Ein Jahr seit dem Erdbeben in der Türkei und Syrien – Teil 1

Erster Teil einer dreiteiligen Serie.

Die Tragödie in der Erdbebenregion dauert an

Vor etwas mehr als einem Jahr, am 6. Februar 2023, ereigneten sich bei der südtürkischen Stadt Kahramanmaraş nahe der syrischen Grenze im Abstand von neun Stunden zwei verheerende Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 auf der Richterskala, bei denen zehntausende Menschen getötet und Millionen obdachlos wurden. Hunderttausende Menschen hausen noch immer in Containern oder Zelten.

Die Gleichgültigkeit der herrschenden Klasse und des gesamten politischen Establishments gegenüber dem Leben und der Sicherheit der arbeitenden Massen zeigt sich darin, dass die Mehrheit der Erdbebenopfer noch immer vor den gleichen Problemen steht, dass niemand wirklich zur Verantwortung gezogen wurde, und dass die zentralen und lokalen Behörden keine ernsthaften Vorbereitungen gegen weitere Erdbebengefahren getroffen haben, vor allem auf diejenigen, die in der Marmararegion drohen.

Notfallteams suchen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes in Gaziantep nach Verschütteten, 6. Februar 2023 [AP Photo/Mustafa Karali]

Diese Gleichgültigkeit zeigte sich bereits unmittelbar nach dem Erdbeben in den völlig unzureichenden Rettungsmaßnahmen. Viele der Todesopfer saßen tagelang unter den Trümmern fest und hofften vergeblich auf Rettung. Diejenigen, die sich irgendwie befreien konnten, versuchten verzweifelt, auf Hilferufe aus den Trümmern zu reagieren.

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat es versäumt, in den ersten Stunden und Tagen nach dem Erdbeben schnell und organisiert auf die Erdbebenkatastrophe zu reagieren, obwohl die Such- und Rettungsmaßnahmen so rasch wie möglich hätten durchgeführt werden müssen. Dass die Regierung keine ernsthaften Vorbereitungen getroffen hatte, obwohl die Türkei ein erdbebengefährdetes Land ist, und dass sie nicht in der Lage war, Such- und Rettungsteams und Hilfsgüter aus anderen Landesteilen und dem Ausland vor Ort zu bringen, löste große Wut in der Bevölkerung aus.

Als Erdoğan die Region etwa einen Monat später besuchte, gab er zu, dass die Regierung in den ersten Tagen nach dem Erdbeben nahezu paralysiert war: „Leider konnten wir in Adıyaman in den ersten Tagen nicht so effektiv arbeiten, wie wir es gerne getan hätten.“

Die World Socialist Web Site hat umfassend über die Katastrophe berichtet und bereits in ihrer ersten Perspektive dazu erklärt, dass das Erdbeben, das ohne Rücksicht auf willkürliche nationale Grenzen die südliche Türkei und den Norden Syriens verwüstet hatte, auf katastrophale Weise den globalen Charakter aller großen sozialen Probleme und die Notwendigkeit einer internationalen sozialistischen Lösung unter Beweis gestellt hatte. Dazu hieß es: „Die privaten Profitinteressen der Bourgeoisie und die Aufteilung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten stehen jeder fortschrittlichen Antwort im Weg.“

In dem Jahr, das seither vergangen ist, wurde nichts unternommen, um künftige Katastrophen zu verhindern – weder in der Türkei und Syrien, noch in einer der anderen erdbebengefährdeten Regionen der Welt, in denen laut dem International Journal of Disaster Risk Science mindestens 1,5 Milliarden Menschen leben. Diese Tatsache verdeutlicht den Bankrott des kapitalistischen Systems und die dringende Notwendigkeit, den Sozialismus aufzubauen.

Zahl der Toten noch immer ungeklärt

Die Regierung von Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) konnte auch nach einem Jahr noch keine genauen Angaben zur Zahl der Toten machen.

Am 22. April 2023 hatte der damalige Innenminister Süleyman Soylu erklärt, dass 50.783 Menschen getötet und 107.204 verwundet wurden. Vier Tage vor dem ersten Jahrestag aktualisierte der heutige Innenminister Ali Yerlikaya diese Zahlen auf 53.537 Tote und 107.213 Verwundete; zudem seien 38.901 Gebäude eingestürzt.

Der Gouverneur von Şırnak, Osman Bilgin, hatte am 13. Februar 2023 in einer Rede, die in die sozialen Medien geleakt wurde, erklärt, die tatsächliche Zahl der Toten könnte um ein „Drei-, Vier- oder sogar Fünffaches“ über der damals offiziellen Zahl von 31.000 liegen. Die Tatsache, dass noch immer Menschen vermisst werden, und dass bei Ausgrabungen Leichen aus den Trümmern geborgen werden, stützt die Behauptungen, dass die tatsächliche Zahl der Toten viel höher liegt als die offizielle.

