Der bekannte Roman Chronik eines angekündigten Todes des nobelpreisgekrönten Schriftstellers Gabriel García Márquez erzählt die Geschichte eines Mordes, von dem viele Menschen wussten, dass er geschehen würde, die aber nichts unternommen haben, um ihn zu verhindern.
Das Erdbeben in der Türkei und Syrien am 6. Februar 2023, durch das Zehntausende von Gebäuden in beiden Ländern zerstört und mehr als 42.000 Menschen getötet wurden, zeigt eine andere Version dieser Geschichte. Viele Berichte von Experten und sogar Vertretern des Staatsapparats haben seit Jahren auf wissenschaftlicher und historischer Grundlage Erdbeben an den Verwerfungslinien in der Türkei vorhergesagt. Doch türkische Regierungsvertreter und Unternehmen haben nichts unternommen, um Zehntausende von völlig vorhersehbaren Todesfällen zu verhindern.
Die Regierung, die für den Erdbebenschutz verantwortlich ist, und das gesamte politische Establishment, die Kommunalverwaltungen und offiziellen Institutionen haben diese wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert. Sie haben vorsätzlich die Augen vor dem bevorstehenden Mord verschlossen. Millionen von Menschen lebten in Gebäuden, von denen bekannt war, dass sie bei einem schweren Erdbeben einstürzen oder schwer beschädigt würden. In dieser realen Version von García Márquez‘ Roman wurde ein „sozialer Mord“ an zehntausenden Menschen verübt, die unter den Trümmern eingeschlossen einen vermeidbaren Tod gestorben sind.
Die amtierende Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die seit 2002 von Recep Tayyip Erdoğan angeführt wird, versucht jedoch, ihr unbestreitbares Verbrechen zu vertuschen, das darin besteht, dass sie keine Vorbereitungen auf das Erdbeben getroffen hat, obwohl die Türkei ein erdbebengefährdetes Land ist. Einerseits behauptet sie über regierungsnahe Medien, dass „die Erdbeben zu groß“ waren, um sich darauf vorzubereiten. Andererseits versucht sie, die Verantwortung für die Katastrophe ausschließlich auf die Bauunternehmer und andere Kleinkriminelle abzuschieben, welche die Häuser gebaut haben.
Zweifellos gehören die Bauunternehmer mit zu den Haupttätern bei diesem sozialen Mord. Sie haben Gebäude errichtet, die gegen die bestehenden Sicherheitsvorschriften verstoßen, und sich geweigert, die notwendigen Materialien, Arbeitskräfte und Ingenieurleistungen zu bezahlen, um Extraprofite zu machen. Allerdings hat das kapitalistische Establishment als Ganzes das System aufgebaut, das es Bauunternehmern erlaubt, grundlegende Sicherheitsvorschriften zu missachten.
Die enormen Gewinne im Baugewerbe, das die Wirtschaft und Politik der Türkei in den letzten Jahrzehnten dominiert hat, haben enormes Interesse und Investitionen angezogen. Im Jahr 2017 gab es in der Türkei bei einer Bevölkerung von 85 Millionen 330.000 eingetragene Baufirmen, allein 60.000 davon waren bei der Handelskammer von Istanbul registriert. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es bei einer Bevölkerung von 83 Millionen Einwohnern schätzungsweise nur 3.800 Baufirmen, in ganz Europa 20.000 bis 30.000.
Das Baugewerbe hat sich in der Türkei zu einer vom Staat finanzierten und ausgebauten Branche entwickelt, die Reichtum schafft und natürlich die bürgerliche Politik finanziert. Die Bauvorschriften wurden mehrfach umgeschrieben, und den Berufsverbänden wie der Union der Türkischen Architekten- und Ingenieurskammern (TMMOB) wurde die Befugnis entzogen, Bauprojekte zu prüfen und zu genehmigen.
Die AKP-Regierung hat das 2003 eingeführte staatliche Vergabegesetz 192-mal abgeändert und alle Hindernisse für die Bevorzugung von parteinahen Baufirmen durch die AKP abgeschafft. Der Flughafen Hatay, der während des Erdbebens schwer beschädigt wurde, mehrere zerstörte Autobahnen und das einstürzte Gebäude der Katastrophen- und Notfallschutzbehörde AFAD in Hatay wurden allesamt von AKP-Baufirmen gebaut. Diese Zerstörungen waren auch ein wichtiger Grund, warum sich die offiziellen Such-, Rettungs- und Hilfseinsätze verzögert haben.
„Bauamnestien“ haben eine entscheidende Rolle bei der vermeidbaren Zerstörung gespielt. In der Amtszeit der AKP wurden acht „Amnestien“ herausgegeben, die bei vielen Gebäuden eine Inspektion rechtlich unmöglich machten.
