Drei Wochen nach Beginn des Ukrainekriegs gehen alle Seiten immer höhere Risiken ein. Das bisher Undenkbare, ein nuklearer Schlagabtausch in Europa, wird offen in Erwägung gezogen und als Drohkulisse aufgebaut. Stimmen der Vorsicht, der Zurückhaltung und der Vernunft sind weitgehend verstummt. Doch trotz der sich abzeichnenden Katastrophe ist die Nato zu keinem Kompromiss bereit.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte bereits am Tag vor dem Einmarsch in die Ukraine in einer Fernsehansprache gedroht: „Wer auch immer versuchen sollte, uns in die Quere zu kommen und damit weitere Bedrohungen für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands unverzüglich kommen und zu Folgen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nicht kennengelernt haben. Alle erforderlichen Beschlüsse sind gefasst. Ich hoffe, dass Sie meine Worte hören.“
Das war ein unverhohlener Hinweis auf das russische Atomwaffenarsenal, das laut Angaben des Bulletin of Atomic Scientists aus mehr als 6000 Sprengköpfen besteht, von denen nach Erkenntnissen der Nato 900 unmittelbar einsatzfähig sind.
Doch anstatt zu deeskalieren, goss die Nato Öl ins Feuer. Sie lehnte Putins Wunsch nach Sicherheitsgarantien kategorisch ab, was dieser – nach Jahrzehnten der Nato-Osterweiterung, umfangreichen Nato-Manövern entlang der russischen Grenze und deren Einmischung in der Ukraine und Georgien – als existenzielle Bedrohung verstehen musste.
Seit Kriegsbeginn tut die Nato alles, um Putin die Möglichkeit zum Rückzug abzuschneiden. Das reicht von den drakonischen Wirtschaftssanktionen bis zur Drohung, ihn vor ein internationales Tribunal zu schleppen. Den Krieg führt die Nato nur dem Namen nach nicht selbst. Sie überschwemmt die Ukraine mit Hightech-Waffen, konzentriert eigene Truppen an der Grenze und greift immer direkter in das Kriegsgeschehen ein.
Vor offenen Kriegshandlungen gegen Russland ist sie bisher noch zurückgeschreckt. Am 11. März beteuerte US-Präsident Joe Biden auf Twitter zwar, man werde „jeden Zentimeter des Nato-Gebiets mit der ganzen Kraft einer vereinten und vereinigten Nato verteidigen“. Aber einen Kriegseintritt in der Ukraine lehnte er mit der Begründung ab: „Eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland wäre der Dritte Weltkrieg. Und den müssen wir unbedingt verhindern wollen.“
Doch auch diese Hürde fällt rasch. Der ukrainische Präsidenten Selenskyi, mehrere osteuropäische Regierungschefs sowie führende Politiker in Europa und den USA fordern mit Nachdruck die Errichtung einer Flugverbotszone, was dem offiziellen Kriegseintritt der Nato gleichkäme.
Besonders heftig erhebt Thomas Enders, bis 2019 Vorstandschef von Airbus und seither Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), diese Forderung. „Die Einrichtung einer solchen Flugverbotszone über der Westukraine ist nicht nur machbar, sondern notwendig,“ schreibt er einem Gastbeitrag für Politico. „Es ist an der Zeit, dass der Westen Putins nukleare Drohungen als das entlarvt, was sie wirklich sind – ein Bluff, um westliche Regierungen von einer militärischen Intervention abzuhalten.“
Und was, wenn Putins nukleare Drohungen kein Bluff sind? Wenn er sie wahr macht, weil er mit dem Rücken zur Wand steht? Kaliningrad liegt nur 530 Kilometer von Berlin entfernt. Die dort stationierten, nuklearfähigen Mittelstreckenraketen brauchen viereinhalb Minuten um die deutsche Hauptstadt mit ihren knapp vier Millionen Einwohnern zu erreichen. Und dazwischen liegen Warschau und zahlreiche andere Städte.
Enders spielt russisches Roulette mit Atomwaffen. Er riskiert die nukleare Vernichtung Europas und großer Teile der Welt. Wofür? Damit die bitterarme Ukraine Mitglied der Europäischen Union und der Nato werden kann? Wohl kaum!