Laut offiziellen Zahlen waren in den vom Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei mehr als vierzehn Millionen Staatsbürger gemeldet. Das entspricht sechzehn Prozent der Bevölkerung und bedeutet, dass einer von sechs Staatsbürgern direkt von dem Erdbeben betroffen war.

Offiziell lebten in der Region 1,7 Millionen Syrer unter „vorläufigem Schutz“, d.h. fast die Hälfte aller in der Türkei lebenden Syrer befanden sich in der direkt vom Erdbeben betroffenen Region. Wie viele Flüchtlinge unter den offiziell gezählten Toten sind, ist nicht bekannt.

Einwohner holen nach dem verheerenden Erdbeben in Jinderis in der syrischen Provinz Aleppo Möbel und Haushaltsgeräte aus einem zerstörten Haus [AP Photo/Ghaith Alsayed]

In Syrien, das jahrelang von den imperialistischen Mächten unter der Führung der USA und ihrer Verbündeten, darunter der Türkei, verwüstet und mit Sanktionen und Embargos belegt worden ist, wurden durch das Erdbeben laut offiziellen Zahlen fast 10.000 Menschen getötet und Tausende verletzt. Die Zerstörungen in Syrien durch das Erdbeben wurden von der bürgerlichen und pseudolinken Presse weitgehend ignoriert. Aufgrund des von den USA durchgesetzten Embargos kam fast keine regelmäßige Hilfe zu den Überlebenden in der Erdbebenzone in Syrien.

Keine Verbesserung der Bedingungen

Ein Jahr später leiden die Überlebenden des Erdbebens auf beiden Seiten der Grenze noch immer unter wirtschaftlichen Problemen und schwierigen Lebensbedingungen.

In der Erdbebenzone leben hunderttausende Menschen noch immer in gesundheitsschädlichen Bedingungen, u.a. in Containern, Zelten und Hütten.

Die südosttürkische Stadt Adiyaman nach dem Erdbeben der Stärke 7,8. Die Räumung der Trümmer nach dem massiven Erdbeben hat begonnen. Überlebende wurden in Zelten untergebracht [Photo by Mohammad Hossein Velayati / CC BY 4.0]

Es fehlt an sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen wie Duschen und Toiletten, sodass in der Region Krätze und Läuse weit verbreitet sind.

Aufgrund der Schäden durch das Erdbeben ist der Zugang zu Krankenhäusern eingeschränkt, d.h., dass Operationen und Untersuchungen nicht durchgeführt werden und Menschen mit ernsthaften Krankheiten wie Krebs nicht behandelt werden können. Für solche Probleme wurden noch immer keine staatlichen Mittel bewilligt.

Die Menschen in Zeltstädten und Containern haben Probleme mit Ungeziefer wie Insekten und Schlangen, vor allem in den heißen Sommermonaten. Zu Beginn des Winters sind die Temperaturen in einigen der vom Erdbeben betroffenen Gebiete auf minus 10 Grad gesunken, was vor allem bei Kindern und Alten zu gesundheitlichen Problemen geführt hat. Überlebende müssen in den Zelten und Containern mit Öfen heizen, was lebensbedrohliche Risiken birgt. Die Medien berichten oft über Brände in den Behausungen der Erdbebenopfer.

Aufgrund fehlender Planung und Voraussicht wurden die bestehenden Zelt- und Containerstädte in ungeeigneten Gebieten ohne die notwendige Infrastruktur aufgebaut. Nach jedem Regen oder Sturm sind sie ruiniert und die Überlebenden müssen mit Überschwemmungen zurechtkommen. Etwa einen Monat nach dem Erdbeben wurden in Adıyaman mehrere Zelte und ein Container mit zwei Menschen weggespült, bei Überschwemmungen in Adıyaman und Şanlıurfa wurden offiziell 21 Menschen getötet.

Experten für öffentliche Gesundheit sehen halten das Fehlen angemessener Bestrebungen zum Schutz der physischen und psychologischen Gesundheit der Erdbebenopfer für ein zentrales Thema.

Da die Straßen noch immer nicht für den Verkehr nutzbar sind, ist auch das öffentliche Verkehrssystem nur unzureichend.

Hatay, wo sich auch die historische Stadt Antiochia befindet, gleicht heute noch immer einem Trümmerfeld. Die Regierung hat Baufirmen die Kontrolle über die Stadt überlassen, ohne irgendeinen Plan ausgearbeitet zu haben. In vielen Straßen gehen die Abrissarbeiten unkontrolliert weiter, während überall in der Stadt schwer beschädigte Gebäude zu sehen sind, die auf den Abriss warten.

Durch die unkontrollierten Abrissarbeiten und Grabungen entsteht eine schwere Staubbelastung, die akute Atemwegs- und Lungenprobleme verursacht, Asbest in den Trümmern stellt eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar. Die Behörden behaupten, in der Erdbebenzone sei kein Asbest in der Luft, doch Studien belegen das Gegenteil. Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge kann bereits eine Faser eines asbestverseuchten Lebensmittels, die in den menschlichen Körper gelangt, schwere Gesundheitsprobleme verursachen.

Wird fortgesetzt

Loading