Am Freitagabend gab die Europäische Union (EU) bekannt, dass sie den Export von Impfstoffen nach Nordirland stoppen könnte. Damit hat sich der nationalistische Konflikt um den Zugang zu Impfstoffen zu einem Handelskrieg zwischen der EU und Großbritannien verschärft.
Anfang der Woche hatte der Impfstoffhersteller AstraZeneca der EU mitgeteilt, er könne seine Zusage nicht erfüllen, bis März 100 Millionen Dosen Impfstoff zu liefern. Der Pharmakonzern geht davon aus, in diesem Zeitraum nur 31 Millionen Dosen liefern zu können, und rechnet auch mit Verzögerungen bei der Lieferung von weiteren 200 Millionen bestellten Dosen. Als Erklärung nannte AstraZeneca Probleme in seiner Produktionsstätte in Belgien.
Als Reaktion darauf forderte die EU, das Unternehmen müsse mit einem Teil der Produktion aus zwei britischen Werken in Oxford und Staffordshire die Engpässe aus dem belgischen Werk ausgleichen. Die Johnson-Regierung wies die Forderung der EU nach Impfstoffen zurück. Großbritannien hatte sein Abkommen mit AstraZeneca schon drei Monate früher als die EU unterzeichnet, und Johnson argumentierte: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“
Britische Medien und Politiker haben eine hektische nationalistische Kampagne losgetreten. Der Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten, Michael Gove, erklärte in der Sendung Good Morning Britain: „Wirklich wichtig ist, dass wir sicherstellen, dass unser eigenes Impfprogramm wie geplant weitergeht.“
Am Freitagabend drohte die EU darauf mit einem Verbot von Impfstoff-Exporten nach Nordirland. Dazu berief sie sich auf Artikel 16 des sogenannten Nordirland-Protokolls im Brexit-Abkommen. Dieses sieht zwar keine Einschränkung von EU-Exporten nach Nordirland vor. Allerdings erklärte die EU, sie sei berechtigt, zu kontrollieren, dass die Lieferungen an Nordirland nicht für Impfstoff-Lieferungen an Großbritannien missbraucht würden. Die Europäische Kommission berief sich dabei auf Klausel 16 des Nordirland-Protokolls, um „ernsthafte gesellschaftliche Schwierigkeiten zu verhindern, die wegen fehlender Lieferungen bei der geordneten Umsetzung der Impfkampagnen in den Mitgliedsstaaten auftreten könnten“.
Die EU machte ihre Entscheidung jedoch schon am Freitagabend wieder rückgängig, nachdem der britische Premierminister Boris Johnson mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen telefoniert und seine „schweren Bedenken“ wegen des Versuchs geäußert hatte, die Lieferung von Impfstoffen an Nordirland zu blockieren.
Die EU-Gesundheitskommission hatte Anfang der Woche offizielle Vertreter zum belgischen AstraZeneca-Werk geschickt. Davor hatten EU-Sprecher dem Unternehmen vorgeworfen, es würde für den europäischen Markt vorgesehene Impfstoffe zu höheren Preisen in andere Teile der Welt verkaufen. Am Donnerstag kündigte der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn an, der AstraZeneca-Impfstoff werde nicht an über 65-jährige verabreicht, da zu wenige ältere Teilnehmer an den klinischen Tests des Impfstoffs teilgenommen hatten.
AstraZeneca behauptet, seine Vertragsverpflichtungen gegenüber der EU seien nur Zielvorgaben „im Rahmen des Möglichen nach besten Kräften“. Am Freitagmorgen veröffentlichte die EU eine Version des Vertrags, den sie mit AstraZeneca abgeschlossen hatte, mit zahlreichen geschwärzen Stellen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, es sei „kristallklar“, dass das Unternehmen vertragsmäßig verpflichtet sei, die Dosen zu liefern.
Das Vorgehen der EU hat die tiefen innerimperialistischen Konflikte zwischen den europäischen Großmächten enthüllt, die dem Brexit zugrunde lagen und die sich durch die Corona-Pandemie noch weiter verschärft haben. In diesem reaktionären Konflikt agiert keine Seite im Interesse der europäischen Arbeiterklasse.
Der Konflikt legt den Bankrott einer Wirtschaftsordnung offen, die auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und der nationalistischen Spaltung der Weltwirtschaft basiert, außerdem die Unfähigkeit und Weigerung der kapitalistischen Regierungen, auch nur das grundlegendste Programm zur Impfung der Bevölkerung und zum Kampf gegen die tödliche Pandemie zu organisieren.
