Lokführer im Streik um die 35-Stundenwoche

Im bisher längsten Eisenbahnerstreik in der gegenwärtigen Tarifauseinandersetzung haben die Lokführer große Teile der Bahn lahmgelegt. In den Tagen seit Streikbeginn sind bis zu 80 Prozent aller DB-Züge ausgefallen. Seit Dienstagabend bestreiken die Mitglieder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) die Deutsche Bahn bundesweit – erst im Güterverkehr, ab Mittwoch frühmorgens auch im Fern- und Nahverkehr –, um eine Arbeitszeitverkürzung und bessere Löhne zu erreichen.

Lokführer-Kundgebung in Stuttgart am Donnerstag, 25. Januar

Am Donnerstag nahmen hunderte Streikende an Kundgebungen in Stuttgart, Nürnberg, Hamburg, Halle und Erfurt teil. Am heutigen Freitag folgen Kundgebungen in Dresden, Berlin und Dortmund. Nicht weniger als 97 Prozent der GDL-Mitglieder haben im Dezember für einen unbefristeten Streik gestimmt. Wie sich zeigt, ist der Streik in der arbeitenden Bevölkerung populär, und viele Passanten bleiben stehen und drücken ihre Unterstützung für die Durchsetzung der Forderungen aus.

Hauptziel des sechstägigen Streiks, der noch bis einschließlich Montag 18 Uhr dauert, ist die Einführung der 35-Stundenwoche, eine absolut berechtigte Forderung. Sie hat einmal mehr die Arbeitsbedingungen der Lokführer, Zugbegleiter und Fahrdienstleiter in den Focus gerückt: Diese fahren zehn- bis zwölfstündige Schichten im ständigen Wechsel, tragen dabei die Verantwortung für vollbesetzte Züge und verdienen definitiv zu wenig.

Es ist ein Teufelskreis: Die schlechten Bedingungen führen zu wachsendem Personalmangel, und dieser verschärft die andauernde Stresssituation für die Triebfahrzeugfahrer, Zugbegleiter und anderen Eisenbahner. Um aus diesem Teufelskreis auszubrechen, gehen die Lokführer mit ihrer Forderung, die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich von 38 auf 35 Stunden zu verkürzen, den ersten Schritt. Ihr Streik macht gleichzeitig deutlich, dass ein solches Ziel, das längerfristig dem ganzen Bahnpersonal nützen wird, die Mobilisierung aller Eisenbahner erfordert.

Die Lokführer sind mit einer Phalanx aus dem Bahnvorstand, der Bundesregierung, der deutschen Wirtschaft und den Medien konfrontiert, die an ihnen ein Exempel statuieren wollen. Personalchef Martin Seiler ist Mitglied des Bahnvorstands, der kürzlich insgesamt fünf Millionen Euro Boni für das Jahr 2022 kassierte. Er hat sich von Anfang an geweigert, über die 35-Stundenwoche auch nur zu verhandeln.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) behauptet, der Streik der GDL sei „inakzeptabel“. Er habe „Null Verständnis für diese Form der Tarifauseinandersetzung“, die „zunehmend destruktive Züge“ annehme. Der Minister, der sich angeblich „in den Tarifkampf nicht einmischt“, fordert eine rasche Schlichtung.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) beklagt die enormen Schäden für die Wirtschaft und tritt mit der Forderung auf, künftig müsse es vor jedem Streikkampf eine obligatorische Schlichtung geben.

Die Medien machen von morgens bis abends gegen die „privilegierten“ Lokführer Stimmung, die angeblich „den Hals nicht vollkriegen“. Direkt am ersten Streikabend hat ein Tagesthemen-Kommentator implizit ein Streikverbot gefordert, als er sagte, GDL-Führer Claus Weselsky scheine „es um ein Tarifdiktat zu gehen, auf Kosten eines ganzen Landes“, und er forderte: „Der Gesetzgeber sollte diesem Treiben langsam Grenzen setzen.“

Den Kampf gegen diese geschlossene Front, die vom Bahnvorstand über die Wirtschaft bis zur Regierung und den Medien reicht, können die Lokführer nicht allein gewinnen. Er erfordert die Mobilisierung aller Bahnarbeiter und darüber hinaus breiter Schichten der Arbeiterklasse, der Bus- und Straßenbahnfahrer, der LKW-Fahrer etc., die sich selbst in Kämpfen befinden.