Obwohl die herrschenden Kreise nach dem Erdbeben Krokodilstränen vergießen, ist das gesamte politische Establishment – sowohl die Verbündeten der AKP als auch die „Oppositionsparteien“ – mitschuldig. In Übereinstimmung mit den Gesetzen, die von allen Parteien im Parlament verabschiedet wurden, hat das Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel Gebiete zur Besiedelung freigegeben, die nach wissenschaftlichen Maßstäben niemals hätten freigegeben werden dürfen.
Die Stadtverwaltungen haben Baugenehmigungen in erdbebengefährdeten Gebieten erteilt, ohne die Projekte zu prüfen. Die Bauaufsichtsbehörden haben diese Gebäude nicht angemessen inspiziert, und Ingenieure haben ihre Dienste für diese Bauvorhaben angeboten. Sie alle sind, von oben bis unten, an diesem sozialen Mord in den betroffenen Gebieten verwickelt.
Zuletzt wurde im Jahr 2018 eine so genannte Bauamnestie eingeführt, „um das Problem der nicht genehmigten Gebäude zu lösen, die vor dem 31. Dezember 2017 gebaut wurden“. Von diesem Gesetz profitierten etwa zehn Millionen Menschen, da es unsichere illegale Bauten „legalisierte“, von denen die meisten ohne Aufsicht und ohne irgendwelche Ingenieursleistungen gebaut wurden. Infolgedessen wurden 16 Milliarden türkische Lira von den Besitzern der Gebäude als „Gebühren für die Bauzulassung“ erhoben und an die Staatskasse überwiesen.
Insgesamt haben in den zehn vom Erdbeben zerstörten Provinzen 294.000 Besitzer illegal errichteter Gebäude von dieser Amnestie profitiert. Ohne das Erdbeben letzte Woche wäre vermutlich eine weitere Bebauungsamnestie ausgesprochen worden, entsprechend der Gesetzesvorlage der faschistischen Partei der Großen Einheit (BBP), ein Verbündeter von Erdoğans AKP. Diese Vorlage wäre, wie in der Vergangenheit geschehen, mit Unterstützung oder Duldung der so genannten Oppositionsparteien angenommen worden.
Man sollte darauf hinweisen, dass die TMMOB-Verwaltung seit den Erdbeben noch keine Disziplinarverfahren gegen die Ingenieure angekündigt hat, die an den eingestürzten Gebäuden beteiligt waren oder Inspektionen in Gemeinden oder Privatunternehmen durchgeführt haben. Allerdings ist allgemein bekannt, dass bestimmte Ingenieure ihre Diplome an Bau- und Inspektionsfirmen vermieten, nur um Projekte und Dokumente zu unterzeichnen. Sie werden dafür bezahlt und wissen nicht einmal, wo die Baustellen sind.
Nach dem Marmara-Erdbeben von 1999, bei dem offiziell mehr als 17.000 Menschen ums Leben kamen, leitete die Staatsanwaltschaft keine größeren Untersuchungen ein, um die Verantwortlichen für das Massensterben und die Zerstörungen zur Rechenschaft zu ziehen. Lediglich der Bauunternehmer Veli Göçer, der damals in Yalova baute und dessen gesamte Wohnsiedlungen eingestürzt waren, wurde verhaftet und für den Tod von 198 Menschen vor Gericht gestellt. Göçer wurde zwar zu 18 Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, kam aber nach 7,5 Jahren schon frei.
Heute folgt die Erdoğan-Regierung dem gleichen Drehbuch. Sie versucht, sich selbst und das kapitalistische System freizusprechen, indem sie einen Bauunternehmer anklagt, der einen eingestürzten Gebäudekomplex errichtet hat. Das bedeutet, die Regierung übernimmt keine Verantwortung für ein Ereignis, bei dem laut offiziellen Zahlen 36.000 Menschen gestorben sind. Kein einziger staatlicher Vertreter ist zurückgetreten.
Trotz der massiven Zerstörungen und der Verluste von Menschenleben im Erdbebengebiet wurde kein hochrangiger staatlicher Vertreter verhaftet, abgesehen von einigen Bauunternehmern und untergeordneten Personen, die Baugenehmigungen unterzeichnet hatten. Einige alibihafte Verhaftungen können denjenigen nicht die Verantwortung abnehmen, die keine Sicherheitsvorkehrungen gegen Erdbeben getroffen, die Bauamnestien vorbereitet, sie im Parlament bewilligt oder nichts dagegen unternommen haben und die diese Projekte entworfen, genehmigt und geprüft haben.
Die Verantwortlichen für diesen sozialen Mord müssen verhaftet und vor Gericht gestellt werden – allen voran die Spitzen des politischen Establishments und der Privatwirtschaft. Die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und weitere soziale Katastrophen zu verhindern, erfordert eine breite politische Mobilisierung der Arbeiterklasse, bewaffnet mit einem sozialistischen Programm gegen die Tatsache, dass der Kapitalismus den privaten Profit und Reichtum über das menschliche Leben stellt.