Als die Grüne Annalena Baerbock im Dezember das Amt der Außenministerin übernahm, versprach sie eine „wertegeleitete“ deutsche Außenpolitik. Sie sollte „feministisch“, „menschenrechtskonform“ und „klimaorientiert“ sein. Inzwischen kennt man die Halbwertszeit grüner „Werte“. Sie beträgt weniger als zwei Monate.
Anfang Februar erschien Baerbock in Kampfmontur zum Fototermin an der Donbass-Front, wo sich ukrainische Soldaten und pro-russische Separatisten gegenüberstanden. Der martialische Auftritt bestärkte den russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Überzeugung, dass er von der Nato keine Sicherheitsgarantien für sein Land erwarten könne, was ihn schließlich zur Entscheidung bewog, die Ukraine militärisch anzugreifen.
Kaum hatte der Krieg begonnen, verkündete die Bundesregierung mit voller Unterstützung der Grünen das größte Aufrüstungsprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Militärhaushalt wird in diesem Jahr um 100 auf 150 Milliarden Euro aufgestockt. Auch das Waffenexportverbot in Kriegsgebiete, das die Grünen in ihrem Wahlprogramm noch feierlich beschworen hatten, hob die Bundesregierung auf. Sie überschwemmt die Ukraine mit tödlichen Waffen, was den Krieg verlängert und blutiger gestaltet.
Am 18. März erläuterte Baerbock dann in einer ausführlichen Rede die Grundzüge einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie, die die Ampelkoalition unter Federführung des Außenministeriums ausarbeitet.
Eingebettet in Phrasen über „Freiheit“, „Sehnsucht nach Sicherheit“ und die „Zukunft unserer Kinder“ entwickelte sie ein Orwellsches Szenario, das selbst Kalte Krieger aus den 1960er Jahren erblassen lässt. Es verwischt die Grenze zwischen äußerer und innerer Sicherheit und stellt neben der Bundeswehr, die zur stärksten Armee Europas aufgerüstet wird, auch die Wissenschaft, die Umweltpolitik und die Wirtschaft in den Dienst der Sicherheit.
Sicherheitspolitik sei „mehr als Militär plus Diplomatie“, betonte Baerbock. „Wenn Investitionen in Infrastruktur, wenn Handelspolitik Teil unserer Sicherheit sind, dann heißt das auch: Entscheidungen über Sicherheit werden eben nicht nur im Auswärtigen Amt oder im Verteidigungsministerium getroffen, sondern auch in Unternehmen, in Kommunen und in Universitäten.“
Baerbock legte ein klares Bekenntnis zur Nato ab und plädierte für die Stärkung ihres „europäischen Pfeilers“, für ihre „Präsenz in den Ländern Südosteuropas“ und für eine „glaubhafte nukleare Abschreckung“. Um diese sicherzustellen habe sich die Bundesregierung für die Beschaffung des Kampfflugzeugs F-35 entschieden. Auch für den Ausbau der „europäischen Verteidigungsindustrie“ sprach sie sich aus. Deutschland ist schon jetzt der viertgrößte Waffenexporteur der Welt.
Waren die Grünen früher für Abrüstung und Rüstungskontrolle eingetreten, erklärte Baerbock nun: „Wir müssen Abrüstung und Rüstungskontrolle komplementär zu Abschreckung und Verteidigung denken. Das heißt Wehrhaftigkeit im Bündnis. Das ist entscheidend für unsere Handlungsfähigkeit. Für mich beschreibt Wehrhaftigkeit sowohl die Fähigkeit, als auch den Willen, sich zu verteidigen. … Ich bin überzeugt, unsere Wehrhaftigkeit entscheidet unsere Sicherheit.“
Die Bundeswehr müsse in der Lage sein, in unmittelbarer Nachbarschaft und weltweit zu kämpfen, erklärte Baerbock. In der Vergangenheit habe die strategische Frage gelautet: „Verteidigen wir unsere Sicherheit fern von hier am Hindukusch oder anderen Orten? Oder verteidigen wir unsere Sicherheit direkt vor unserer Haustür?“ Die Erfahrung habe gezeigt: „Es ist nicht entweder oder. Fern oder nah.“ Es sei „klar, dass die Einsätze unserer Soldatinnen und Soldaten nicht mehr automatisch tausende Kilometer entfernt von Flensburg oder Freiburg sein werden. Trotzdem bleiben auch diese Einsätze wichtig.“
Baerbock setzte sich dafür ein, die im Grundgesetz verankerte Trennung von Militär und Polizei aufzuheben. In den letzten Jahren seien „in einer digitalisierten Welt die Bedrohungen von innen und von außen komplett“ verschwommen. „Wir haben Trennlinien auch bei uns in unserer Verfassung stehen. Da müssen wir uns ehrlich fragen: wie gehen wir mit diesen alten Trennlinien in Zukunft um?“
