Die Biografie von Hans-Christian Ströbele, der am 29. August nach langer Krankheit im Alter von 83 Jahren starb, gibt einen tiefen Einblick in die Evolution der Grünen von ihren Ursprüngen in der 68er Protestbewegung bis zu ihrer heutigen Rolle als führende deutsche Kriegspartei.
Ströbele, der als junger Anwalt verfolgte Studenten und Mitglieder der RAF gegen eine gnadenlose Justiz verteidigte, war Gründungsmitglied der Grünen und der ihnen nahestehenden Tageszeitung taz. Er vertrat die Partei 21 Jahre lang im Bundestag und hielt ihr bis zu seinem Tod die Treue. Im letzten Interview, das er am 15. Mai dieses Jahres dem Spiegel gab, antwortete er auf die Frage, „Für welche Partei säßen Sie denn heute im Bundestag?“: „Ich würde natürlich bei den Grünen sitzen.“
Ströbele erfüllte bei den Grünen eine ganz besondere Funktion. Wann immer die Partei weiter nach rechts rückte, Auslandsmissionen der Bundeswehr beschloss oder neue Kriegseinsätze forderte, spielte er den Parteirebellen. Er stimmte im Bundestag mehrmals gegen die eigene Fraktion und griff den grünen Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer (1998-2005) publikumswirksam an. Als ihm die Partei 2002 einen aussichtsreichen Listenplatz verweigerte, kandidierte er in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg als Direktkandidat und gewann mit dem Slogan „Ströbele wählen heißt Fischer quälen!“ als erster Grüner ein Bundestagsdirektmandat, das er in den drei darauffolgenden Wahlen verteidigte.
Die Nachrufe, die in praktisch allen deutschen Medien erschienen, bezeichnen Ströbele deshalb als „Symbolfigur des linken Flügels der Grünen“, der „radikal“, „beharrlich“ und „unbestechlich“ an seinen „Prinzipien“ festgehalten habe. „Integer, bis in die Haarspitzen“, lobt ihn die taz, „Einer, der seinem Gewissen folgte“, die Tagesschau. Die Neue Ruhr Zeitung bezeichnet ihn als „Das linke Gewissen der Grünen“.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) betrauerte Ströbele als streitbaren Politiker, der die politische Debatte über Jahrzehnte mitgeprägt und sich bemüht habe, die Gesellschaft zu verändern. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey lobte ihn als Vorkämpfer rot-grüner Koalitionen. Die Linken-Vorsitzende Janine Wissler charakterisierte Ströbele als „klug und integer, gradlinig und aufrichtig“. Er sei „eine laute und mahnende Stimme gegen Krieg, Aufrüstung und eine ungerechte Welt“ gewesen, die sehr fehlen werde.
Die CDU-Politikerin Julia Klöckner zollte ihm „Respekt und Anerkennung“, auch wenn sie vieles inhaltlich anders sehe. Selbst AfD-Chef Tino Chrupalla bescheinigte ihm, er habe mal falsch, mal aber auch richtig gelegen.
So viel Lob ist verdächtig. Wäre Ströbele wirklich prinzipientreu, gradlinig und konsequent gewesen, würde er heute nicht gelobt, sondern als unverbesserlicher Starrkopf beschimpft. Die Partei, die er Ende der 1970er Jahre mitgründete und die er bis zum Ende seines Lebens aktiv unterstützte, hat alle Grundsätze, die sie einst in ihr Gründungsprogramm geschrieben hatte – Umweltschutz, Pazifismus, Demokratie und soziale Gerechtigkeit – in ihr Gegenteil verkehrt.
Ströbele stellte sich dieser Entwicklung nicht entgegen, sondern sorgte dafür, dass sie reibungslos über die Bühne ging. Sein gelegentlicher Protest diente nicht dazu, die rechte Politik zu verhindern, sondern den Widerstand dagegen aufzufangen, zu neutralisieren und den grünen Parteiführern und Ministern zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn es nach heftigem Streit zur Entscheidung kam, sorgte Ströbele stets dafür, dass die Parteiführung die Mehrheit bekam. Er diente ihr als linkes Feigenblatt und Sicherheitsventil.
Das Manöver, mit dem er der Regierung Schröder/Fischer am 16. November 2001 eine Mehrheit für die deutsche Teilnahme an der Operation „Enduring Freedom“ sicherte, fasst seine Rolle zusammen. Ströbele und sieben weitere Grünen-Angeordnete hatten sich anfangs gegen die Beteiligung am Afghanistankrieg und an George W. Bushs „Krieg gegen den Terrorismus“ ausgesprochen. Um der rot-grünen Bundesregierung trotzdem eine Mehrheit zu sichern, vereinbarten sie ein Stimmensplitting. Vier stimmten mit Ja, vier – darunter Ströbele – mit Nein. Sechs Wochen später votierte dann auch Ströbele für die ISAF-Mission, einen weiteren Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr.