Er spricht für eine herrschende Klasse, die angesichts der unlösbaren Widersprüche des kapitalistischen Systems die Beherrschung verloren hat und wieder nach Eroberungen und Diktatur strebt; die den Krieg in der Ukraine als Chance sieht, das größte Aufrüstungsprogramm seit Hitler zu verwirklichen.
Er spricht für eine herrschende Klasse, die allein in Deutschland jeden Tag 250 Leben einer Pandemie opfert, die – wie China zeigt – beherrschbar ist, und trotz Rekordinfektionen alle Corona-Schutzmaßnahmen aufhebt; die die soziale Ungleichheit auf die Spitze treibt und ihr überschuldetes Finanzsystem nur noch aufrecht erhalten kann, indem sie der Arbeiterklasse den Krieg erklärt.
Enders selbst, der mit Airbus den größten Rüstungskonzern Europas leitete, hatte sich bereits vor drei Jahren für eine „eine offene, unideologische, strategische Debatte“ über eine Militär- und Großmachtpolitik Deutschlands ausgesprochen, das er mit einem Vegetarier in einer „Welt voller Fleischfresser“ verglich.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Vor zwei Jahren forderte er in der Zeit: „Wir müssen über Atomwaffen reden.“ Die Zeit sei „reif für einen mutigen Schritt hinein in eine neue europäische Sicherheitsarchitektur“, schrieb er. Zu ihr gehöre „ein eigener Atomschirm“. Wenn Europa wieder „die Sprache der Macht“ erlerne, „um nicht zwischen den alten und neuen Großmächten zerrieben zu werden“, müsse es auch wieder „Militärmacht werden“. Der „Aufbau einer schlagkräftigen Europäischen Verteidigungsunion“ sei „ohne nukleares backing schlechterdings nicht vorstellbar“.
Diesen militaristischen Zielen dient auch der Ukrainekrieg. Die ukrainische Bevölkerung, die die Hauptlast des Krieges trägt, dient lediglich als Figur auf dem Schachbrett imperialistischer Machtpolitik. Ihr wird es ergehen, wie den Irakern, Afghanen und Libyern, die in Chaos und Elend versanken, nachdem sie von den USA und ihren Nato-Verbündeten „befreit“ worden waren.
Die katastrophalen Folgen der Auflösung der Sowjetunion vor dreißig Jahren werden nun in vollem Umfang sichtbar. Der frühere stalinistische Geheimdienstagent Putin gehörte damals zu jenen, die den Raubzug der Oligarchen unterstützten, von kommendem Reichtum träumten und den Begriff „Imperialismus“ für eine Erfindung Lenins – oder noch schlimmer: Trotzkis – hielten.
Diese hatten darauf beharrt, dass Kriege unvermeidlich sind, solange der Kapitalismus nicht von der Arbeiterklasse gestürzt wird. Der Zweite Weltkrieg, schrieb Trotzki 1940, „folgt unerbittlich aus den Widersprüchen der internationalen kapitalistischen Interessen. Entgegen den offiziellen Fabeln, die das Volk einlullen sollen, ist die Hauptursache des Krieges, wie aller andern sozialen Übel – Arbeitslosigkeit, hohe Lebenskosten. Faschismus, koloniale Unterdrückung – das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der bürgerliche Staat, der darauf beruht.“
Nun nutzen die imperialistischen Mächte Putins reaktionären Krieg gegen die Ukraine, um Russland wirtschaftlich zu erdrosseln, auch wenn sie dabei den Untergang der Menschheit riskieren. Sie konfiszieren sogar die Jachten der russischen Oligarchen, deren hemmungslose Bereicherung sie einst als „Sieg der Freiheit“ bejubelt hatten. Die Oligarchen erhalten die Jachten selbstverständlich zurück, wenn sie sich gegen Putin wenden. Die ukrainischen Oligarchen dürfen ihre Boote behalten, schließlich kreuzen auch Jeff Bezos, Bill Gates und Elon Musk auf 500-Millionen-Dollar-Jachten durch die Weltmeere.
Die Kriegsgefahr kann nur mit den Mitteln des Klassenkampfs gestoppt werden. Die Arbeiterklasse, die die Kosten von Krieg, Sanktionen, Pandemie und Finanzkrise zu tragen hat und unweigerlich in Konflikt mit dem bankrotten kapitalistischen System gerät, muss sich international zusammenschließen und für ein sozialistisches Programm kämpfen.