Der sozialistische Autoarbeiter Will Lehman verklagt das US-Arbeitsministerium der Regierung von Präsident Biden. Er fordert, dass die Wahl zur nationalen Vertretung der Autogewerkschaft United Auto Workers (UAW) wiederholt wird und dabei die Namen aller Kandidaten wieder auf dem Stimmzettel erscheinen. Die Gewerkschaftsbürokratie hatte durch das Wahlverfahren die Stimmberechtigten entmündigt, so Lehmans Darlegung.
Lehman reichte seine Klage vor einem US-Bundesgericht im östlichen Bezirk von Michigan ein, nachdem das Arbeitsministerium seine Anfechtung der Wahl zum UAW-Vorsitz in einem äußert knapp gehaltenen Schreiben zurückgewiesen hatte. Die Behörde hatte nicht einmal den Versuch unternommen, auf die von ihm vorgebrachten Argumente oder die von ihm vorgelegten Beweise einzugehen. „Eine Begründung für diese Entscheidung wird Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt zugehen“, heißt es darin abschließend.
Dies ist das zweite Mal in weniger als einem Jahr, dass Lehman vor ein Bundesgericht zieht, um die Rechte der Gewerkschaftsmitglieder zu verteidigen. Im November 2022, noch vor Abschluss der ersten Abstimmungsrunde, reichte Lehman im selben Bezirk eine Klage ein. Er verlangte damals, die Frist für die Abstimmung zu verlängern und die UAW zu verpflichten, ihre Mitglieder über die bevorstehende Wahl zu informieren.
Während des Rechtsstreits im Jahr 2022 warnte Lehman: „Wenn weiterhin bis zum Stichtag am 28. November jeden Tag Stimmzettel in diesem Tempo eingesandt werden, wird die Gesamtbeteiligung bei etwa 104.000 liegen - fast 40.000 Stimmzettel weniger als beim letztjährigen Referendum.“
Lehman zitiert seine eigene Vorhersage in der jüngsten Klage und führt aus:
An den von Lehman im November aufgeworfenen Fragen ist nichts mehr spekulativ. Durch eine Kombination aus Täuschung, Inkompetenz und Verzögerung wurde diese Wahl effektiv hinter dem Rücken der Massen von Mitgliedern und verrenteten Mitgliedern abgehalten. Selbst der scheidende UAW-Vorsitzende Ray Curry räumte am 16. März 2023 ein, dass die Wahl durch ‚zügellose Entmündigung der UAW-Wähler‘ gekennzeichnet war. Dies ist ein außergewöhnliches Eingeständnis für einen leitenden Funktionär der Gewerkschaftsbürokratie. Er selbst bestätigt die zahlreichen Einwände, die Will Lehman während des Wahlkampfs vorgebracht hat.
Lehmans neue Klage beginnt mit der Erklärung:
Die verkrustete Bürokratie hat Hunderttausende von einfachen Mitgliedern und Rentnern systematisch entrechtet, indem sie es absichtlich versäumte, eine angemessene Mitteilung über die stattfindende Wahl zu machen. Bis heute wissen viele Mitglieder nicht, dass es eine Wahl gegeben hat, bei der sie Wahlrecht hatten. Von 1,1 Millionen Wahlberechtigten gaben nur 104.776 ihre Stimme ab, während etwa 1.000.000 nicht zur Wahl gingen. Diese Wahlbeteiligung von 9 Prozent ist die niedrigste bei einer nationalen Gewerkschaftswahl in der Geschichte der USA.
Lehman erläutert dann akribisch, wie und warum die UAW-Bürokratie die Abstimmung systematisch unterdrückt hat.
Die Bürokratie war gegen Direktwahlen und hatte ein Motiv für die Unterdrückung der Abstimmung. Die Bürokratie befürchtete, dass die Wahlen einfachen Arbeitern wie Will Lehman die Möglichkeit geben könnten, die bis dato unkontrollierte Verfügungsgewalt des Apparats über das Vermögen der Gewerkschaft, das mit den Beitragsgeldern von Generationen von Arbeitern aufgebaut worden ist, anzufechten und die Privilegien der Bürokratie und ihre kuschelige Beziehung zur Unternehmensleitung zu stören.
