Inmitten der dritten Welle nehmen die sozialen und politischen Spannungen in Griechenland explosiven Charakter an. Obwohl die Pandemie in diesen Tagen eskaliert und die Sieben-Tage-Inzidenz auf über 150 gestiegen ist, setzt die Regierung weitere Öffnungen um. Am Montag wurden Friseure, Nagelstudios, Massagesalons und archäologische Stätten geöffnet, bald sollen auch Cafés, Restaurants und der Tourismus folgen. Das Bildungsministerium will so schnell wie möglich alle Schulen aufmachen.
Zeitgleich herrschen auf den Intensivstationen erneut Kriegszustände. Am Dienstag mussten 699 Patienten beatmet werden – ein Höchststand. Schon jetzt ist in Attika, der Region um Athen, kein Intensivbett mehr frei. Insgesamt sind bereits 7.582 Menschen an dem Virus gestorben und die Zahlen werden in den nächsten Wochen rasant ansteigen. Über Hundert schwerkranke Patienten müssen intubiert werden, während sie noch auf ein Intensivbett warten. Bilder zeigen, wie vor dem größten Athener Krankenhaus „Evangelismos“ am Sonntagabend die Krankenwagen Schlange standen.
Die Neuinfektionen – 3.586 am Dienstag – sind noch nie so hoch gewesen wie jetzt, auch nicht im November, als die große Winterwelle das griechische Gesundheitssystem überwältigte. Trotzdem hat die Regierung die Ausgaben für das Gesundheitsministerium gekürzt, keine neuen Stellen geschaffen und die Privatkliniken nicht beschlagnahmt. Erst diesen Montag wurden wenige Privatärzte für den Einsatz in den öffentlichen Krankenhäusern verpflichtet.
In dieser toxischen Situation zieht ein soziales Gewitter heran, das die herrschende Klasse mit Grauen erfüllt. Die Regierung unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis von der Nea Dimokratia (ND) setzt auf blindwütige Polizeigewalt gegen jede Regung von Widerstand und greift immer stärker auf diktatorische Mittel zurück, um Arbeiter und Jugendliche einzuschüchtern und zu terrorisieren.
Die Szenen und Berichte über Prügel, Folter und Willkür durch die Polizei, die in diesem Monat die sozialen Medien fluteten, belegen einmal mehr, dass demokratische Grundrechte in Griechenland nicht mehr das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Das EU-Land gleicht zunehmend einem Polizeistaat.
Der Ausgangspunkt für die jüngste Orgie der Polizeigewalt waren die Ereignisse im Athener Stadtviertel Nea Smyrni Anfang des Monats. Am Sonntag, den 7. März, spazierten junge Familien über den Platz ihres Viertels, ruhten sich auf einer Parkbank aus und sahen zu, wie ihre Kinder spielten, als plötzlich behelmte Bereitschaftspolizisten der berüchtigten Motorradeinheit DIAS anrückten.
Die Beamten verhängten zunächst Bußstrafen gegen die Eltern, obwohl sie gemäß den strengen Corona-Vorschriften zuvor die nötige SMS mit einem Code verschickt hatten, der es ihnen erlaubt, sich draußen zu bewegen. Statt wirkliche Pandemiebekämpfung durchzusetzen, laufen die hohen Corona-Strafmaßnahmen meist auf Schikanen und ungerechtfertigte Bußgelder gegen die Bevölkerung hinaus.
Als die Betroffenen in Nea Smyrni die Strafe ablehnten und dabei von Passanten unterstützt wurden, holten die Polizisten ihre Schlagstöcke hervor und prügelten ohne jeden Grund auf einen jungen Mann los. Sofort kam Verstärkung, Zeugen berichteten von 50 behelmten Polizisten, die den Platz füllten. Der Mann schrie „Ich habe Schmerzen!“ (Ponao), was später in den Protesten aufgegriffen wurde.
Die schockierende Szene löste Wut und Entsetzen aus. Die Polizei und regierungsnahen Medien versuchten umgehend, den Tathergang zu fälschen und behaupteten, eine große Gruppe von Männern habe die Polizei attackiert. Doch ihre Lügen hielten angesichts der vielen Videobeweise, die auf Twitter umgingen, nicht lange stand.
