Perspektive

Kamala Harris’ migrantenfeindliche Tour: Identitätspolitik im Dienst des Imperialismus

„Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren...“ (Gedicht von Emma Lazarus, eingraviert in den Sockel der Freiheitsstatue)

„Kommen Sie nicht, kommen Sie nicht ... wenn Sie an unsere Grenze kommen, werden Sie zurückgeschickt.“ (US-Vizepräsidentin Kamala Harris an Migranten, die vor dem Elend und der grassierenden Gewalt in Mittelamerika fliehen)

Kamala Harris unternahm diese Woche ihre erste Auslandsreise seit ihrem Amtsantritt als US-Vizepräsidentin. Ihr dreitägiger Blitzbesuch in Guatemala und Mexiko diente dazu, die dortigen Sicherheitskräfte zu stärken, um den Strom von Migranten aus Mittelamerika gewaltsam zu unterdrücken. Tausende Menschen fliehen vor Armut, Polizei- und Bandenkriminalität in ihren Ländern und wollen zu ihren Familienmitgliedern in den USA.

Die amerikanischen und internationalen Medien haben viel Aufhebens darum gemacht, dass Harris die erste Frau und die erste Amerikanerin afrikanisch-asiatischer Abstammung ist, die Washington bei einem so hochrangigen Staatsbesuch vertritt. Harris, selbst ein Kind von Einwanderern, wurde mit der schmutzigen und in der Tat blutigen Aufgabe betraut, ein gewaltsames Durchgreifen gegen Einwanderung über die Grenzen hinweg zu koordinieren.

Vizepräsidentin Kamala Harris auf einer Pressekonferenz mit dem guatemaltekischen Präsidenten Alejandro Giammattei im Nationalpalast in Guatemala City, 7. Juni 2021 (AP Photo/Oliver de Ros)

Man kann kaum offensichtlicher demonstrieren, welche Rolle die Identitätspolitik bei der Verteidigung der kapitalistischen Ordnung im Innern und der Interessen des Imperialismus im Ausland spielt.

Im Rahmen ihrer Reise betrieb Harris auch etwas Bilanzkosmetik in dieser Richtung, u.a. stellte sie 40 Millionen Dollar für die „Stärkung“ junger Frauen in Aussicht. Dieser Betrag ist jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein für ein Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung als arm gilt und das die sechsthöchste Unterernährungsrate der Welt hat. 70 Prozent der Kinder sind chronisch unterernährt – die höchste Rate weltweit. Das bedeutet, dass jeden Tag Kinder an Unterernährung sterben.

Harris nutzte ihren eintägigen Aufenthalt in Guatemala zu Diskussionen mit dem rechtsextremen Präsidenten Alejandro Giammattei, der mit der Unterstützung der herrschenden Oligarchie und des Militärs an die Macht gekommen ist. Letztes Jahr wurde er beinahe durch Massenproteste gestürzt, bei denen auch das Kongressgebäude in Brand gesetzt wurde. Die Menschen rebellierten gegen die Sparpolitik der Regierung und ihren kriminellen Umgang mit der Pandemie.

Im Verlauf seiner politischen Karriere war Giammattei auch Leiter des staatlichen Gefängnissystems. Während dieser Zeit verübten Sicherheitskräfte im Jahr 2006 ein Massaker an Gefangenen. Er wurde im Zusammenhang mit diesen Morden und den schrecklichen Bedingungen in den Gefängnissen kurzzeitig selbst inhaftiert. Das verbindet ihn offenbar mit Harris: Sie hat als Justizministerin von Kalifornien aggressiv Gerichtsurteile ausgehebelt, laut denen die Bedingungen in den Gefängnissen des Bundesstaats eine „grausame und ungewöhnliche Bestrafung“ darstellen und damit gegen die amerikanische Verfassung verstoßen.