In der Beschwerde wird dargelegt, wie die UAW die Funktionäre informierte, aber versuchte, die Belegschaft so weit wie möglich auszuschließen.
Die Bürokratie behandelte die Wahl als eine private, interne Angelegenheit. Im ersten Wahlgang hat sie Maßnahmen ergriffen, um ihr Netzwerk lokaler und nationaler Funktionäre über die bevorstehende Wahl zu informieren und gleichzeitig eine möglichst geringe Wahlbeteiligung unter der Basis sicherzustellen. Diese Strategie spiegelte sich darin wider, dass man sich bei der Bekanntmachung der Wahlen stark auf das Local Union Information System (LUIS) stützte, das in der Vergangenheit nur für die Kommunikation zwischen nationalen und lokalen Funktionären verwendet wurde. Diese Strategie sorgte dafür, dass im zweiten Wahlgang Lehman ausgeschlossen wurde und sich die Wahl auf eine Konkurrenz zwischen den Vertretern der beiden wichtigsten Fraktionen der Bürokratie selbst beschränkte: dem ‚Administration Caucus‘ unter der Leitung von Ray Curry und dem ‚Members United‘-Caucus unter der Leitung von Shawn Fain.
Die Klage fasst das umfangreiche Beweismaterial zusammen, das die Anhänger des Kandidaten Lehman vorgelegt haben. Hieraus geht hervor, dass die nationale UAW-Dachorganisation und die örtlichen Gewerkschaftsvertretungen es versäumt haben, die Verteilerlisten zu aktualisieren, und sich systematisch geweigert haben, die Beschäftigten an die Adressenaktualisierung zu erinnern, damit sie einen Stimmzettel erhalten können. Diese Beweise sowie die Ergebnisse einer Umfrage, die von über 100 Mitgliedern aus mehr als 20 Prozent aller Ortsverbände ausgefüllt wurde, sind von der Überwachungsstelle, der UAW oder dem Arbeitsministerium nie widerlegt worden.
In der Klageschrift wird darauf eingegangen, welch ein Kontrast zwischen den Informationen zur UAW-Vorsitzwahl und zur amerikanischen Kongresswahl herrscht. Bei der Wahl zum UAW-Vorsitz weigerten sich die Funktionäre praktisch, die einfachen Mitglieder zu informieren. Bei den Midterms Elections zum US-Repräsentantenhaus am 22. November, die zeitgleich mit der ersten Runde der Gewerkschaftswahl stattfanden, gab es vonseiten der UAW hingegen weitaus professionellere Bemühungen, die eigenen Mitglieder und Rentner über ihr Recht zu informieren, „für die Demokratische Partei zu stimmen“. Die Klage beinhaltet detaillierte Darstellungen, wonach die UAW zahlreiche Mitteilungen verschickt hat, in denen die Beschäftigten aufgefordert wurden, bei den Zwischenwahlen ihre Stimme abzugeben. Dies „beweist, dass die UAW die Möglichkeit hatte, ihre Mitglieder angemessen zu informieren, sich aber bewusst dafür entschied, diese Möglichkeit nicht zu nutzen“.
Die Klageschrift deckt auch die Rolle der beiden Anwaltskanzleien auf, die von der UAW-Bürokratie empfohlen wurden, um die Wahl zu überwachen: Jenner & Block und Crowell & Moring.
Die überwachenden Anwaltskanzleien Crowell & Moring und Jenner & Block sind langjährige Anwälte und Lobbyisten der Autokonzerne“, heißt es darin. „Diese Anwaltskanzleien vertreten derzeit Unternehmen, die Zehn- oder Hunderttausende von einfachen UAW-Mitgliedern beschäftigen, darunter GM, Dana, CAT, Bosch, Bridgestone und andere. Die Firmenkunden dieser Anwaltskanzleien hatten ein unmittelbares Interesse daran, dass die Stimme der Basis bei den Wahlen unterdrückt wurde. Dies sollte die Wahl einer gefügigen Gewerkschaftsführung gewährleisten, die die jahrzehntelange Zusammenarbeit der UAW-Bürokratie mit den Unternehmen fortsetzen, die Interessen der Basis unterdrücken und die Unternehmensgewinne weiter steigern würde.