Bereits am Sonntagabend demonstrierten Hunderte Anwohner, die Polizei setzte Tränengas und Blendgranaten ein. Zwei Tage später, am 9. März, fanden in Nea Smyrni größere Proteste gegen Polizeigewalt statt, die mit gewaltsamen Zusammenstößen endeten. Ein junger Beamter wurde dabei schwer verletzt, woraufhin die Polizei einen wilden Rachefeldzug gegen Demonstranten und Anwohner begann.
Ein Video zeigt versammelte Polizisten, die „Los, töten wir sie!“ rufen und mit ihren Motorrädern in die Nachbarschaften vorrücken. Der Fernsehsender Star fälschte den Videoausschnitt im Nachhinein, damit der Mordaufruf der Polizisten nicht mehr hörbar war.
Polizisten stürmten Wohnhäuser und verhafteten Demonstranten und völlig Unbeteiligte, darunter auch sieben Minderjährige, die drei Tage in der Generalpolizeistation Attikas (GADA) festgehalten wurden. Zwei der Jugendlichen waren laut ihren Mitschülern nicht einmal auf der Demonstration anwesend, sondern standen lediglich vor ihrer Schule in Nea Smyrni.
Ein Handyvideo dokumentiert die hemmungslose Brutalität der Polizei gegen eine 18-jährige Frau namens Efi, die einer anderen, von Motorradpolizisten am Boden niedergedrückten Person zur Hilfe eilte. Efi wurde daraufhin selbst zusammengeschlagen, verhaftet und ebenfalls zur GADA gebracht. Dort wurde sie Angaben ihrer Anwältin zufolge sexuell belästigt, mehrfach mit Vergewaltigung bedroht und verprügelt. Auf ihre Bitte um ärztliche Hilfe hätten die Polizisten sie ins Gesicht geschlagen und geantwortet: „Du wirst heute noch viel Blut spucken.“
Der Fall des 21-jährigen Aris Papazacharoudakis, der von den Zeitungen Efimerida ton Syntakton, Dokumento und The Press Project aufgedeckt wurde, trägt alle Merkmale der Willkür diktatorischer Regime. Im Interview erzählt er, wie er am Tag nach der Demonstration mitten auf der Straße entführt und dann auf der Polizeistation gefoltert und erniedrigt wurde.
Vermummte Motorradfahrer hielten den jungen Anarchisten an und fragten nach seinem Namen. Dann erschien ein Auto ohne Markierung: „Sie warfen mich auf die Motorhaube und legten mir Handschellen an. Dann warfen sie eine Kapuze über meinen Kopf und zwangen mich ins Auto.“ Er erhielt keine Angaben, wer sie waren oder warum sie ihn mitnahmen. Auf der GADA wurde er mit der Kopfverhüllung im Dunkeln stundenlang zusammengeschlagen und psychischer Folter ausgesetzt. Sie versuchten auch, Namen von anderen politischen Aktivisten zu erpressen.
Nach Bekanntwerden der Vorwürfe schickten Polizisten eine Unterlassungserklärung an die Zeitungen. Der Herausgeber von Dokumento, Kostas Vaxevanis, wurde sogar verklagt und mit einem Haftbefehl belegt, weil er das Polizeischreiben veröffentlicht hatte.
Die Mitsotakis-Regierung begleitet die Polizeistaatskampagne mit Lügen, Vertuschung und weiteren Angriffe auf demokratische Rechte. Am Tag nach dem Vorfall in Nea Smyrni attackierte Mitsotakis im Parlament die Jugend, die in den sozialen Medien Fotos, Videos und Kommentare gegen Polizeigewalt verbreitet. Die sozialen Medien seien „schlecht für die Demokratie“, weil sie Spannungen und Unruhen verstärken würden, so der Premierminister. Junge Menschen bewegten sich dort in einer Echokammer und könnten kein „kritisches Denken“ entwickeln. Mitsotakis fürchtet zurecht, dass Jugendliche die herrschende Ideologie und Propaganda der etablierten Medien durchbrechen und die Wahrheit selbst ans Licht bringen.
