Trotz der gefährlichen Ausbreitung der neuen Virusmutationen und der tödlichen Entwicklung der Pandemie in ganz Europa lockert Griechenland die Lockdown-Maßnahmen. In der vergangenen Woche wurden Grundschulen und Kitas wieder geöffnet, an diesem Montag folgten der Einzelhandel, Frisöre und Kosmetiksalons.
Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis, der die Lockerungen mit verstärkter Polizeipräsenz begleiten ließ, begründete den Schritt: „Wenn wir weitermachen mit den strengen Verboten, werden wir uns finanziell und psychisch zerstören.“ Damit meint er keineswegs die Einbußen der Kleinunternehmer, Angestellten und Arbeiter, die während des Lockdowns fast keine finanzielle Unterstützung erhalten haben. Vielmehr sorgt sich Chrysochoidis um die Profite der herrschenden Klasse, für die seine Regierung auch einen erneuten Anstieg der Corona-Todesrate ohne Wimperzucken in Kauf nimmt.
Mit der teilweisen Öffnung wird die soziale Not der Arbeiter und Angestellten im Privatsektor instrumentalisiert. In einer aktuellen Umfrage des Instituts Alco für den Gewerkschaftsverband des privaten Sektors (GSEE) gaben 56 Prozent der Befragten an, in der Corona-Zeit Einkommen eingebüßt zu haben, 22 Prozent hatten sogar Lohneinschnitte von mehr als 31 Prozent, was bei den niedrigen Löhnen in Griechenland große Folgen hat. Die Mehrheit der Befragten, 60 Prozent, haben bisher noch gar nicht im Homeoffice gearbeitet und sind damit der Infektionsgefahr am Arbeitsplatz ausgesetzt. Über die Hälfte der Befragten schaut mit Pessimismus auf die kommenden Monate, knapp 40 Prozent sind nicht sicher, ob sie ihren Arbeitsplatz behalten können.
Rückendeckung bei ihrer Öffnungspolitik bekommt die Regierung von der nominellen Oppositionspartei Syriza (Koalition der radikalen Linken). Parteichef Alexis Tsipras, der selbst vier Jahre lang als Ministerpräsident die Interessen der Wirtschafts- und Finanzoligarchie durchgesetzt hat, äußerte seine Unterstützung für die Lockerungen im Einzelhandel. Er bemüht sich zwar zugleich um einige Floskeln wie die Forderung nach mehr finanziellen Hilfen und höheren Gesundheitsausgaben, aber aus seinem Mund ist das nichts als heiße Luft. Im Dezember hagelte es Kritik, als Syriza Corona-Zuschüsse für die Polizei forderte – ausgerechnet kurz nach dem Jahrestag der Ermordung des Jugendlichen Alexandros Grigoropoulos durch einen Polizisten im Jahr 2008.
In den Medien läuft bereits das Trommelfeuer für die rasche Wiedereröffnung der Lyzeen und Gymnasien. Das habe „Priorität“, erklärte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis von der rechten Nea Dimokratia (ND) am Dienstag. Als Termin wird der erste Februar ins Auge gefasst.
Wissenschaftliche Berater des Gesundheitsministerium bekamen entsprechendes Gehör in der Presse, um die Lockerungen zu rechtfertigen. Charalampos Gogos, Professor für Pathologie und Infektionsforschung der Universität Patras und Mitglied des Sonderausschusses der Regierung, wärmte die alte Lüge wieder auf, dass Schulöffnungen das geringste epidemiologische Risiko darstellen, weil „die Jugendlichen eine geringere Viruslast als andere Gruppen“ tragen würden. Er sprach sich außerdem für die Öffnung der Skigebiete und bald auch der Restaurants aus.