Die Entscheidung des Arbeitsministeriums, die Beschwerde von Lehman abzulehnen, ohne auch nur die Gründe dafür zu erläutern, spricht Bände über die Behauptungen der Regierung Biden, die „Demokratie“ in den USA, der Ukraine oder anderswo zu verteidigen. Wenn es um die demokratischen Rechte von Arbeitern geht, hat das gesamte politische Establishment nichts als Verachtung für diese übrig.
Organisationen wie die Democratic Socialists of America (DSA) und Labor Notes behaupten ihrerseits fälschlicherweise, sie würden für „Demokratie in den Gewerkschaften“ kämpfen. Sie haben jedoch eine entscheidende Rolle dabei gespielt, die Entmündigung der einfachen Mitglieder zu vertuschen, und sie haben während des gesamten Wahlkampfs ein schuldbewusstes Schweigen zu Lehmans Bemühungen um eine faire Abstimmung gewahrt. Diese Kräfte der oberen Mittelschicht sprechen für die Funktionärsbürokratie, stellen zunehmend ihr Führungspersonal und agieren als Teil der Demokratischen Partei.
Eindringlich heißt es in der Klageschrift:
Diese Wahl war durch eine völlige Missachtung der Rechte von einfachen Arbeitern wie Will Lehman seitens aller Institutionen gekennzeichnet, die an der Durchführung und Überwachung der Wahl beteiligt waren. Das grundlegendste Recht von über einer Million Arbeitern und Rentnern - das Wahlrecht - wurde als etwas völlig Unwichtiges behandelt.
In Reaktion auf die Einreichung der Klage sagte Lehman der World Socialist Web Site: „Diese Klage ist allen 1,1 Millionen Mitgliedern gewidmet, unabhängig davon, wen sie gewählt haben oder ob sie wussten, dass es überhaupt eine Wahl gab.“ Er fuhr fort: „Angesichts der überwältigenden Beweise für die Wählerunterdrückung und die Einmischung der UAW in die Wahlen ist die Weigerung der Regierung Biden, auf meine Beschwerde zu reagieren, ein Schlag ins Gesicht aller Arbeiter, wo sie auch seien. Diese Wahl war ein Betrug, und die Führung, die dadurch an die Macht gekommen ist, wird als illegitim angesehen, wenn die Wahl nicht so wiederholt wird, dass alle davon erfahren.“
In Anbetracht der Tatsache, dass Lehmans Klage im November letzten Jahres abgewiesen wurde, als noch Zeit war, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, dürfen Arbeiter sich nicht der Illusion hingeben, dass das Gericht zum Schutz ihrer Rechte handeln werde. Das Hauptanliegen des gesamten politischen Establishments ist es, die verrottende UAW-Bürokratie zu stützen, die jetzt von dem altgedienten Funktionär Shawn Fain geleitet wird.
Das Ziel dieser Verschwörung zwischen Unternehmen und Regierung ist es, den Autoarbeitern und der gesamten Arbeiterklasse mit den Tarifverträgen der Big Three unter den amerikanischen Autoherstellern im September einen vernichtenden Schlag zu versetzen. 178.000 US-amerikanische und kanadische Autoarbeiter sind von den Tarifabschlüssen betroffen. Fain hat sich bereits als eine ebensolche Marionette der Konzerne wie Curry entpuppt, indem er den Streik bei Clarios isolierte und einen Ausverkauf des Kampfs durch Abschluss eines schlechten Tarifvertrags durchsetzte. Er weigerte sich auch, irgendetwas zum Schutz der Arbeiter zu unternehmen, die zur Weiterarbeit gezwungen waren, als kanadische Waldbrände die Atemluft am Produktionsstandort vergifteten.
Lehman kandidiert als Gegenentwurf, für die Macht der Basis, für die Abschaffung des Gewerkschaftsapparats und den Aufbau eines Netzes von Aktionskomitees, die von den Arbeitern selbst kontrolliert werden. Dies ist die Grundvoraussetzung für einen echten Kampf gegen die Konzerne und gegen die herrschenden Eliten. Die Notwendigkeit einer solchen Bewegung zeigt sich in der Art und Weise, wie die Wahl durchgeführt wurde, nämlich durch die systematische Entmündigung der Arbeiter durch die Gewerkschaftsbürokratie, die Biden-Regierung und die Anwaltskanzleien der Unternehmen, die den Arbeiter ihre Rechte nehmen.