Mehr als eine Woche nach der Erdbebenkatastrophe in der türkisch-syrischen Grenzregion um Kahramanmaraş ist die offizielle Zahl der Todesopfer am Dienstagabend auf über 40.000 angestiegen. Allein in der Türkei wurden 35.418 Todesopfer gezählt, in Syrien sind es bisher 4.614. An einigen wenigen Orten werden auch die Such- und Rettungsoperationen noch fortgesetzt. Wie viele Tausende noch unter den Trümmern liegen, weiß keiner.
Internationale Such- und Rettungsteams warnen, dass die Entscheidung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Baufahrzeuge einzusetzen, um direkt in die Trümmer vorzudringen, zu mehr Todesopfern, aber nicht zu weiteren Rettungen führen wird. Ein Mitglied des spanischen Teams erklärte beim Weggehen gegenüber RTVE: „Wir machen da nicht mit.“
Laut Al-Jazeera sind die Leichen von 1.302 syrischen Flüchtlingen, die auf der türkischen Seite der Grenze durch das Erdbeben getötet wurden, nach Syrien zurückgebracht worden. Das Land ist schon durch den Nato-Krieg für einen Regimewechsel und die imperialistischen Sanktionen schwer beschädigt. Nun steigt die Gefahr, dass Krankheiten wie die Cholera ausbrechen. Die UNICEF-Sprecherin in der syrischen Hauptstadt Damaskus, Eva Hinds, sagte Al-Jazeera: „Schon vor dem Erdbeben braute sich ein perfekter Sturm zusammen: Die Ernährungsunsicherheit wurde immer größer, die Gesundheitssysteme brachen zusammen, und es fehlte an sauberem Wasser und vernünftigen sanitären Einrichtungen.“
In der Türkei hat die Erdoğan-Regierung inzwischen Ermittlungsverfahren gegen mehrere Bauunternehmer eingeleitet, deren Gebäude beim Erdbeben eingestürzt sind. Einige von ihnen wurden verhaftet. Aber dadurch, dass einige Bauunternehmer zu Sündenböcken gemacht werden, will die Regierung lediglich von ihrer eigenen Verantwortung ablenken. Sie hat vor dem Erdbeben praktisch nichts getan, um sich für den Fall der Fälle vorzubereiten, und während und nach der Katastrophe ließ sie es an hinreichender Unterstützung fehlen. Damit hat sie die massive Zerstörung und die vielen Totesopfer erst ermöglicht.
Der Verband progressiver Anwälte (ÇHD) hat am Montag Strafanzeige gegen die für diese Vertuschung Verantwortlichen erstattet. In der Stellungnahme dazu heißt es: „Wir haben Strafanzeige gegen Minister, Gouverneure und Vertreter des [staatlichen Katastrophenschutzes] AFAD eingereicht. Sie sind für den Verlust von hunderten Menschenleben verantwortlich, weil ihre Vorbereitung vor dem und ihre Reaktion auf das Erdbeben fahrlässig und unzureichend waren.“
Weiter heißt es dort: „Wir haben zuvor Strafanzeige gegen alle für die Zerstörungen Verantwortlichen erstattet. Die Behörden, die eindeutig dabei versagt haben, sich auf das Erdbeben vorzubereiten und Such- und Rettungsmissionen, Beseitigung der Trümmer und Hilfeleistung für Gerettete bereitzustellen, sind auch dafür verantwortlich, dass die Katastrophe derart massive Schäden angerichtet hat!“
Während der Inspektionen der Architektenkammer in den vom Erdbeben betroffenen Provinzen Adana, Osmaniye und Hatay erklärte die Vorsitzende der Kammer in Ankara, Tezcan Karakuş Candan: „Wir haben in der betroffenen Region massive Zerstörungen festgestellt. In den Provinzen, in denen es noch Nachbeben gibt, sind durch die vielen schwer und mittelstark beschädigten Gebäude Menschenleben gefährdet. Auch Menschen, die auf der Straße unter sehr schwierigen Bedingungen ums Überleben kämpfen, sind erstlich gefährdet.“
Candan fügte hinzu: „Wir machen uns große Sorgen darüber, wie diejenigen, die in sechs Tagen nicht bis zu den verschütteten Erdbebenopfern vordringen konnten, diese Städte wieder aufbauen sollen. Vor allem in Hatay ist ein Großteil der Neubauten zerstört.“ Sie erklärte außerdem:
Anhand der massiven Zerstörungen am Neubaubestand haben wir festgestellt, dass die nach dem Erdbeben 1999 [in der Region Marmara] erlassenen Erdbebenvorschriften nicht eingehalten wurden, und dass aus den Erdbeben keine Lehren gezogen wurden. Bei unseren Kontrollen haben wir festgestellt, dass unsere Warnungen zur Urbanisierung und zum Bauen in Erdbebengebieten ignoriert worden sind, und dass es bei der Ausarbeitung von Bebauungsplänen keine vollständige geologische und bodenkundliche Untersuchung gegeben hat.