Als Hauptargument für die Lockerungen dient die vorübergehend gesunkene Infektionsrate in Griechenland, die ein Ergebnis des wochenlangen Lockdowns und der geringen Tests ist. Am Montag sprach das Staatsfernsehen von einer „stabilen“ epidemiologischen Lage und verschwieg dabei, dass die Montagszahlen von 237 Neuinfektionen mit außerordentlich niedrigen Testzahlen von nur rund 3.700 PCR-Tests und 4.500 Schnelltests einhergingen. Einen Tag später, am Dienstag, stieg die Testrate um das Dreifache – ebenso gingen die Infektionen nach oben auf 566. Die Anzahl der Patienten, die an Beatmungsgeräten angeschlossen sind, bleibt außerdem konstant hoch bei über 300.
Insgesamt sind in dem Land mit rund 11 Millionen Einwohnern bereits über 5.500 Menschen an dem Virus gestorben. Die tödlichsten Monate waren November und Dezember mit bis zu 120 Opfern am Tag. Laut dem griechischen Statistikamt Elstat ist die Sterblichkeit in diesen Monaten im Vergleich zum Vorjahr um 30 bis 40 Prozent gestiegen. Die 48. und 49. Woche (23. November bis 6. Dezember 2020) markierten mit je rund 3.300 Toten einen traurigen Rekord.
Angesichts der dramatischen Situation in den europäischen Nachbarländern ist die Propaganda von einer „stabilen“ Infektionslage in Griechenland nicht nur trügerisch, sondern extrem gefährlich. Die Regierung versucht gezielt, die Pandemie herunterzuspielen, obwohl sich in Europa täglich mehr als 200.000 Menschen infizieren und über 6000 Menschen an Covid-19 sterben.
Das unterfinanzierte und unterbesetzte öffentliche Gesundheitswesen, das in den letzten Monaten fast kollabiert war und Triage-Entscheidungen treffen musste, hängt weiterhin am seidenen Faden. Die Impfkampagne, die in Griechenland zeitgleich mit den EU-Ländern Ende Dezember begann, kommt wie fast überall auf der Welt nur schleppend voran. Bis zum 20. Januar wurden nur 105.700 Menschen geimpft. Zur ersten Gruppe gehören Menschen über 85, Gesundheitspersonal und die Regierungs- und Parteispitzen.
Unter diesen angespannten Bedingungen bürdet die Regierung die ganze Last der Impfkampagne dem öffentlichen Gesundheitswesen auf. Statt die nötigen Summen zu investieren, um für genug Personal und Ausstattung bei der größten Massenimpfkampagne der Geschichte zu sorgen, gab sie am Mittwoch bekannt, dass die öffentlichen Gesundheitszentren in Impfzentren umgewandelt werden. In Griechenland erfüllen die Gesundheitszentren eine wichtige Funktion, um die Krankenhäuser zu entlasten und eine bessere ambulante Gesundheitsversorgung in allen Regionen zu gewährleisten. Wenn sie jetzt die Impfungen übernehmen, können sie keinen regulären Dienst mehr anbieten.
In einem wütenden Statement vom Verband der Krankenhausärzte Griechenlands (OENGE) heißt es: „Mit welchen Mitarbeitern sollen die Impfzentren genau besetzt werden, für die eine 12-Stunden-Schicht geplant ist? Mit erschöpftem Krankenhauspersonal? Durch endlose Überstunden intensiver Arbeit, um die riesigen Lücken zu schließen, die sich mit den Tausenden Kranken im Gesundheitspersonal noch vergrößern? Mit Beschäftigten, die seit Monaten keinen Urlaub hatten? Mit welchen Ärzten? Wird der Arzt an einem Tag Corona-Patienten behandeln und am nächsten Tag gesunde Bürger impfen?“ Die Ärzte kritisieren die noch immer fehlenden Neueinstellungen und die mangelnde Infrastruktur für die sichere Umsetzung der Impfungen.