Das Ergebnis ist bekannt. 20 Jahre Afghanistankrieg haben Hunderttausende Todesopfer gefordert, darunter 53 Bundeswehrsoldaten, und das Land sozial und wirtschaftlich verwüstet. In der Bundeswehr haben sich verzweigte, rechtsradikale Netzwerke gebildet. Ströbele, der dies voraussah, hätte den Kriegsbeschluss verhindern können, doch er entschloss sich bewusst, es nicht zu tun.
Dieser Modus Operandi zieht sich durch Ströbeles gesamte Laufbahn. Bereits auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen am 13. Mai 1999 in Bielefeld, die unter heftigen Tumulten die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg absegnete, hatte Ströbele einen alternativen Antrag eingebracht, um die Opposition gegen den Krieg zu entschärfen. Er lehnte den von Außenminister Joschka Fischer inspirierten Hauptantrag nicht grundsätzlich ab, sondern kritisierte nur ein taktisches Detail: Statt für eine befristete sprach er sich für eine unbefristete Feuerpause aus.
„Die ‚oppositionellen‘ Delegierten ereiferten sich wortreich über Dinge, die sie gar nicht entscheiden konnten,“ kommentierte die WSWS damals, „während sie das, was sie unmittelbar vor Ort tatsächlich hätten unternehmen können, wenn es ihnen wirklich um ein Ende des Krieges gegangen wäre – der SPD die Gefolgschaft aufkündigen, den Ausschluss der verantwortlichen Regierungsmitglieder beantragen und zu Massendemonstrationen gegen den Krieg aufrufen – tunlichst unterließen.“
An diesem Muster hielt Ströbele Zeit seines Lebens fest. Noch in seinem letzten Interview mit dem Spiegel unterstützte er den Stellvertreterkrieg, den die Nato in der Ukraine gegen Russland führt. Seine einzige Kritik an der grünen Außenministerin Annalena Baerbock, die auf der ganzen Welt für eine Eskalation des Kriegs wirbt, betraf das Kaliber der zu liefernden Waffen.
„Abweichend von der urgrünen Programmatik bin ich nach einigem Zögern zum Schluss gekommen: Es ist richtig, der Ukraine Waffen zu liefern,“ sagte Ströbele dem Nachrichtenmagazin. „Aber ich bin … strikt dagegen, schwere Waffen wie Panzer zu liefern.“ Auch die massive Aufrüstung der Bundeswehr befürwortete Ströbele: „Natürlich braucht die Bundeswehr Geld.“ Er sei nur „gegen diese pauschale Schuldenmache von 100 Milliarden“.
Ströbele hat die Rechtsentwicklung der Grünen zu keinem Zeitpunkt aufgehalten oder auch nur gebremst. Im Gegenteil, wenn es um Regierungsbeteiligungen der Grünen ging, zählte er zu den treibenden Kräften. Er war der Architekt der ersten Koalition, die die Grünen (die sich damals noch Alternative Liste nannten) 1989 mit der rechtslastigen SPD in Berlin bildeten.
Er saß während der gesamten sieben Jahre für die Grünen im Bundestag, in denen SPD und Grüne erstmals die Bundesregierung bildeten, die ersten internationalen Kriegseinsätze der Bundeswehr organisierten, mit der Agenda 2010 eine umfassende soziale Konterrevolution in Gang setzten und Polizei und Geheimdienste aufrüsteten. 2017 zog er sich krankheitsbedingt aus dem Bundestag zurück, aber es steht außer Zweifel, dass er auch die derzeitige Ampel-Koalition befürwortete.
Ströbeles politische Entwicklung verlief, ungeachtet seines Rufs als linker Rebell, letztlich entlang derselben Linien wie die der grünen Partei als ganzer. Sie beweist, dass die Rolle eines Politikers oder einer Partei nicht von abstrakten Prinzipien und guten Absichten bestimmt wird, sondern von den Klasseinteressen, die sie vertreten.
Die 68er Studenten rebellierten gegen die verkrusteten Strukturen in Lehre, Staat und Gesellschaft, das unbewältigte Erbe der Nazi-Diktatur, den Vietnamkrieg und vieles mehr. Doch gegenüber der Arbeiterklasse hegten sie Misstrauen und Feindschaft. Beeinflusst von den Theorien der Frankfurter Schule betrachteten sie die Arbeiterklasse als reaktionäre Masse, dominiert von „Konsumterror“ und der Propaganda der Bild-Zeitung. Ihre Perspektive konzentrierte sich, ungeachtet der teilweise radikalen Phraseologie, auf eine Reform der bürgerlichen Gesellschaft – und vor allem auf den eigenen Aufstieg darin.
Als die Grünen Ende der 1970er Jahre gegründet wurden, war die antikapitalistische Rhetorik der 68er aus ihrem Programm verschwunden. Stattdessen konzentrierten sie sich auf Umweltschutz, Pazifismus und beschränkte soziale Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft.
Der Börsenboom der 90er Jahre riss die soziale Schicht, auf die sie sich stützen, mit nach oben. Die Grünen wurden zur Partei der wohlhabenden Mittelschicht, die von der sozialen Polarisierung der vergangenen Jahrzehnte profitiert hat und ihr Schicksal untrennbar mit dem des deutschen Imperialismus und der Unterdrückung des Klassenkampfs verbindet.
