Diplomatische Krise in der EU wegen des Streits zwischen Italien und Frankreich um 230 Flüchtlinge

Am Freitagmorgen durften 230 Flüchtlinge, die von der Ocean Viking, dem Rettungsschiff der Organisation SOS Méditerranée, gerettet worden waren, im südfranzösischen Toulon an Land gehen. Das Schiff durfte nur anlegen, weil sich der Gesundheitszustand der Passagiere rapide verschlechtert hatte. Unter den Geretteten befanden sich 55 Kinder, die seit über drei Wochen auf See waren. Es war die längste Blockade, seitdem SOS Méditerranée im Jahr 2015 mit der Rettung von Flüchtlingen begonnen hat.

Das Rettungsschiff Ocean Viking beim Einfahren in die Marinebasis Toulon, 11. November 2022 [AP Photo/Daniel Cole]

Das Schiff lief in Frankreich ein, nachdem die italienische Regierung ihm völkerrechtswidrig das Anlegen verweigert hatte. Das Vorgehen der Meloni-Regierung hat zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen Frankreich und Italien geführt, die beide Mitglieder der EU und der Nato sind. Diese Entwicklung ließ die Illusion der Einigkeit der Europäischen Union angesichts der Wirtschaftskrise und des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine platzen.

Laut SOS Méditerranée hat die Ocean Viking zwischen dem 22. und 26. Oktober bei sechs Einsätzen 234 Menschen gerettet. Dem Schiff wurde rechtswidrig das Einlaufen in mehrere europäische Häfen verweigert, und am 10. November befanden sich die Passagiere in sehr schlechtem Gesundheitszustand. Am Morgen des 10. November wurden drei schwerkranke Passagiere und ein Angehöriger per Hubschrauber nach Bastia evakuiert. In den frühen Morgenstunden des 11. November wurden die restlichen 230 nach Toulon gebracht.

Derzeit wird drei weiteren Rettungsschiffen von SOS Méditerranée mit etwa 270 geretteten Flüchtlingen noch immer jede Anlegeerlaubnis in Italien oder Frankreich verweigert.

Nach der Evakuierung der Ocean Viking erklärte der Direktor von SOS Méditerranée, Xavier Lauth, die Situation sei das Ergebnis eines „dramatischen Versagens aller europäischen Staaten, die in beispielloser Weise gegen das Seerecht verstoßen“.

Während des dreiwöchigen Martyriums der Ocean Viking hat das Schiff 43 Anträge auf Anlegeerlaubnis an die italienische Regierung geschickt, die allesamt völkerrechtswidrig zurückgewiesen wurden. Dass auch die französische Regierung vor Freitagmorgen die Erlaubnis zum sofortigen Anlegen verweigert hat, war ein Verstoß gegen das Seerecht. Paris tut dies auch weiterhin mit den anderen im Mittelmeer fest sitzenden Rettungsschiffen.

Zwischen Rom und Paris ist eine schwere diplomatische Krise ausgebrochen, da beide gegen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verstoßen und versucht haben, den jeweils anderen zur Aufnahme der Flüchtlinge zu zwingen. Die französische Regierung hat ihre Teilnahme an den EU-Flüchtlingsabkommen ausgesetzt.

Der französische Innenminister Gérald Darmanin erklärte als Reaktion auf das Vorgehen der italienischen Regierung: „Dass sich Italien außerhalb der europäischen Solidarität und seiner Verpflichtungen stellt, wird äußerst schwerwiegende Folgen für die bilateralen Beziehungen haben.“ Die französische Regierung hat sich von einem Abkommen zurückgezogen, bis Sommer 2023 3.500 Flüchtlinge aus Italien aufzunehmen, und hat die Grenzkontrollen nach Italien verstärkt.

Meloni bezeichnete die Reaktion Frankreichs als „aggressiv“ und „ungerechtfertigt“ und stellte das Anlegen des Schiffs in Frankreich gegenüber ihrer rechtsextremen Wählerschaft als großen Sieg dar. Am Samstag bekräftigte die Meloni-Regierung ihre Haltung und veröffentlichte zusammen mit Griechenland, Malta und Zypern eine Erklärung, in der sie zu einer Diskussion über die Neufassung der bestehenden EU-Flüchtlingsabkommen aufrief, um die Zahl der von ihnen aufzunehmenden Flüchtlinge zu verringern.

In Italien erklärte der stellvertretende Ministerpräsident und Sekretär der neofaschistischen Lega Nord, Matteo Salvini, erfreut, die Politik seiner Regierung zeige, dass „der Wind sich gedreht hat“.

In Frankreich erklärte die rechtsextreme Führerin Marine Le Pen: „Unser Land hat dank der Stimme seines Regierungschefs nachgegeben. Deshalb ist das meiner Meinung nach der Beginn einer ganzen Reihe von NGO-Schiffen.“

In Wirklichkeit weigert sich die französische Regierung ebenso wie ihre EU-Verbündeten weiterhin, Hunderte von Flüchtlingen aufzunehmen, die sich derzeit auf Rettungsbooten in Seenot befinden, während die EU-Politik der Festung Europa jeden Monat Dutzende von Menschenleben fordert.

Paris betrachtet Melonis Vorgehen als schweren Affront gegen Macron. Dabei hatte sich dieser beeilt, die rechtsextreme Ministerpräsidentin schon einen Tag nach ihrer Amtsübernahme zu treffen und ihr zu gratulieren. Im Versuch, Roms anhaltende Unterstützung für den Krieg gegen Russland in der Ukraine sicherzustellen, hat Macron damit die politischen Erben von Benito Mussolini legitimiert.

