Das polnische Verfassungsgericht hat am 7. Oktober beschlossen, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) kein Recht hat, Entscheidungen über die polnische Justiz zu treffen. Es hat damit dem nationalen polnischen Recht faktischen Vorrang vor dem europäischen Recht eingeräumt.
Der Richterspruch, der mit zehn zu zwei Stimmen fiel, hat die politische Krise in der EU und auch innerhalb Polens weiter verschärft. Viele Beobachter interpretieren das Urteil, das auf Antrag der rechtsnationalen PiS-Regierung zustande kam, als Schritt in Richtung „Polexit“, auch wenn die Regierung selbst leugnet, einen Austritt Polens aus der EU anzustreben. In der EU werden seit dem Urteil Forderungen laut, Polen die umfangreichen EU-Subventionen zu kürzen.
Konkret ging es bei dem Verfahren darum, ob Bestimmungen aus den EU-Verträgen, die der EU-Kommission ein Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit einräumen, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind.
Die EU kritisiert seit längerem, dass die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) seit ihrer Regierungsübernahme 2015 das polnische Justizwesen und insbesondere das Verfassungsgericht systematisch ihren politischen Interessen unterordnet und das Prinzip der Gewaltenteilung aushöhlt. Das Verfassungsgericht wird inzwischen fast vollständig von der PiS dominiert. Die Vorsitzende Richterin Julia Przyłębska gilt als PiS-hörig und enge Vertraute von PiS-Chef Jarosław Kaczyński.
Am 2. März dieses Jahres gelangte der EuGH zum Schluss, dass die umstrittene Justizreform der PiS-Regierung teilweise gegen EU-Recht verstoßen könnte. Er stellte fest, dass EU-Recht über einzelnen Vorschriften im nationalen Recht und Verfassungsrecht steht und dass er Polen daher zwingen könnte, Teile der umstrittenen Justizreform aufzuheben.
Dagegen erhob die PiS-Regierung Einspruch. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki persönlich rief das polnische Verfassungsgericht an, um die Entscheidung des EuGHs zu überprüfen. Dieses hat ihm nun Recht gegeben und die Autorität des EuGHs offen in Frage gestellt.
Justizminister Zbigniew Ziobro feierte das Urteil mit unverhohlen nationalistischen Tönen. Es sei eine „sehr wichtige Entscheidung“ in einer Situation, in der Brüssel und Berlin Polen „wie eine Quasi-Kolonie behandeln“.
Die polnische Opposition um die liberale Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO), die auf eine stärkere Zusammenarbeit Warschaus mit der EU und insbesondere mit Berlin setzt, organisierte am Sonntag Proteste gegen das Urteil des Verfassungsgerichts. Donald Tusk, der wichtigste Führer der PO, war bis 2019 fünf Jahre lang Präsident des Europäischen Rates und stand im Ruf, Bundeskanzlerin Angela Merkel politisch nahe zu stehen.
Laut Medienberichten nahmen Zehntausende an den Protesten in der Hauptstadt Warschau teil. Auch in anderen Städten fanden Proteste statt. Die Teilnehmerzahl blieb aber insgesamt deutlich hinter den Massenprotesten gegen das Abtreibungsgesetz im letzten Jahr zurück.
Die Demonstrationen speisten sich vornehmlich aus jenen Mittelschichten, die von der EU-Integration Polens wirtschaftlich profitieren und die soziale Basis der PO ausmachen. Auch der einstige Solidarność-Führer Lech Wałęsa, der eine zentrale Rolle bei der Wiedereinführung des Kapitalismus in Polen spielte, unterstützte die Proteste.
Besonders scharf wandte sich die Financial Times, das Sprachrohr des britischen und europäischen Finanzkapitals, gegen die Gerichtsentscheidung. Die Zeitung bezeichnete das Urteil als „größere Herausforderung für die Einheit der EU als der Brexit“. Es sei „ein direkter Angriff auf die rechtliche Ordnung der EU, den Zement, der die EU zusammenhält“. Weiter schrieb die Zeitung, es sei „bedauerlich“, dass die EU keinen Mechanismus habe, um Mitglieder wie Polen „auszuschließen“. Der einzige Weg sei daher, Polen massiv EU-Gelder zu streichen.
Als größter Nettoempfänger erhält Polen jährlich rund 12 Milliarden Euro aus dem EU-Budget. Die EU-Kommission prüft derzeit, ob die 36 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU für Polen gestrichen werden können. Bisher hält sie diese Gelder zurück. Der frühere polnische Außenminister Witold Waszczykowski hat öffentlich gedroht, dass Polen in diesem Falle eine ebenso große Summe seiner EU-Beiträge streichen würde.
Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin und ehemalige deutsche Verteidigungsministerin, erklärte, sie sei „zutiefst besorgt“ über das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts. „EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich verfassungsrechtlicher Bestimmungen,“ betonte sie. „Wir werden alle Befugnisse nutzen, die wir unter den Verträgen haben, um dies sicherzustellen.“
Dennoch kritisieren zahlreiche Medien und EU-Abgeordnete von der Leyen, die dank der Stimmen Polens und Ungarns zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde, sie bleibe weitgehend untätig. Einige EU-Abgeordnete haben sogar eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission auf den Weg gebracht, um ein schnelleres Vorgehen gegen Polen zu erzwingen.
Der Konflikt zwischen der EU und Polen muss vor dem Hintergrund der tiefen Krise des europäischen Kapitalismus, den wachsenden Spannungen mit den USA und den Kriegsvorbereitungen gegen Russland und China verstanden werden.
Berlin hat sich bisher nicht nur deshalb relativ zurückgehalten, weil die PiS von der Leyens Wahl unterstützte. Deutsche Unternehmen gehören zu den wichtigsten Nutznießern der massiven EU-Subventionen für Polen. Laut einem Bericht der WirtschaftsWoche schließen immer mehr deutsche Unternehmen ihre Standorte in Deutschland und verlagern die Produktion nach Polen, wo sie sowohl von den EU-Subventionen als auch den extremen niedrigen Löhnen gut ausgebildeter polnischer Arbeiter profitieren. Zu den 5800 Unternehmen mit Tochterkonzernen in Polen gehören unter anderem Lufthansa und Siemens.
Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Polen und Deutschland wächst seit Jahren kontinuierlich. Deutschland ist für Polen mit je rund 28 Prozent der mit Abstand wichtigste Export- wie Import-Handelspartner. Seit 1990 hat das deutsche Kapital rund 40 Milliarden Euro im Nachbarland investiert.
Der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Oliver Hermes, warnt vor einer Einschränkung der EU-Zahlungen an Polen oder auch an Ungarn. „Verzögerungen bei der Zuteilung von EU-Mitteln treffen auch die deutschen Unternehmen in Polen und Ungarn, denn EU-kofinanzierte Investitionen sind seit 2004 ein maßgeblicher Wachstumstreiber.“
Auch geopolitisch ist Polen von entscheidender Bedeutung. Es spielt eine Schlüsselrolle beim Ausbau des Transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN), da alle direkten Landverbindungen in die drei baltischen EU-Staaten, in die Ukraine oder nach Russland durch Polen verlaufen.
Die polnische Regierung, die aus der Restauration des Kapitalismus hervorgegangen ist, spielt eine Schlüsselrolle bei den Kriegsvorbereitungen der Nato gegen Russland. Zuletzt stand sie im Zentrum von Nato-Manövern wie „Defender-Europe 20“.
Seit 1989 hat sich die polnische Bourgeoisie vor allem auf ein militärisches Bündnis mit den USA orientiert. Im Gegensatz zur früheren PO-Regierung hat die Regierung der PiS von einer engeren militärischen Zusammenarbeit mit Deutschland Abstand genommen. Stattdessen bemüht sie sich um den Aufbau einer Allianz von osteuropäischen Staaten nach dem Vorbild des Intermariums, die sich sowohl gegen Russland als auch Deutschland richtet.
Unter Donald Trump hat Washington diese Politik offen unterstützt. Der wachsende Fokus der Biden-Administration auf Kriegsvorbereitungen gegen China und ihre Bemühungen, den Konflikt mit Russland zumindest vorübergehend etwas zu dämpfen, könnten nun diese Orientierung Warschaus untergraben.
Gleichzeitig gibt es in Deutschland Diskussionen, ob das „Intermarium“ nicht auch im eigenen Interesse genutzt werden könnte. So plädierte ein Strategiepapier der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik dafür, dass Berlin trotz des polnischen Widerstands gegen eine Aufnahme Deutschlands „eine Politik der interessierten und wohlwollenden Involvierung verfolgen“ solle, um sich „in der Region auch als geoökonomischer Akteur neben den USA sowie China und Russland zu positionieren“.
Die Konflikte innerhalb der polnischen Bourgeoisie, die Auseinandersetzung zwischen der EU und Polen und die wachsende Kriegsgefahr sind letztlich das Ergebnis der Verschärfung internationaler Konflikte und Klassenspannungen durch die Coronavirus-Pandemie.
Wie in anderen Ländern Osteuropas hat die Pandemie in Polen vor allem als Folge der katastrophalen Folgen der kapitalistischen Restauration vor 30 Jahren besonders viele Todesopfer gefordert und die politische Krise der PiS-Regierung verschärft, die inzwischen von mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung abgelehnt wird. Mit ihrem aggressiven nationalistischen Kurs versucht die PiS nicht zuletzt, von den wachsenden Protesten und Streiks im Inneren abzulenken.
Die Arbeiterklasse muss – und auf der Grundlage des Kampfes für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa – ihre eigene Antwort auf die Krise des europäischen und weltweiten Kapitalismus formulieren, unabhängig von allen Fraktionen der herrschenden Klasse.