Syrien wird nach Erdbeben seinem Schicksal überlassen, Türkei versucht Bevölkerung zu besänftigen

Die Zahl der Opfer des massiven Erdbebens in der türkisch-syrischen Grenzregion am Montag wächst stetig weiter. Mittlerweile ist von mehr als 20.000 Toten die Rede.

Luftaufnahme der Zerstörungen in Kahramanmaraş im Süden der Türkei vom 8. Februar 2023 [AP Photo/Ahmet Akpolat]

Der Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa Dr. Hans Kluge rief für die Region den Notstand der Stufe 3 aus. Drei Tage nach den Erdbeben sind in beiden Ländern vermutlich noch Zehntausende unter den Trümmern begraben, und das bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt.

In Syrien, das infolge des seit 2011 von den Nato-Mächten angeheizten Bürgerkriegs verwüstet und gespalten ist, werden Millionen von Menschen weitgehend ihrem Schicksal überlassen. Die USA und die europäischen Mächte weigern sich noch immer, die Sanktionen gegen das Land aufzuheben. Zudem halten US-Truppen weiterhin die Ölfelder im Nordosten des Landes besetzt, sodass Damaskus keinen Zugang zu wichtigen Einnahmequellen hat, die es für die Bewältigung der Katastrophe bräuchte.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gab Ende Januar bekannt, die Zahl der Hungernden in Syrien sei auf dem höchsten Stand seit 2011. Zwölf Millionen Syrer wüssten nicht, woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen, 2,9 Millionen drohe der Hungertod.

In der türkischen Bevölkerung herrscht große Wut darüber, dass die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan trotz der Warnungen von Wissenschaftlern keine Vorkehrungen gegen die vorhergesagten Erdbeben getroffen hat, sowie über die unzureichende und unkoordinierte staatliche Reaktion. Die Regierung ist mehr daran interessiert, diesen sozialen Widerstand zu unterdrücken, als die Verschütteten aus den Trümmern zu befreien.

Das machte Erdoğan mit seiner Stellungnahme zu der Katastrophe während des Besuchs im Erdbebengebiet am Mittwoch deutlich: „Solche Dinge sind schon immer passiert. Sie gehören zum Schicksal.“ Damit stellte er den vermeidbaren Tod von zehntausenden Menschen, der ein soziales Verbrechen ist, als unausweichliche „Naturkatastrophe“ dar.

In Kahramanmaraş, dem Epizentrum des Erdbebens, erklärte Erdoğan: „Unsere Arbeit in den Erdbebengebieten wird sich beschleunigen und viel einfacher werden. Zuerst gab es teilweise Probleme an den Flughäfen und Straßen. Wir werden auch diese in den Griff bekommen. Heute haben wir mehr Kontrolle, morgen werden wir noch mehr Kontrolle haben.“ Dabei sind bekanntlich gerade die ersten Stunden nach einem schweren Erdbeben entscheidend für die Rettung der Verschütteten.

In der Stadt Hatay, die von dem Erdbeben ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, erklärte Erdoğan: „Natürlich gibt es Probleme. Die Bedingungen sind sehr klar. Es ist nicht möglich, sich auf eine so schwere Katastrophe vorzubereiten.“ Er rief zu „Einheit und Solidarität“ auf und verurteilte die Kritik an der späten und unzureichenden Reaktion seiner Regierung als „schmutzige Negativkampagnen“.

Dass die Regierung während Erdoğans Besuch in der Region den Zugang zu Twitter beschränkt hat, löste massive Empörung aus. Während regierungsnahe Medien die Lage im Erdbebengebiet ausblendeten und sogar die Redebeiträge von Opfern herausschnitten, war Twitter zur wichtigsten unabhängigen Nachrichtenquelle des Landes geworden. Zudem hatten sich viele, die noch immer unter den Trümmern feststecken, per Twitter gemeldet.

Erdoğans Behauptung, es sei „nicht möglich, sich auf eine so schwere Katastrophe vorzubereiten“, ist eine politische Lüge. Tatsächlich haben Wissenschaftler seit Jahren gewarnt, dass schwere Erdbeben in dieser Region sehr wahrscheinlich sind. Sie haben außerdem Vorschläge gemacht, was getan werden muss, um hohe Opferzahlen zu verhindern.

Nach dem Erdbeben in Elazığ im Januar 2020 sprach der bekannte Geologe Professor Naci Görür eine Warnung für den Raum Kahramanmaraş aus und erklärte, es könnte eine „Belastungsverlagerung“ auf die Verwerfungslinien dieser Region gegeben haben. Er machte direkt auf den Schauplatz des Erdbebens in Kahramanmaraş aufmerksam und erklärte: „Das letzte Erdbeben in der Region Türkoğlu in Kahramanmaraş war im Jahr 1513 und hatte eine Stärke von 7,4. Das Gebiet ist also anfällig für Erdbeben. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit besonders auf diese Orte richten. Wir müssen jetzt Verbesserungsmaßnahmen einleiten.“

Doch die Maßnahmen, welche die Zentralregierung, die Gouvernementsregierungen und Kommunen koordiniert hätten ergreifen können, um Zerstörungen durch das Erdbeben zu verhindern, wurden nicht getroffen. Deshalb wurden Millionen Menschen ihrem Schicksal überlassen.

