Polen: Massenproteste gegen Abtreibungsgesetz entwickeln sich zum Aufstand gegen Regierung

Die Proteste gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung in Polen haben sich in der vergangenen Woche weiter verschärft und entwickeln sich zu einem Aufstand gegen die Regierung.

Laut Umfragen unterstützen fast zwei Drittel der Bevölkerung die Proteste. Drei Viertel lehnen die Entscheidung des Verfassungsgerichts ab, das schon bisher restriktive Recht auf Abtreibung praktisch völlig außer Kraft zu setzen.

Jeden Tag finden neue Protestaktionen statt. Am Mittwoch gingen laut Polizeiangaben im ganzen Land 430.000 zu einem „Generalstreik der Frauen“ auf die Straße. Darüber, wie viele tatsächlich der Arbeit fernblieben, gibt es keine verlässliche Zahlen. Tagsüber beteiligten sich offenbar vor allem Schüler und Studenten an den Demonstrationen. Es kam aber immer wieder zu spontanen Solidarisierungsbekundungen. Mancherorts waren sogar Protestparolen auf den Anzeigetafeln der öffentlichen Verkehrsbetriebe zu sehen. Vielerorts wurde der Straßenverkehr blockiert. Im Laufe des Nachmittags wuchsen die Proteste dann immer weiter an.

Die herrschende Klasse Polens reagiert mit Gewalt und Repression auf die Proteste. Besonders hervor tut sich dabei der neue Bildungsminister Przemysław Czarnek (PiS). Er war bereits bei seiner Ernennung am 19. Oktober mit Protesten von Schülern konfrontiert, die besseren Schutz vor dem Corona-Virus forderten, Proteste, die nun nahtlos in die breitere Bewegung übergangen sind.

Czarnek hat allen Schulen und Universitäten mit Mittelkürzungen gedroht, die es Schülern und Studenten ermöglichen, an den Protesten teilzunehmen. Unter anderen hatten die Rektoren der Universitäten Breslau und Danzig dafür Lehrveranstaltungen abgesagt. Die katholische Universität Lublin hat dagegen Studenten gedroht und auf ihrer Facebook-Seite Beiträge zensiert, die sich für die Proteste aussprachen.

Der neue Bildungsminister führt einen regelrechten Kreuzzug gegen die Protestteilnehmer. Er drohte, Frauen dürften nicht von „Neomarxisten und Feministen“ von ihrer gottgewollten Rolle als Hausfrau und Mutter abgebracht werden. Die Demonstrationsteilnehmer bezeichnete der Minister als „linksradikale Revolutionärinnen“, die teils „satanistische“ Parolen riefen und für die es in Polen „keinen Platz geben“ könne.

Czarnek hat angekündigt, „alle Lehrbücher, vor allem in Polnisch, Geschichte und Gesellschaftskunde“, auf ihren polnisch-patriotisch Inhalt überprüfen lassen. Sein Angriff auf den angeblichen „Schuldkult im Unterricht“ zeigt, in welche geschichtsrevisionistische und faschistische Richtung diese Neuausrichtung der Lehrbücher gehen soll. Als Woiwode (Chef der Bezirksverwaltung) von Lublin hatte Czarnek offen mit der faschistischen ONR (Nationalradikales Lager) paktiert.

Die ONR hat am 27. Oktober eine neue Initiative zur Gründung von paramilitärischen Verbänden verkündet. Diese „Nationalen Brigaden“ sollen die „polnische Gesellschaft, religiöse Stätten und patriotische Veranstaltungen vor militanten Angriffen und Provokationen durch Neomarxisten, eine Verkörperung des Bolschewismus“, schützen. Ganz offen kündigen diese ein „systematisches Training in Kampfkunst, Kraftsport, Schießen und anderen Disziplinen“ an.

Auch wenn die ONR selbst es bestreitet, geht diese Initiative auf die Erklärung des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński vom selben Tag zurück. Die graue Eminenz der PiS bezeichnet darin die Demonstranten als Verbrecher und erklärt es zur Bürgerpflicht, sich gegen sie zu wehren.

„Wir müssen uns wehren“, sagte Kaczyński. „Wir müssen die polnischen Kirchen verteidigen. Um jeden Preis. Ich rufe alle Mitglieder der Partei Recht und Gerechtigkeit und unsere Unterstützer auf, die Kirchen zu verteidigen.“ Das Wertesystem der Kirche sei das einzige moralische System, das die Polen kennen.

Über 130.000 ablehnende Reaktionen auf der Facebook-Präsenz der PiS zeigen die enorme Verachtung, auf die seine Erklärung stößt. Fast 50.000 User stimmten einem Kommentar zu, der „den Diktator“ und seine Regierung zum Rücktritt auffordert.