In derselben Woche der Ereignisse von Nea Smyrni ging die Polizei auch in Thessaloniki mit Gewalt gegen Studierende vor. Sie räumte in einem brutalen Großeinsatz am 11. März die studentische Besetzung an der Aristoteles-Universität. Studierende hatten drei Wochen lang das Rektorat besetzt, um gegen das neue autoritäre Hochschulgesetz der Regierung zu protestieren. Obwohl bekannt war, dass sie an diesem Tag die Besetzung beenden wollten, stürmten noch vorher um 6 Uhr morgens vermummte Polizisten in Zivil das Gebäude, das von Bereitschaftspolizei mit Mannschaftswagen umstellt war. Über 30 Personen wurden festgenommen.
Am Abend nach der Räumung fanden Proteste in Thessaloniki und Athen gegen Polizeigewalt statt. Auch am Wochenende danach gingen Demonstranten in mehreren Stadtbezirken in Athen auf die Straße. Am vergangenen Samstag protestierten auch Migranten, Flüchtlinge und Unterstützer in Athen gegen die verbrecherischen Konzentrationslager, die Polizeiunterdrückung und den Rassismus gegen Flüchtlinge und forderten Asyl, Unterkunft und Papiere.
Die immer aggressiveren Polizeieinsätze flankiert die Regierung mit einer Schmutzkampagne gegen die Proteste, die sie für die steigende Corona-Verbreitung verantwortlich macht. Der ultrarechte Entwicklungsminister Adonis Georgiadis (ND) behauptete, die „Linke“ würde die griechische Bevölkerung „erpressen“ und das „Coronavirus als Waffe benutzen, um Griechenland zu zerstören“.
In Wirklichkeit trägt die Regierung die volle Verantwortung für die katastrophale Ausbreitung der Pandemie. Sie schützt die Profite der Finanzoligarchie und zerstört das Gesundheitssystem. Georgiadis hatte schon als Gesundheitsminister in den Jahren 2013 bis 2014 den Gesundheitsetat drastisch gesenkt und zahlreiche Krankenhäuser geschlossen. In einer Pressekonferenz brüstete er sich damals lautstark damit, dass er die Entlassungen von Ärzten ganz ohne Druck der Troika vorantreibt, „weil es das Richtige ist“.
Doch auch die pseuodolinke Oppositionspartei Syriza (Koalition der radikalen Linken) und ihr Vorsitzender Alexis Tsipras, der der Regierung nun Versagen und Autoritarismus vorwirft, sind für die dramatische Corona-Lage und die massive Polizeigewalt mitverantwortlich. Syriza hat von 2015 bis 2019 den sozialen Kahlschlag im Interesse der Banken und Konzerne durchgesetzt und mehrfach Proteste von Arbeitern, Rentnern und Jugendlichen mit Polizei niederschlagen lassen.
In der Pandemie hat Syriza die Öffnungsschritte der Regierung meist unterstützt und sich trotz verbaler Scheingefechte als loyale Opposition gebärdet. Am 18. März sprach sich Tsipras im Interview beim Fernsehsender Open TV wieder dafür aus, Öffnungen mit „strengeren“ Hygienemaßnahmen umzusetzen, wie etwa lächerliche zwei Tests pro Woche an Schulen und Arbeitsstätten.
Syriza unterstützt zwar in Worten die Proteste gegen Polizeigewalt, aber sie reagiert mit Furcht auf die wachsende Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen. Es gebe „eine Gefahr, die auch Syriza betrifft, das sage ich ganz offen: dass eine große antipolitische Strömung entsteht“, so Tsipras bei Open TV. Er sei sehr besorgt über eine „verzerrte Radikalisierung der jungen Generation“.
Was Tsipras, Syriza und die gesamte herrschende Klasse umtreibt, ist das Gespenst der sozialistischen Revolution. Arbeiter und Jugendliche müssen daraus die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Sie brauchen ein klares politisches Programm und ihre eigene unabhängige Führung. Der Kampf gegen die Pandemie erfordert – genauso wie der Kampf gegen soziale Ungleichheit und Polizeigewalt – eine internationale sozialistische Strategie und den Aufbau einer griechischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.