In einem kaum verhüllten Aufruf zur Internet-Zensur legte Baerbock großes Gewicht auf den Cyber-Raum, der „sicherlich die größte Herausforderung“ sein werde. Cyber und hybride Kriegsführung seien „ein zentraler Teil einer modernen Kriegsführung“. Die Bedrohungen zeigten: „Wir brauchen nicht nur starke Cyber-Abwehrfähigkeiten, sondern ein Teil unserer Arbeit an der nationalen Sicherheitsstrategie wird sich auch mit den Kompetenzen zwischen Bundeswehr und nationalen Sicherheitsbehörden, zwischen Bund und Ländern beschäftigen müssen.“
Auch die Umweltpolitik stellte Baerbock in den Dienst deutscher und europäischer Großmachtinteressen: „Klar ist: Weg von den fossilen Brennstoffen und schneller hin zu erneuerbaren und effizienten Energien. Das sind nicht nur Investitionen in saubere Energie, sondern das sind Investitionen in unsere Sicherheit und damit in unsere Freiheit.“
Neben Russland benannte Baerbock als wichtigsten Gegner China, dem es nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika und im indopazifischen Raum entgegenzutreten gelte. Die chinesische „Belt and Road“-Initiative zeige, „dass Investitionen gerade in Infrastruktur sicherheitsrelevant sind“. Man könne nur „eigenständig agieren, wenn man nicht komplett abhängig von anderen ist. … Und deswegen werden wir in den nächsten Monaten nicht nur eine neue Sicherheitsstrategie erarbeiten, sondern auch eine neue China-Strategie.“
Baerbock machte auch kein Geheimnis daraus, dass ihre Sicherheitsstrategie imperialistischen Zielen dient und die Profitinteressen der deutschen Wirtschaft im Blick hat. Handelspolitik, Infrastrukturpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, „das gehört alles zusammen“, sagte sie. „Denn Verwundbarkeit im 21. Jahrhundert, das kann eben auch sein, wenn autoritäre Staaten [gemeint war offenbar China] Milliarden von Euro in europäische Autobahnen, Straßen, Stromnetze und Häfen investieren.“
Eine „wertegeleitete Außenpolitik“ bedeute, „gleichzeitig Werte und Interessen – auch wirtschaftliche Interessen – zu verteidigen. Weil das eine mit dem anderen ganz eng zusammenhängt. … Wenn wir uns im Kräftemessen des 21. Jahrhunderts global behaupten wollen, dann müssen wir alle unsere Instrumente auf die Höhe der Zeit bringen – militärisch, politisch, analog, digital, technologisch. Wir müssen ein umfassendes Verständnis von Sicherheit haben, ohne dabei total unscharf zu werden.“
Habeck in Katar
Robert Habeck beeilte sich, die neuen außenpolitischen Werte der Grünen in die Praxis umzusetzen. Anfang dieser Woche reiste der grüne Vizekanzler und Wirtschaftsminister in Begleitung von 22 Wirtschaftsbossen – darunter den Chefs von Thyssenkrupp, Bayer und Siemens Energy – nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate. Mit der Begründung, Deutschland müsse sich von „Putins mit Blut beflecktem Gas und Öl“ unabhängig machen, warf er sich dort vor den Autokraten der Golfregion in den Sand.
Die Menschenrechtsbilanz der Emirate ist gut dokumentiert. In den zehn Jahren seit der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2022 an Katar sind dort laut Amnesty International 15.000 Bauarbeiter ums Leben gekommen. Das sind, wie der Tagesspiegel ausrechnete, „mindestens 234 Menschenleben pro WM-Spiel“.
Die zwei Millionen Arbeitsmigranten aus Indien, Bangladesch, Nepal und Pakistan, die in Katar zu Hungerlöhnen ausgebeutet werden, haben keine Rechte. Sie dürfen sich weder gewerkschaftlich organisieren, noch die Firma wechseln. Sie arbeiten in brütender Hitze zwölf Stunden am Tag und erhalten oft monatelang keinen Lohn. 70 Prozent der Todesfälle werden nicht aufgeklärt. Die Familien, die ihren Haupternährer verlieren, erhalten oft keine Nachricht, geschweige denn eine Entschädigung.
Journalisten, die in Katar arbeiten, müssen unterschreiben, keine unautorisierten Informationen zu verbreiten und nicht illegal Nachrichten zu beschaffen. Wenn sie recherchieren, werden sie manchmal tagelang festgehalten.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten ist die Lage nicht besser. Sie sind – neben Saudi-Arabien und Katar – führend am Jemen-Krieg beteiligt. Sie bombardieren das Land regelmäßig, setzen Bodentruppen und gekaufte Söldner aus Lateinamerika ein und begehen zahlreiche Kriegsverbrechen. Der Krieg wird von den USA und den europäischen Mächten unterstützt. Er hat laut UN-Angaben bisher rund 300.000 Todesopfer gefordert, darunter zahlreiche Zivilisten und Kinder, und eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. 80 Prozent der 30 Millionen Jemeniten sind auf humanitäre Hilfe von außen angewiesen.