Kaczyński trug bei der Ansprache die „Kotwica“, das Zeichen des polnischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg. Er bedient damit das rechtsextreme Narrativ, das die Maßnahmen der PiS in eine historische Linie mit dem polnischen Kampf gegen Nationalsozialismus und Kommunismus setzt. Auch der staatliche Sender TVP-Info, der von der PiS gleichgeschaltet wurde, beschimpfte die Demonstranten als „linker Faschismus auf dem Vormarsch“.

Vielfach wurde Kaczyńskis Rede wegen ihrer kalten, stoischen Art mit der Ansprache verglichen, mit der General Jaruzelski 1981 die Einführung des Kriegsrechts verkündete. Schon damals waren Staat und Kirche eng verbandelt, und das sind sie auch heute. Der Sprecher der polnischen Bischofskonferenz Leszek Gęsiak hat die Teilnahme an den Protesten gegen Abtreibung zur Sünde erklärt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei auch Tadeusz Rydzyk. Der Ordenspriester und Gründer des Senders Radio Maryja ist für seine antisemitischen und klerikalfaschistischen Standpunkte berüchtigt. Sein Sender, der seit Jahren die Politik der PiS unterstützt, verurteilte die Proteste als „satanische Aggressionen“.

Die ONR und die Allpolnische Jugend sind dem Aufruf Kaczyńskis gefolgt. Sie haben ihre „politischen Soldaten“ vor Kirchen im ganzen Land postiert und sind gegen Demonstranten vorgegangen. Am Mittwoch kam es in Breslau den ganzen Abend hindurch zu Angriffen von rechtsextremen Schlägern aus der Hooligan Szene auf Demonstranten. Nach übereinstimmenden Berichten von Demonstranten schritt die Polizei meist nicht gegen die faschistischen Schläger ein.

Auch zwei Journalisten von Wyborcza wurden angegriffen und verletzt. Wyborzca berichtete kurz darauf, dass der vorübergehend festgenommene Schläger auf Initiative von Justizminister Zbigniew Ziobro, der auch Generalstaatsanwaltschaft ist, freigelassen und der Haftbefehl widerrufen wurde. Es ist nicht das erste Mal, dass der Staat seine schützende Hand über rechtsextreme Schläger hält, wie Wyborzca bemerkt.

Typisch für die reaktionäre Hetze, die die Verteidiger der PiS in den Medien verbreiten, ist auch eine Erklärung des stellvertretenden Leiters des Verteidigungsministeriums, Marcin Ociepa. Er fragte, wie es sein könne, dass sehr junge, minderjährige Mädchen sehr aggressiv auf die Straße gehen. „Ich denke, hier stimmt etwas nicht. Ich denke, es lohnt sich, dieses Phänomen zu untersuchen. Jemand steckt dahinter.“ Die Sprache und die Andeutung von Verschwörungen dubioser Hintermänner bedienen offensichtlich Antisemitismus.

Am Freitag erreichten die Proteste einen neuen Höhepunkt. Allein in Warschau beteiligten sich mindestens Hunderttausend und weitere Hunderttausend im ganzen Land. Während die riesige Menschenmenge friedlich bleib, kam es erneut zu massiven Angriffen rechtsextremer Gruppen.

Wie auf Videoaufnahmen zu sehen ist, kennzeichneten sich die Faschisten dabei mit weißen Armbinden, ein Erkennungszeichen, dessen sich vor hundert Jahren rechtsextreme Paramilitärs wie die Freikorps bedienten. Die Polizei blieb weitestgehend untätig oder war gar nicht vor Ort, da sie jeweils mit Großaufgeboten gemeinsam mit der Militärpolizei Regierungsgebäude, Kirchen oder Kaczynskis Wohnsitz bewachte.

Die Demonstranten haben nicht nur die PiS und die rechtsextremen Verbände zum Gegner. Das zeigt ein Interview des früheren Präsidenten des Verfassungsgerichts, Andrzej Rzepliński. Er verurteilte die Demonstranten als Mob und Rowdys und erklärte, sie ekelten ihn an. Rzepliński war mit der Mehrheit der jetzigen Opposition, der Bürgerplattform (PO) ins Amt gewählt worden. Viele Kommentare verweisen darauf, dass die reaktionäre Abtreibungsgesetzgebung, der sogenannte Kompromiss von 1993, das Werk aller Parteien war und auch während der mehrjährigen Regierungszeit der PO nicht liberalisiert wurde.

Trotzdem schüren die Anführerinnen von „Frauenstreik“, wie Marta Lempart, und der gesamte Linksblock Illusionen in die Rolle der PO. Die Linkspartei Razem und die 2019 gegründete Wiosna (Frühling) stehen zwar nominell links von der PO, vertreten jedoch jenseits ihrer radikalen Phrasen kein unabhängiges Programm, das einen Ausweg aus dem Abwärtsstrudel des bankrotten kapitalistischen Systems zeigen würde.