Im Jahr 2019 erschien eine Masterarbeit über Antakya, einer Gemeinde im Zentrum von Hatay, in der es hieß: „80 Prozent der Gebäude im Stadtgebiet sind gefährdet. Obwohl diese Tatsache bekannt und in mehreren Berichten dargelegt ist, und obwohl man weiß, dass in dieser Stadt dringend etwas verändert werden muss, hat bisher keine nennenswerte Arbeit in dieser Richtung stattgefunden.“
Der Kolumnist Barış Terkoğlu veröffentlichte am Montag einen Artikel in der Tageszeitung Cumhuriyet, in der er aus einer schriftlichen Erdbebenwarnung und einem wissenschaftlichen Bericht von Hüseyin Alan, dem Vorsitzenden der Geoingenieurskammer, zitierte. Er hatte sie im März 2021 an mehrere staatliche Institutionen und auch an den Präsidenten und die AFAD geschickt. In dem Brief und dem Bericht ging es um Maraş, das spätere Epizentrum des Erdbebens von 2023:
Maraş liegt direkt auf aktiven Verwerfungslinien oder -zonen. Es ist dringend notwendig, eine Reihe von Studien in die Wege zu leiten, um zu verhindern, dass ein Erdbeben unsere Provinz Kahramanmaraş beschädigt ... Viele Siedlungen in Kahramanmaraş stehen auf Bodeneinheiten mit schlechten technischen Eigenschaften.
Terkoğlu erklärte, Alan habe in seinem Brief vorgeschlagen, „die Stadt gemäß der Karte der aktiven Verwerfungslinien umzubauen. Bestehende Gebäude müssen überprüft und städtebauliche Umgestaltungsarbeiten durchgeführt werden. Für Maraş muss ein Erdbebenplan erstellt werden.“
In dem angehängten wissenschaftlichen Bericht hieß es außerdem:
Ein Erdbeben oberhalb der Stärke von 6,5 wird Kahramanmaraş vermutlich durch schwere Erschütterungen und die Gefahr von Oberflächenverwerfungen beschädigen. Für diesen Fall wäre es klug, die Gebäude entsprechend den Erdbebenschutzvorgaben zu sanieren.
Doch die eindringlichen Warnungen von Alan und vielen anderen Wissenschaftlern blieben ungehört. Wie die World Socialist Web Site in ihrer jüngsten Perspektive erklärt hat, geschah dies nicht, weil der Erdoğan-Regierung die wirtschaftlichen oder sonstigen Mittel fehlten. Vielmehr war es „ausschließlich auf die finanziellen Erwägungen des türkischen und globalen Kapitalismus zurückzuführen, der langfristige Infrastrukturausgaben, wie etwa für die Erdbebensicherheit von Gebäuden in Gefährdungszonen, zugunsten einer kurzfristigen Gewinnmaximierung ablehnt“.
Dass die herrschende Klasse bewusst das Leben und die Sicherheit der Menschen missachtet, zeigte die letzte Abstimmung über eine „Bauamnestie“ im Jahr 2018. Acht Abgeordnete der sogenannten oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) stimmten mit „Ja“ für den Antrag, den Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) vor den Wahlen im Juni 2018 im Parlament eingebracht hatte, um den Bau von Gebäuden ohne die notwendigen Sicherheitszertifikate zu legalisieren.
Von der kurdisch-nationalistischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) kamen nur fünf „Nein“-Stimmen, 43 HDP-Abgeordnete nahmen nicht an der Abstimmung teil. Von der CHP stimmte zwar niemand mit „Nein“, doch 123 Abgeordnete enthielten sich. Kurz gesagt, die „oppositionellen“ Abgeordneten, die sich nicht an der Abstimmung beteiligten, und die bürgerlichen Oppositionsparteien haben zugelassen, dass das Gesetz verabschiedet wurde. Sie haben sich somit zu Komplizen bei den Verbrechen der Regierung gemacht.
Die ersten Worte einer Überlebenden in Hatay waren ein eindrucksvolles Beispiel für die Gleichgültigkeit des gesamten kapitalistischen Establishment für das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung. Laut Berichten wurde Emine Dogu (51) nach 138 Stunden aus den Trümmern geborgen. Sie erklärte den Sanitätern, die sie sofort nach der Rettung untersuchten: „Ich habe kein Geld. Bitte bringt mich nicht in ein Privatkrankenhaus.“
Gleichzeitig bestätigte der freiwillige Helfer Ali Nusret Berker am Montag in einem Interview mit Independent Türkçe, dass in den betroffenen Gebieten der Türkei, in denen 13 Millionen Menschen leben, noch Zehntausende unter den Trümmern ihrem Schicksal überlassen bleiben.
Berker berichtete, er und seine Freunde seien nach dem Erdbeben von sich aus in die Region gekommen, um sich an den Rettungs- und Hilfseinsätzen im Bezirk Samandağ von Hatay zu beteiligen. Das Katastrophenschutz-Team der AFAD, mit dem sie dort in Verbindung traten, habe sie mit den Worten empfangen: „Wir haben alle Gebäude hier gescannt. Die meisten von denen [unter den Trümmern] sind bereits tot. Macht euch keine vergebliche Mühe. Es ist besser, ihr kehrt wieder um.“
Laut dem Interview weigerten sie sich, diesen Rat anzunehmen: „Berker und die anderen Freiwilligen behaupten, dass seither mindestens 350 Menschen lebend aus den Trümmern geborgen worden seien.“
Berker fügte hinzu: „Hätten wir Ausrüstung bekommen, dann wäre vielleicht die Hälfte der Menschen, die wir verloren haben, lebend geborgen worden.“ Weiter erklärte er, in Samandağ, einer Stadt mit 120.000 Einwohnern, sei nur ein Team von 13 Leuten vor Ort gewesen: „Wir haben wirklich begonnen, die Menschen aus eigener Anstrengung zu retten. Aber während dieser Zeit verstummten die Stimmen der Leute, die wir am Anfang noch gehört hatten. Nach und nach verloren wir sie. Und keine Regierungsbehörde, die wir anriefen, wollte uns helfen. Wir können nicht verstehen, was das für eine Logik sein soll, die Menschen sterben zu lassen.“