Melonis Regierung hat auch das EU-Abkommen über die Verteilung von Flüchtlingen verletzt, das Italien im Sommer unterzeichnet hatte. In Brüssel hat dies zu Besorgnis hinsichtlich ihres Engagements für die EU und ihrer Unterstützung für den Krieg in der Ukraine geführt.

Die gegenseitigen diplomatischen Schuldzuweisungen in Folge des Skandals um die Ocean Viking haben die Fassade europaweiter Einigkeit inmitten der wachsenden Wirtschaftskrise und ihrer Kriegspolitik in der Ukraine zerstört. Die französische Tageszeitung Le Monde veröffentlichte am Samstag einen Leitartikel, in dem sie den Vorfall als „europäische Katastrophe“ bezeichnete. Sie warnte, das Thema Zuwanderung und die Reaktion rechtsextremer Parteien auf dem ganzen Kontinenten „bedrohen die Zukunft der [Europäischen] Union selbst“.

In den letzten Jahren haben die Feindseligkeiten zwischen Frankreich und Italien deutlich zugenommen, vor allem, als beide Länder verfeindete Fraktionen im libyschen Bürgerkrieg unterstützen, der mit dem Krieg im Jahr 2011 begann. Im Jahr 2019 hatte Frankreich nach einer Reihe von politischen Auseinandersetzungen seinen Botschafter aus Italien abgezogen. Drei Jahre später signalisiert der einseitige Bruch von EU-Abkommen durch die Meloni-Regierung eine weitere Verschärfung der interimperialistischen Rivalitäten innerhalb der EU.

Die Regierung Macron versuchte zynisch, ihre Anlegeerlaubnis für das Schiff als Beweis für ihre „humanitäre“ Anteilnahme im Gegensatz zu Melonis Missachtung von Menschenleben hinzustellen. Regierungssprecher Olivier Véran erklärte am Sonntagmorgen gegenüber BFM-TV heuchlerisch: „Unsere Reaktion war humanitär ... Frankreich wäre nicht Frankreich, wenn es nicht so gehandelt hätte.“

Tatsächlich hat Macron der Ocean Viking nur deshalb eine Anlegeerlaubnis erteilt, um die Empörung der Bevölkerung darüber zu vermeiden, dass 234 gerettete Flüchtlinge nur einen Steinwurf vor der französischen Küste entfernt auf illegale Weise umkommen. Macron setzt die einwanderungsfeindliche EU-Politik der Festung Europa fort, die während seiner Präsidentschaft schon Tausende von Toten gefordert hat.

Laut SOS Méditerranée sind seit Beginn ihrer Tätigkeit im Jahr 2015 mehr als 20.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, allein 1.337 seit Beginn des Jahres 2022.

Zudem müssen Asylsuchende, die Frankreich erreichen, unter Macron entsetzliche Bedingungen ertragen. Tausende leben in Zeltlagern am Rande der Großstädte ohne angemessenen Zugang zu Hygieneeinrichtungen und Nahrungsmitteln. Im Jahr 2020 wurde die französische Regierung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der „unmenschlichen und entwürdigenden Lebensbedingungen“ von Asylsuchenden verurteilt, die „mittellos auf der Straße leben“.

Diesem Kurs entspricht, dass Macron in letzter Minute ein juristisches Schlupfloch genutzt hat, um den Flüchtlingen an Bord der Ocean Viking ihre Rechte abzusprechen. In den Stunden vor dem Anlegen des Schiffs wurden zwei Landstriche in Toulon und dem nahegelegenen Hyères willkürlich zu „internationalen Wartezonen“ erklärt.

Darmanin erklärte: „Die Überlebenden werden sich daher technisch gesehen nicht auf französischem Boden befinden.“ Diese juristische Schikane bedeutet, dass diese Flüchtlinge in Frankreich kein Asyl beantragen und ohne juristische Einspruchsmöglichkeiten abgeschoben werden können. Laut Darmanin hat sich Frankreich nur bereit erklärt, 80 der Passagiere aufzunehmen; die restlichen sollen in elf andere EU-Staaten geschickt werden.

Die europäische herrschende Klasse schürt als Reaktion auf die Krise des Kapitalismus bewusst Nationalismus, Militarismus und Hass auf Immigranten, um ihre Macht zu erhalten. Dadurch gewinnt der Neofaschismus im politischen Leben Europas an Bedeutung und führt zu offenen Spaltungen in der EU.

Diese werden sich in der nahen Zukunft verstärken, da die Erderwärmung und die Kriege in der Ukraine und anderen Teilen der Welt die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen weltweit verschlimmern und die Zahl der Flüchtlinge erhöhen, die die gefährliche Reise nach Europa wagen.

Die Kraft, die zur Verteidigung der Flüchtlinge mobilisiert werden kann, ist die europäische Arbeiterklasse. Angesichts der Energiekrise und der rasanten Inflation in Europa sind die reaktionären EU-Regierungen darin vereint, ethnischen Hass gegen Flüchtlinge zu schüren. Solange die mörderische Politik der Festung Europa in Kraft ist, werden weiterhin jedes Jahr Tausende von Männern, Frauen und Kinder auf der Flucht vor Armut und Krieg im Mittelmeer ertrinken.

Loading