Innere und äußere Aufrüstung
Die Ausblutung der Ärzte und Pfleger und die absichtliche Vernachlässigung der öffentlichen Gesundheit in einer Pandemie erscheint wie Wahnsinn, ist aber Kalkül. Statt der Bekämpfung des Coronavirus steht die Aufrüstung des Polizei- und Militärapparats im Mittelpunkt der Regierungsagenda für das neue Jahr.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Das zeigt sich sogar in der Impfkampagne selbst: Die überschüssigen Impfdosen, die wegen nicht realisierter Impftermine zu verderben drohen, sollen in Griechenland nicht etwa dem Impfpersonal, Arbeitern, Lehrern oder jungen Menschen am Abend des Impftags verabreicht werden, sondern – den Soldaten und Polizisten. Das kündigte Mitsotakis am Dienstag großspurig an.
Mitte Dezember verabschiedete das Parlament den Haushaltsplan 2021, der eine drastische Erhöhung der Militärausgaben und eine Senkung der Gesundheitsausgaben vorsieht. Der Wehretat steigt um ein Drittel – von 3,4 Milliarden Euro im letzten Jahr auf 5,5 Milliarden in diesem Jahr. Der gesamte Aufrüstungsplan der nächsten Jahre umfasst 11,5 Milliarden Euro. Griechenland schafft u.a. 18 französische „Rafale“-Kampfjets, vier neue Fregatten und vier amerikanische „Seahawk“-Hubschrauber an.
Der Gesundheitshaushalt schrumpft hingegen von 4,83 Milliarden Euro (2020) auf 4,26 Milliarden (2021). Nur 131 Millionen Euro sind für den Kampf gegen Corona eingeplant (im letzten Jahr 786 Millionen). Griechenland gibt mit nur 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ohnehin im Vergleich zu anderen EU-Staaten am wenigsten für Gesundheit aus. Jetzt werden noch einmal 572 Millionen gekürzt.
Die Einheit der herrschenden Klasse wird auch in der Kriegspolitik sichtbar. Während der gesamte Haushalt mit den Stimmen der Regierungspartei verabschiedet wurde, votierte eine erweiterte Mehrheit von 189 Abgeordneten für die horrenden Militärausgaben, darunter auch Syriza. Geplant ist zudem eine Ausweitung der Wehrdienstdauer von 9 auf 12 Monate ab Mai dieses Jahres und die Aufstockung des Heers auf 133.000 Soldaten – eine Anhebung von etwa 30 Prozent.
Auch im Innern setzt die herrschende Klasse ihre autoritäre Politik gegen die Arbeiterklasse fort und bereitet sich auf einen Sturm der sozialen Opposition vor. Der Bürgerschutzminister Chrysochoidis, dem die Polizei untersteht, und die Bildungsministerin Niki Karameos haben einen gemeinsamen Gesetzesentwurf für den Aufbau einer Campuspolizei in den Universitäten eingebracht. Sie soll befugt sein, Personen festzunehmen, Verfahren einzuleiten und an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Die Polizisten werden keine Waffen tragen, aber Schlagstöcke und Handschellen. Ihr Ziel ist es, linke Studierende und studentische Organisationen einzuschüchtern und zu verfolgen. Chrysochoidis sprach „von einer Minderheit in den Universitäten“, die „Terror“ verbreite.
Der Widerstand gegen das neue Universitätsgesetz ist groß. Gestern fanden in Athen und mehreren weiteren Städten Proteste statt. „Studenten sind keine Kriminellen!“, stand auf den Bannern der Studierenden. Auch Lehrkräfte, Eltern und Schüler beteiligten sich. In Thessaloniki ging die Bereitschaftspolizei mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demonstranten vor.
Die Angriffe auf Studierende sind gerade vor dem Hintergrund der griechischen Geschichte eine ernstzunehmende Warnung. Der Sturz der Militärdiktatur, die von 1967 bis 1974 mit Unterstützung der USA herrschte, begann mit dem Aufstand an der Athener Polytechnio-Universität, der am 17. November 1973 blutig niedergeschlagen wurde.
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