In ihrer öffentlichen Stellungnahme mit Giammattei erklärte sie: „Es gibt eine historische Verbundenheit zwischen uns. Und es ist wichtig, dass wir angesichts der anbrechenden neuen Ära die Bedeutung und Wichtigkeit dieser nachbarschaftlichen Beziehung anerkennen.“

Harris nannte keine Details der „historischen“ Verbundenheit zwischen Guatemala und den USA – aus verständlichen Gründen. Sie gehen bis in das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert zurück und beruhen auf der brutalen Ausbeutung und blutigen Unterdrückung der guatemaltekischen Arbeiter, Bauern und Ureinwohner. Die Wirtschaft des Landes wurde faktisch von der United Fruit Company und anderen US-Banken und Konzernen übernommen, deren Interessen von einer Reihe von Militärdiktaturen durchgesetzt wurden. Arbeiter, die es wagten zu streiken oder zu protestieren, wurden immer wieder massakriert oder hingerichtet.

Im Jahr 1954 organisierte die CIA direkt einen Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsident Jacobo Árbenz, weil dieser eine begrenzte Landreform umgesetzt hatte, in deren Rahmen u.a. ungenutzte Ländereien der United Fruit Company – mit Entschädigung – enteignet wurden.

Auf diesen Putsch folgten drei Jahrzehnte brutaler Militärdiktaturen und ein Krieg gegen die Bevölkerung, der von den USA unterstützt wurde. Etwa 200.000 Aufständische, mehrheitlich indigene Bauern, wurden in einer völkermörderischen Kampagne des Militärs getötet. Die Soldaten wurden von den USA ausgebildet und bis an die Zähne bewaffnet. Das Geld, das Harris für die angebliche „Stärkung“ von Frauen in Aussicht stellt, ist nur ein Bruchteil der Summe, die Washington zur Unterstützung der Massenmörder in den guatemaltekischen Sicherheitskräften zur Verfügung gestellt hat.

Der Nationale Sicherheitsrat der USA erklärte nach dem Putsch gegen Árbenz in einem vertraulichen Memorandum, Washingtons Ziel in der Region sei es, die lateinamerikanischen Länder zu zwingen, „ihre Wirtschaft auf der Grundlage eines Systems des privaten Unternehmertums aufzubauen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, ein politisches und wirtschaftliches Klima zu schaffen, das privaten Investitionen von eigenem und ausländischem Kapital förderlich ist.“

Wie Harris während ihres Besuchs in Guatemala deutlich machte, ist das auch sechs Jahrzehnte später noch immer der Kern der Politik Washingtons in der Region. Der größte Teil der „Hilfe“, die sie anzubieten hatte, um die Lage der Bevölkerung zu verbessern und so den Strom von Immigranten in die USA zu verringern, besteht aus einem Unterstützungspaket für „Unternehmer“ und dem Versprechen von US-Konzernen, in der Region zu investieren, „um wirtschaftliche Chancen und berufliche Ausbildung zu schaffen“ – sofern ihre Bedingungen erfüllt werden. Mit anderen Worten, jede Einschränkung für den Kapitalfluss der US-Konzerne auf der Suche nach billigen Arbeitskräften muss beseitigt werden, während gleichzeitig Mauern errichtet werden, um die Arbeiter in den Grenzen ihrer Länder festzuhalten.

Dies ist von entscheidender Bedeutung für die transnationalen amerikanischen Auto-, Elektronik-, Rüstungs- und sonstigen Konzerne, deren Lieferketten von den US-Fabriken in Mexiko und Mittelamerika abhängig sind. Washington hat darauf gedrängt, diese Betriebe auch in der Pandemie offenzuhalten, was die Regierungen bereitwillig getan haben. Die Folge war eine drastische Zunahme der Infektions- und Todeszahlen.

Am Dienstag betonte Harris in ihren Gesprächen mit dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel Lopez Obrador (AMLO) die gleichen Fragen. In einer Erklärung war davon die Rede, man wolle Mexiko „stärken und attraktiver für ausländische Investitionen“ machen. Auch hier sollen die Grenzen für die Banken und Konzerne geöffnet, gegen die arbeitende Bevölkerung aber militarisiert werden.