Die Ablösung der PiS-Regierung durch eine PO-geführte Regierung würde kein Problem der polnischen Arbeiterklasse lösen. Die enge Verflechtung von katholischer Kirche, faschistischen Milizen, Staat, Medien und Parteien, die alle aus dem Sumpf der kapitalistischen Restauration der 1990er Jahre entstanden sind, verschwindet nicht durch einen Regierungswechsel.

Die PiS ist überhaupt erst zur Macht gelangt, weil sie die Unzufriedenheit über die rechte Politik der PO und vorher der sozialdemokratischen PSL ausnutzen konnte. Um die Proteste an diese diskreditierte und unglaubwürdige Opposition zu binden, wurde am Sonntag ein „beratender Rat“ in Warschau gebildet. Dieses Gremium orientiert sich an der Opposition im benachbarten Belarus und soll ausdrücklich die Erfahrungen der „demokratischen Opposition aus der Zeit der polnischen Volksrepublik“ nutzen – d.h. der politischen Kräfte, aus denen sowohl die PiS wie die PO hervorgegangen sind.

In die gleiche Richtung ging ein Appel des Vorsitzenden des polnischen Senats, Tomasz Grodzki, von der PO. Er ermahnte die Regierung in der Wyborzca dringend, Gespräche mit der parlamentarischen und nichtparlamentarischen Opposition aufzunehmen.

Auch auf die eskalierende Corona-Krise haben die Oppositionsparteien keine Antwort, die der Dringlichkeit der Lage gerecht wird. Am Donnerstag überstiegen die Neuinfektionen in Polen erstmals die Marke von 20.000, zuletzt lagen sie über 21.800. Angesichts der Dynamik ist ein Zusammenbruch des ohnehin maroden polnischen Gesundheitssystem unvermeidlich, warnen Experten. Der von der Regierung geplante Aufbau von zusätzlichen 10.000 Krankenbetten in Feldlazaretten wird nichts am chronischen Mangel von Personal, Geräten und Material ändern. Bereits am Freitag erreichte die Zahl der Todesopfer mit 298 einen neuen traurigen Tagesrekord.

Die einzige neue Maßnahme, mit der die Regierung auf die exponentiell wachsende Gefahr reagierte, war die Schließung der Friedhöfe vor dem bevorstehenden Feiertag Allerheiligen. Die Opposition regte sich darüber auf und forderte auch die Schließung der Kirchen. Tatsächlich ist nichts davon geeignet, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Wie bereits von den protestierenden Schülern gefordert, müsste der Regelbetrieb in Schulen, Kitas und Universitäten unverzüglich eingestellt werden. Die Wirtschaft müsste auf das unbedingt Notwendige reduziert und umfassende Mittel für das Gesundheitssystem bereitgestellt werden.

Dies würde jedoch die Profite der Konzerne und Reichen gefährden, die weiterhin sprudeln. So startete der Internethändler Allegro vor drei Wochen an der Warschauer Börse mit einem Rekorderlös von zwei Milliarden Euro und wurde auf Anhieb das wertvollste Unternehmen Polens.

Die Furcht der herrschenden Klasse Polens gilt den sozialen Massenprotesten, die die Verschärfung des Abtreibungsrechts einem Funken gleich entzündet hat. Was die Menschen auf die Straße treibt, ist keineswegs nur die Rücknahme des Verbots der Abtreibung. In den Protesten artikuliert sich die gesamte angestaute Wut gegen ein System, an dessen Spitze zwar die PiS steht, dass aber von allen Parteien unterstützt und verteidigt wird. Daher ging auch der Vorstoß für einen Gesetzeskompromiss von Präsident Duda am Freitag vollkommen ins Leere. Mit ihm wären Abtreibungen legal, wenn die Mutter nachweislich eine Totgeburt erleiden würde.

Mittlerweile häufen sich Gerüchte über eine bevorstehende Verhängung des Ausnahmezustands. So zeigte Antoni Podolski, ehemaliger Direktor des Regierungssicherheitszentrums und ehemaliger stellvertretender Innenminister, in der Wyborzca anhand historischer Beispiele drei mögliche Entwicklungswege auf: „Gierek – mit den Demonstranten sprechen und Gewalt aufgeben. Jaruzelski – den Ausnahmezustand einführen und die Proteste mit Gewalt niederschlagen. Und schließlich die Gomulka-Variante – die Führer des Führers, besorgt über seinen fortschreitenden Verlust des Realitätssinns, kommen zum Schluss, dass es Zeit ist, ihn zu ersetzen, um ihre Macht zu retten.“

Um diese Szenarien abzuwenden, die letztlich alle auf die gewaltsame Verteidigung des polnischen Kapitalismus hinauslaufen, muss die Arbeiterklasse ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das erfordert eine klare Perspektive, die die polnischen Arbeiter im Kampf für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft mit der internationalen Arbeiterklasse vereint, und den Aufbau einer polnischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

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