Er erfordert eine Perspektive, die mit der GDL nicht zu verwirklichen ist: die Perspektive des internationalen Klassenkampfs, eine Perspektive, die prinzipiell die Lebensbedürfnisse der Beschäftigten über die Profite der Reichen und Aktionäre stellt. Dafür kämpft die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC). Was GDL-Chef Weselsky angeht, so hat er diese Perspektive ausdrücklich zurückgewiesen und in einem Interview erklärt: „Wir sind nicht im Klassenkampf unterwegs, sondern in der Marktwirtschaft.“

Die GDL lehnt es ab, den Streik der Lokführer auf breitere Arbeiterschichten auszuweiten. Weselsky, selbst ein CDU-Mitglied, unternimmt nicht den geringsten Versuch, auch die EVG-Mitglieder und andere Eisenbahner anzusprechen und für eine Unterstützung des Kampfs zu gewinnen, geschweige denn, diesen Kampf über die Grenzen der DB AG auf andere Eisenbahngesellschaften und den internationalen Bahnverkehr auszuweiten.

Kundgebung mit GDL-Chef Claus Weselsky am Bahnhof Nürnberg, 25. Januar 2024

In Nürnberg und Stuttgart, wo Weselsky am Donnerstag auf GDL-Kundgebungen sprach, appellierte er an Bahnvorstand und Regierung, doch im Interesse der wirtschaftlichen Zukunft der Bahn einzulenken, „damit dieses Eisenbahnsystem gesundet und die Menschen gesunden, die dort arbeiten“. Weselskys Wortradikalität, mit der er die „Nieten in Nadelstreifen“ im Vorstand titulierte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er so bald wie möglich einen Deal mit dem Bahnvorstand abschließen will.

Wie dieser aussehen würde, das zeigen die ständigen Hinweise auf die bisher 18 Abschlüsse, die Weselsky schon mit privaten Eisenbahngesellschaften unterzeichnet hat. Offenbar hat er die ursprüngliche Forderung von 555 Euro Lohnerhöhung für ein Jahr völlig aufgegeben.

Bei GoAhead und Netinera hat die GDL Lohnerhöhungen von 420 Euro in zwei Raten bei einer Laufzeit von 24 Monaten (plus 3000 Euro Inflationsausgleich) zugestimmt. Das ist nicht einmal die Hälfte der ursprünglichen Forderung. Die Einführung der 35-Stundenwoche erfolgt schrittweise und wird erst am 1. Januar 2028 erreicht.

Was aber vor allem älteren Kollegen zu schaffen macht: Im Gegenzug entfallen schon zum 1. Januar 2026 die Wahlmodelle „12 Tage mehr Urlaub“ und „Arbeitszeitabsenkung“, die ihnen die Arbeit – wenn auch ohne Lohnausgleich – bisher ein wenig erleichtert haben. Außerdem wird die Arbeitszeitverkürzung daran gekoppelt sein, dass die DB die gleiche Vereinbarung abschließt.

Anstatt dass die GDL alle ihre Mitglieder gemeinsam mobilisiert und danach strebt, den Streik auf alle Eisenbahner auszudehnen, schließt sie bei einer Bahngesellschaft nach der anderen ab und verringert damit die Streikbasis.

Gleichzeitig versuchen die GDL-Funktionäre, eine breitere Diskussion über die Kampfperspektive zu verhindern, und schrecken dabei auch vor Zensur und Verleumdungen nicht zurück. In Nürnberg versuchte die GDL, die Flyer der World Socialist Web Site mit dem Aufruf: „Unterstützt den Streik der Lokführer“ zu verbieten oder zu beschlagnahmen, die zum Aufbau unabhängiger Aktionskomitees bei der Bahn aufrufen.

Viele Lokführer nahmen jedoch die Flyer mit Interesse an. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Gewerkschaftsbürokraten die offene Diskussion über Perspektiven unterdrücken können. Die Lokführer bringen große Opfer für ihren Arbeitskampf. Sie sind daran interessiert, ihre Situation einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.

Andreas, Lokführer in Stuttgart, sagte einem WSWS-Reporter: „Hätten wir eine 35-Stundenwoche, dann wäre der Beruf wieder attraktiv und wir würden mehr Kolleginnen und Kollegen gewinnen“.