All das hinderte Habeck nicht daran, sich ehrfürchtig vor seinen Gastgebern zu verneigen und mit ihnen eine enge Zusammenarbeit zu vereinbaren. Nach seinem Gespräch mit dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, schwärmte er, der Tag habe „eine starke Dynamik bekommen“. Die Unterstützung des Emirs sei über die Maßen stark gewesen. Es sei „großartigerweise“ fest vereinbart worden, eine langfristige Energiepartnerschaft einzugehen.
Diese beschränkt sich nicht auf den Ersatz russischer Gaslieferungen durch katarisches Flüssiggas (LNG). Man einigte sich auch auf eine enge Zusammenarbeit bei der Erforschung und Produktion von „grünem“ Wasserstoff, der mit Hilfe von Solaranlagen erzeugt und nach Deutschland exportiert werden soll.
Die „wertegeleitete Außenpolitik“ der Grünen stört sich offenbar nicht an blutigen Händen, solange die Besitzer dieser Hände deutschen Wirtschaftsinteressen dienen. Man sollte die Bilder von Baerbock in Kampfmontur und von Habecks Kniefall in Katar an die Fassade der Grünen-Zentrale in Berlin hängen. Sie sagen mehr über die Politik der Partei aus als tausend Programme.
Die Medien bejubeln die „Realpolitik“ der Grünen. „Steht der programmatische Kern der Grünen vor seiner Schmelze? Ist die Regierungsbeteiligung ein Schnellwaschgang für Weltbeglückungspläne, der mit einem Schleudertrauma bezahlt werden muss?“, fragt der Deutschland-Blog der Neuen Zürcher Zeitung und stellt befriedigt fest: „Wer in der Politik Werte vertreten will, muss zunächst Interessen formulieren.“ Diese „harte Lektion“ müssten die Grünen nun „dauerhaft verinnerlichen“.
Der Tagesspiegel kommentiert: „Der Krieg erzwingt in vielen Bereichen eine Neubewertung und verändert die Prioritäten. Das wirkt verstörend. Und hat doch auch sein Gutes.“ Lange nicht hinterfragte Überzeugungen würden einem Realitätstest unterzogen und, was sich nicht bewähre, aussortiert.
Moral und Klassenkampf
Baerbock begründet die neue Orientierung der Grünen damit, dass der Ukrainekrieg alles verändert habe: „Das hätte sich wahrscheinlich niemand von uns jemals vorstellen können. Wir erleben einen brutalen Angriffskrieg zehn Autostunden von hier, mitten in Europa. Real, nah, furchtbar.“
Welch ein Unsinn! Als die Grünen zum ersten Mal in der Bundesregierung saßen, beteiligten sie sich an der Bombardierung Belgrads, das nur acht Autostunden von Deutschland entfernt liegt und bereits von den Nazis bombardiert worden war. Das war ebenfalls „real, nah, furchtbar“ – nur dass die Grünen damals auf der Seite der Angreifer standen.
Seither haben die Grünen fast alle Kriege der Nato unterstützt, die Millionen von Opfern forderten. 2011 griffen sie die damalige Bundesregierung von rechts an, weil sie sich nicht an der Bombardierung und der Zerstörung Libyens beteiligte.
2014 spielte die grüne Heinrich-Böll-Stiftung eine maßgebliche Rolle bei dem Putsch, der den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch stürzte und den Keim für den heutigen Krieg legte. Dabei hatte sie keine Berührungsängste gegenüber den faschistischen Milizen, die Janukowytsch schließlich vertrieben.
Leo Trotzki, der führende Marxist seiner Zeit, schrieb am Vorabend des Zweiten Weltkriegs einen vernichtenden Essay über kleinbürgerliche Moralisten, die im Namen abstrakter Werte und zeitloser moralischer Grundsätze die reaktionärste Politik unterstützen.
„Und wer sind alle diese demokratischen Moralisten?“ fragte er. „Ideologen der Zwischenschichten, die zwischen die beiden Feuer geraten sind, oder sich vor diesem Schicksal fürchten. Verständnislosigkeit gegenüber den großen historischen Bewegungen, eine verhärtete konservative Mentalität, selbstzufriedene Beschränktheit und primitivste politische Feigheit zeichnen die Propheten dieses Typus aus.“
Es gebe keine Moral, die über den Klassen stehe, betonte Trotzki. Wer nicht zur Religion zurückkehren wolle, müsse einsehen, „dass die Moral ein Produkt der historischen Entwicklung ist, dass es in ihr nichts Unveränderliches gibt, dass sie sozialen Interessen dient, dass diese Interessen widerspruchsvoll sind, dass die Moral mehr als irgendeine andere ideologische Form Klassencharakter trägt“.
Die Moral und die Werte der Grünen widerspiegeln die Interessen wohlhabender Mittelschichten, die in den vergangenen dreißig Jahren von der verschärften Ausbeutung der Arbeiterklasse profitiert haben. Der Krieg führt auch zu einer Verschärfung des Klassenkampfs. Darauf reagieren die Grünen mit einem scharfen Ruck nach rechts und einer entsprechenden Umschichtung ihre moralischen Werte.
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Leo Trotzki, „Ihre Moral und unsere“ (1938), in „Fragen des Alltagslebens“, Mehring Verlag, S. 214/220