Sowohl die angeblich „linke“ Regierung von Lopez Obrador in Mexiko als auch die rechten mittelamerikanischen Regimes agieren als willige Unterstützer von Bidens Krieg gegen Immigranten. Im April kündigte das Weiße Haus die Stationierung von 10.000 Soldaten durch Mexiko, 7.000 Soldaten durch Guatemala und 1.500 Sicherheitskräfte durch Honduras an dessen Nordgrenze an. Diese Streitkräfte sind mit Drohnen und anderem Überwachungsgerät ausgerüstet und werden von US-„Beratern“ unterstützt.

Letzten Monat hatte Mexiko die Abschiebungen forciert, indem Immigranten statt mit Bussen mit einer „Luftbrücke“ aus den Bundesstaaten Tamaulipas und Chihuahua nahe Texas in die honduranische Stadt San Pedro Sula und die südmexikanischen Städte Villahermosa und Tapachula gebracht wurden. Dort befinden sich die größten Hafteinrichtungen für Immigranten, die von Abgeordneten von AMLOs eigener Partei als „Konzentrationslager“ bezeichnet wurden.

An der Grenze zu den USA selbst werden Einwanderer mit drakonischen Mitteln zurückgewiesen. Laut den jüngsten verfügbaren Zahlen wurden im April 111.714 der 178.622 Immigranten, die von der US Border Patrol verhaftet wurden, kurzerhand nach Mexiko abgeschoben. Als Vorwand diente der „Title 42“, eine Verfügung der US-Seuchenschutzbehörde Centers for Disease Control and Prevention, die vorgeblich zur Kontrolle der Pandemie vorgesehen war. Laut Experten für öffentliche Gesundheit hat die Verfügung keinerlei wissenschaftliche Grundlage.

Ein Großteil der Verhafteten wird an einen weit entfernten Abschnitt der Grenze gebracht und, mit nichts als der Kleidung am Leib, zur Rückkehr nach Mexiko gezwungen. Tausende sitzen jetzt in elenden Zeltlagern ohne Zugang zu Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung und sind täglich der Gefahr durch Gewalt und Entführung ausgesetzt.

Beide Parteien des herrschenden Establishments der USA unterstützen diesen eklatanten Verstoß gegen das internationale und US-amerikanische Asylrecht. Die Biden-Regierung setzt damit den Kurs des faschistischen Ex-Präsidenten Donald Trump im Wesentlichen fort.

Die Bedingungen in den Gefängnissen für Immigranten sind weiterhin menschenunwürdig. Einwanderer, darunter auch Kinder, leben in überfüllten Unterkünften, werden extremer Kälte ausgesetzt und erhalten ungenießbare Nahrung. Auch Covid-19 breitet sich stark aus. Das Heimatschutzministerium meldete letzten Monat, es verfolge 2.007 Covid-Fälle unter inhaftierten Immigranten; kaum sieben Prozent von ihnen sind geimpft.

Soviel zu Kamala Harris’ Krokodilstränen über die „gefährliche Reise an die amerikanisch-mexikanische Grenze“. Die größten Gefahren werden von der US-Regierung bewusst geschaffen, um Einwanderung zu verhindern – das gilt unter Biden genauso wie zu Trumps Zeiten.

Die Arbeiter in den USA müssen die Arbeiter in Mexiko, Mittel- und Südamerika verteidigen, die ihr Leben riskieren, um in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Sie fliehen vor den barbarischen Bedingungen, die mehr als ein Jahrhundert Unterdrückung durch den US-Imperialismus geschaffen haben. In vielen Fällen handelt es sich um Kinder oder Eltern, die verzweifelt versuchen, mit ihren Familien zusammenzukommen.

Die Arbeiterklasse in den USA und weltweit wird von den gleichen transnationalen Konzernen in den Kampf getrieben, die inmitten des Massensterbens während der Corona-Pandemie Profite angehäuft haben. Der Erfolg dieser Kämpfe hängt davon ab, dass sich die Arbeiter über nationale Grenzen hinweg zusammenschließen. Dazu müssen sie die Fremdenfeindlichkeit und den Nationalismus bedingungslos zurückweisen, den die kapitalistischen Parteien und die korporatistischen Gewerkschaften verbreiten. Stattdessen müssen sie die demokratischen Rechte der Immigranten verteidigen, damit sie im Land ihrer Wahl leben und arbeiten können.

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