Von den 6.444 Gebäuden, die in der Türkei eingestürzt sind, befanden sich mehr als 2.700 in der Provinz Hatay, die damit zu den am stärksten betroffenen Provinzen gehört. Der Bürgermeister der Metropolregion Hatay Lütfü Savaş erklärte am Mittwoch: „Überall herrscht schwere Zerstörung. Wir konnten nur zwei bis drei Prozent der zerstörten Gebäude erreichen.“ Das könnte bedeuten, dass allein in Hatay Zehntausende noch immer unter den Trümmern verschüttet sind.

Dabei war bekannt, dass sich Hatay und weitere wichtige Städte in der Region auf Verwerfungslinien befinden. In Aslıhan Gündoğdus Masterarbeit über Antakya, eine Stadt im Zentrum von Hatay, mit dem Titel „Stadtsanierungspolitik in der Türkei: Eine Feldstudie zur Stadterneuerung in Antakya“ von 2019 hieß es:

80 Prozent der Gebäude im Stadtgebiet sind strukturell gefährdet. Obwohl dies in Berichten erwähnt wurde und es bekannt ist, dass diese Stadt dringend saniert werden muss, fand bisher keine nennenswerte Arbeit daran statt.

Die verheerenden Auswirkungen dieser Untätigkeit bei der Stabilisierung von Gebäuden und öffentlicher Infrastruktur in Antakya und anderen Städten, um diese erdbebensicher zu machen, werden jetzt deutlich. Zehntausende oder hunderttausende Menschen sind unter eingestürzten Gebäuden verschüttet, ihre Chance auf Rettung vor einem vermeidbaren Tod schwindet mit jeder Stunde.

Ein freiwilliger Helfer erklärte am Mittwoch gegenüber BBC Türkçe: „Die Leute warten neben den Trümmern. Dort sind lebende Menschen drin... Es findet sehr wenig Arbeit an den Trümmern statt. Die Lage ist sehr schlecht.“

Der Ingenieur für Geophysik Professor Övgün Ahmet Ercan schätzt, dass unter den Trümmern noch eine beängstigend hohe Zahl von Menschen verschüttet liegen. Am Mittwoch erklärte er: „Hier gibt es etwa vier Millionen Gebäude. In diesen Gebäuden leben dreizehn Millionen Menschen, etwa 7.000 Gebäude sind eingestürzt, und die Leute sind verzweifelt.“

Er fügte hinzu: „Laut meinen Berechnungen befanden sich etwa 200.000 Menschen unter den eingestürzten Gebäuden. Dabei gehe ich davon aus, dass es vier Stockwerke und acht Wohnungen in jedem Gebäude gab. Bisher wurden etwa 8.000 Menschen aus den eingestürzten Gebäuden geborgen.“

Murat Ağırel, ein Kolumnist der Tageszeitung Cumhuriyet erklärte am Mittwoch aus dem Erdbebengebiet, in Hatay hätten die Menschen „die Hoffnung auf den Staat aufgegeben. Alle versuchen, ihre Angehörigen selbst aus den Trümmern zu befreien... Alle kommen hierher um zu helfen, aber es mangelt an Koordination. Es kommen auch Teams aus dem Ausland. Der Schmerz ist nicht zu beschreiben. Leider gibt es Orte, an die keine Rettungsteams herankommen können.“

Er fügte hinzu:

Wir leben in einer Situation, in der die Hoffnung schwindet. Nach dieser Stunde werden wir laute Schreie hören. Weil Leute einfach gestorben sind. Deshalb haben wir auf den Trümmerhaufen gerufen „Kann uns jemand hören?“ Jetzt rufen die Leute aus den Trümmern „Kann uns jemand hören?“ Das Hauptproblem ist die fehlende Koordination, die Mentalität „mit dem Segen des Präsidenten“, die Unfähigkeit staatlicher Institutionen, die Arbeit in koordinierter Weise gemeinsam durchzuführen.

In der Erdbebenregion und im ganzen Land wächst die Wut der Bevölkerung. In Adiyaman, das ebenfalls stark betroffen ist, protestierten Opfer gegen den Besuch des Gouverneurs. Am Mittwoch wurde angekündigt, dass der Gouverneur von Ordu kurzfristig zu dessen Nachfolger ernannt wurde. Auch der Verkehrs- und Infrastrukturminister Adil Karaismailoğlu wurde bei seinem Besuch in der Stadt von aufgebrachten Demonstranten empfangen.

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