Ein älterer Lokführer ergänzte: „Momentan ist es so, dass zwar immer wieder neue Kollegen anfangen, aber sie bleiben nicht lange. Viele sind in letzter Zeit weggegangen. So geht es nicht weiter – wir streiken ja nicht aus reinem Vergnügen.“ Er fügte hinzu: „Momentan ist es ganz schlimm. Wir haben ja gar kein Privatleben mehr. Wir arbeiten auch nachts, am Wochenende und feiertags. Darunter leidet nicht nur die Gesundheit, es macht auch die Familie kaputt.“

Die brutalen Bedingungen im Fahrdienst der Bahn gehen aus zahlreichen Social-Media-Einträgen hervor. Auf Facebook erläutert Carsten V. seinen aktuellen Schichtplan: „Mo: 23:15h – 09:58h. Mi: 01:45h – 10:20h. Do: 16:22h – 03:27h und dann am Samstag nochmal von 03:50 Uhr bis um 14:12 Uhr. Und dies war nur ein Beispiel von vielen, während andere Arbeitnehmer pünktlich Feierabend machen.“ Er setzt hinzu: „Ich kann die Tage an einer Hand abzählen, wann ich im letzten Jahr mal pünktlich Feierabend hatte.“

Railway Rico macht bekannt, was die Bahner im Personenverkehr verdienen: „Ich kann es dir verraten. In Niedersachsen knüppeln die 10,45 Stunden an 4–6 Tagen die Woche und sehen nicht mal die 3000 netto bei Steuerklasse 3. Die Schichten fangen gegen 2:30 Uhr an und die Spätschicht endet dann mal um 1 Uhr früh. Wenn du Pech hast, hast du noch mit dem Auto 50 km bis nach Hause zu fahren, also bist du 11–13 Stunden nur für die Arbeit da.“

In Stuttgart sagte Daniel den WSWS-Reportern: „Die Leute haben keine Ahnung. Wir sind ja schon längst keine Beamten mehr. Man tut so, als seien wir privilegiert, man setzt uns sogar mit Piloten gleich [obwohl auch diese es nicht mehr haben wie früher]. Als ich bei der Bahn anfing, dachte ich, dass der Verdienst höher ist. Man hat eine hohe Verantwortung, aber das wird nicht honoriert. Wir werden vom Arbeitgeber verarscht, es ist keine Wertschätzung da. Das ist bitter.“

Um diese drastischen Zustände zu ändern, ist es notwendig, mit der GDL zu brechen und einen politischen Kampf aufzunehmen. Worum es der Bahn, der Bundesregierung und den mit der Ampel verbundenen Gewerkschaften geht, zeigt ein Blick auf die massive militärische Aufrüstung der Regierung. Sie rüstet auch die Ukraine im Krieg gegen Russland und Israel beim Völkermord an den Palästinensern militärisch auf. Um diesen wahnsinnigen Militarismus zu finanzieren, hat die Scholz-Regierung beschlossen, sowohl die Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Eisenbahn-Ausgaben, als auch die Löhne zu kürzen. In der Autoindustrie und anderswo steht ein umfassender Arbeitsplatzabbau an.

Deshalb ist es der Bundesregierung und dem Gewerkschaftsapparat so wichtig, an den Lokführern ein Exempel zu statuieren. Umgekehrt können die Lokführer sich auf den wachsenden Widerstand unter breiten Teilen der Arbeiterklasse stützen, bei denen ihr Kampf ein hohes Ansehen genießt. Dazu erklärt die World Socialist Web Site in ihrem Flyer:

In ihrem Kampf sind die Lokführer vor allem auch mit der GDL-Führung konfrontiert, die sich nicht grundlegend von den DGB-Gewerkschaften unterscheidet und in der Vergangenheit die gleichen Reallohnkürzungen durchgesetzt hat. Nichts liegt Weselsky ferner, als die Arbeiterklasse gegen die Politik von Krieg und Kürzungen zu mobilisieren. Die streikenden Lokführer müssen deshalb ein unabhängiges Aktionskomitee und eine eigene Streikleitung gründen, um den Tarifkampf selbst in die Hand zu nehmen und einen faulen Kompromiss zu verhindern.

Wir, die WSWS und die Sozialistische Gleichheitspartei, bieten aktive Unterstützung beim Aufbau von Aktionskomitees an. Derzeit mobilisieren wir die Unterstützung der BVG-Beschäftigten, die ebenfalls im Tarifkampf stehen, und rufen alle Verkehrsarbeiter und auch die Beschäftigen anderer Branchen zu aktiver Solidarität und einem gemeinsamen Kampf auf.

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