Hans-Christian Ströbele hat sich, so weit dies bekannt ist, wenig an den ideologischen Debatten der 68er beteiligt. Er war, anders als viele führende Vertreter der ersten Grünen-Generation, auch nicht Mitglied einer maoistischen Organisation. Er fand den Weg zu den 68ern und den Grünen über seinen Beruf als Rechtsanwalt.
1939 in Halle in eine bürgerliche Familie geboren – der Vater leitete die Buna-Werke in Schkopau und war NSDAP-Mitglied –, hatte er die Schrecken des Krieges als Sechsjähriger noch miterlebt. Nach Abitur und Wehrdienst, wo er Kameraden gegen die Willkür von Vorgesetzten verteidigte, legte er 1969 sein zweites Staatsexamen als Jurist ab.
Bereits 1967 war Ströbele als Referendar in der Anwaltskanzlei von Horst Mahler tätig, mit dem er 1969 das Sozialistische Anwaltskollektiv gründete, das Aktivisten der 68er Bewegung juristische Hilfe leistete. Mahler schloss sich 1970 der RAF an und ging in den Untergrund. Als er kurz danach verhaftet wurde, übernahm Ströbele gemeinsam mit Otto Schily seine Verteidigung. Mahler wurde zu 14 Jahren verurteilt, die er zu zwei Dritteln absitzen musste.
Als 1972 die Führungsspitze der RAF verhaftet wurde, engagierten sich Ströbele und Schily auch in deren Verteidigung. Dabei bewies Ströbele ohne Zweifel Standhaftigkeit und Mut. Die Rücksichtslosigkeit und Rachsucht, mit der der Staat und rechte Medien die RAF und ihre Anwälte verfolgten und elementare Rechtsgrundsätze über den Haufen warfen, war atemberaubend.
1975 wurde Ströbele zwei Wochen vor Beginn des Stammheim-Prozesses gegen die RAF vom Verfahren ausgeschlossen, was eine reguläre Verteidigung praktisch unmöglich machte. Weil er Informationen zwischen den streng isolierten Angeklagten ausgetauscht hatte, was für eine wirkungsvolle Verteidigung unerlässlich war, wurde er vorübergehend in Untersuchungshaft gesperrt, mit Protesten und Berufsverbotsverfahren überzogen und wegen „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, die später auf 10 Monate reduziert wurden.
Auch später tat sich Ströbele als Anwalt vom Staat Verfolgter hervor. Der Strafverteidiger Johannes Eisenberg, der länger mit Ströbele zusammenarbeitete, bescheinigt ihm auf LTO.de: „Er war am Ende der letzte und heute wohl prominenteste Angehörige der Generation von Verteidigern, die aus der 68er Studentenbewegung hervorgegangen sind und die Verteidigung aus dem Dunkelfeld der Kooperation zwischen Anwälten, Staatsanwälten und Richtern gegen die Angeklagten, die es seit der Zeit des Nationalsozialismus gab, befreit haben.“
Doch Ströbeles politische Perspektive ging nie über die eines bürgerlichen Demokraten hinaus. Sein Ziel war nicht die Überwindung der kapitalistischen Herrschaft, sondern ihre Verbesserung. Mit der Verschärfung der Klassegegensätze trieb ihn dies immer weiter nach rechts.
Als Abgeordneter der rot-grünen Koalition unterstützte er seinen alten Anwaltskollegen Otto Schily, der die Grünen mit gegründet hatte, später zur SPD wechselte und nun als Innenminister der Regierung Schröder/Fischer einen strikten Law-and-Order-Kurs verfolgte und einen Polizeistaat aufbaute.
Ströbele selbst übernahm zwar nie ein Regierungsamt, saß aber als Bundestagsabgeordneter in fünf Untersuchungsausschüssen, die sich mit Sicherheitsfragen befassten – der Rolle des BND im Irakkrieg, illegalen Verschleppungen durch die CIA, dem NSU-Terror und dem NSA-Abhörskandal. Zahlreiche Informationen, die diese Ausschüsse erhielten, unterlagen der Geheimhaltung. Viele geheime Dokumente durften sie überhaupt nicht sehen. Sie dienten so weniger der Aufklärung, als der Vertuschung.
Auch hier spielte Ströbele die Rolle des unverzichtbaren Feigenblattes. Er machte gelegentlich durch spektakuläre Aktionen – wie einen Besuch beim NSA-Whistleblower Edward Snowden in Moskau – auf sich aufmerksam. Doch er enttäuschte das in ihn gesetzte Vertrauen nie und hielt sich strikt an die Geheimhaltungspflicht.
Für die grüne Partei, die er nach seinem Tod hinterlässt – eine Partei des Militarismus, der inneren Aufrüstung und des Sozialabbaus – trägt Ströbele volle Verantwortung. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, die Grünen auf diesen Kurs zu bringen.