptgrund dafür war die Absicht der Erdoğan-Regierung, die Wut der Bevölkerung abzulenken.

Während des Erdbebens stürzten Gebäude ein, die von Ingenieuren der Architektenkammer und der Bauingenieurskammer entworfen worden waren, deren Projekte und Berechnungen von Experten der kommunalen Planungsbehörden geprüft und denen Baugenehmigungen erteilt und die gemäß Erdbebenrichtlinien „geprüft“ worden waren.

Keine Verantwortung für die Zerstörungen und die Zehntausenden von Toten tragen laut den bürgerlichen Politikern und Bürgermeistern diejenigen, die Flussufer, Feuchtgebiete, Landwirtschaftsflächen und laut Bodengutachten instabile Gebiete als Bauland freigaben; diejenigen, die Bebauungspläne änderten, um in diesen Gebieten Hochhäuser zu errichten; diejenigen, die die Gebäude nicht angemessen gemäß dem Entwurf prüften; diejenigen, die Bebauungs- und Bauamnestien erteilten; diejenigen, die illegale Stockwerke in Gebäuden errichteten; diejenigen, die die Zahl der tragenden Stützpfeiler verringerten; sowie diejenigen, die trotz der Warnungen von Wissenschaftlern keine Vorkehrungen trafen.

Lütfü Savaş, Bürgermeister der Großstadtregion Hatay, im Jahr 2023 [Photo: Tezcan Taşkıran (VOA)]

Da sich alle bürgerlichen Parteien, sowohl die Regierung als auch die Opposition, in diesen Fragen einig sind, haben sie kein Problem damit, erneut ehemalige Bürgermeister zu nominieren, deren Nachlässigkeit in der erdbebengefährdeten Region offensichtlich war, und die nicht die nötigen Vorkehrungen getroffen haben. Das prominenteste Beispiel für diese Missachtung der Bevölkerung ist die erneute Nominierung des aktuellen Bürgermeisters von Hatay, Lütfü Savaş, durch die größte Oppositionspartei CHP, obwohl dessen politische Verantwortung dafür, dass das Erdbeben in der Stadt zu einer massiven Katastrophe wurde, allgemein bekannt ist.

Wird fortgesetzt

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