Es ist mittlerweile klar, dass die Impfstoffhersteller im Rahmen eines erbitterten Kampfs um Milliarden-schwere Verträge die Aufträge für die Lieferung von Hunderten Millionen Dosen übernommen haben, die sie mengenmäßig nicht erfüllen können. Pfizer hatte im Dezember angekündigt, es werde die versprochenen 12,5 Millionen Dosen Impfstoff für die EU nicht bis Ende des Jahres ausliefern können. Das Unternehmen versprach, die Produktion in Europa zu erhöhen, kündigte jedoch an, die Umsetzung dieses Versprechens hinge von laufenden privaten Verhandlungen mit fünf oder sechs Herstellern ab.
Auch AstraZeneca war sich Anfang Januar bewusst, dass es zu Produktionsengpässen kommt, informierte seine Kunden jedoch erst letzte Woche. Moderna kündigte am Freitag an, es werde Italien 20 Prozent weniger Impfstoffdosen liefern als vereinbart; Frankreich muss mit ähnlichen Engpässen rechnen.
Mehrere europäische Staaten haben wegen fehlender Impfstoffe bereits Verzögerungen bei ihren ohnehin schon chaotisch und inkompetent verlaufenden Impfstoffprogrammen angekündigt. Reuters erklärte am Donnerstag, französische Regierungsvertreter hätten in drei Regionen die Verteilung der Impfstoffe um mindestens einen Monat verschoben, darunter auch in der dicht besiedelten Region Île-de-France um Paris.
Portugal hat bestätigt, dass sich seine Impfpläne bis mindestens April verzögern werden. Die deutsche Regierung rechnet mit einer Verzögerung ihres Zeitplans um mindestens zwei Monate.
Die Weltbevölkerung ist auf eine schnelle und koordinierte Verteilung des Impfstoffs angewiesen. Doch ihre Bedürfnisse werden im Kapitalismus völlig dem Profitstreben der Pharmakonzerne und ihrer Geldgeber aus den Hedgefonds untergeordnet. Die dringend notwendige Entwicklung eines rationalen wissenschaftlichen Plans für die globale Verteilung der Impfstoffe wird vom Kampf der Großmächte um die Frage behindert, wer am schnellsten impft und seine Wirtschaft wieder hochfährt.
Auf besonders groteske Weise äußerte sich dies letzte Woche durch die Meldung, dass Südafrika AstraZeneca mehr als doppelt so viel für eine Impfstoffdosis zahlt wie die EU – nämlich 4,32 Euro statt 1,78 Euro pro Dosis. Dass Pfizer, Moderna, AstraZeneca, Johnson & Johnson und Curevac von unterschiedlichen Ländern stark variierende Preise fordern, zeigt deutlich, in welchem Ausmaß sie von dem Impfstoff profitieren.
Indien und Südafrika hatten die Welthandelsorganisation letzten Oktober gebeten, die Patente für Impfstoffe auszusetzen, damit sie als Generika hergestellt werden können. Dieser Antrag wurde von der EU, Großbritannien und den USA abgelehnt.
Viele der ärmsten Länder der Welt rechnen damit, erst 2022 oder 2023 Impfstoffe zu erhalten. Die USA haben 1,1 Milliarden Impfstoffdosen bestellt, d.h. fast doppelt so viel wie benötigt, um ihre gesamte Bevölkerung zu impfen. Auch die EU, Großbritannien, Japan, Kanada und Australien haben mehr Dosen bestellt, als für den Schutz ihrer Bevölkerungen notwendig wäre.
Der nationalistische Zwang, dem die weltweiten Impfungen unterliegen, ist nur ein Ausdruck der kriminellen Nachlässigkeit, mit der die kapitalistischen Regierungen auf die Corona-Pandemie reagieren. Keiner von ihnen ist es wichtig, so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Ihre erste Sorge richtet sich darauf, den Reichtum der Finanzelite zu schützen.
Im März letzten Jahres zeigte sich dies an den massiven Rettungspaketen für die Konzerne. Seither haben sie sich bemüht, die Schulen und nicht systemrelevante Arbeitsstätten offen zu halten, damit die Profite weiter sprudeln konnten, auch wenn dies Hunderttausende Menschenleben gefährdete.
Nur die vereinigte Bewegung der internationalen Arbeiterklasse kann eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Pandemie sicherstellten. Die riesigen Pharmakonzerne müssen der Kontrolle der Finanzspekulanten entrissen und in öffentliches Eigentum unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse umgewandelt werden. Um sicherzustellen, dass die gesamte Weltbevölkerung kostenlos und schnell geimpft wird, muss die Produktion und Verteilung der Impfstoffe in globalem Maßstab koordiniert und organisiert werden, statt dem privaten Profitstreben oder den Interessen nationaler kapitalistischer Eliten untergeordnet zu werden.
Gleichzeitig muss die Sicherheit der Bevölkerung gewährleistet werden, bis die Impfstoffe verteilt werden können. Zu diesem Zweck müssen alle nicht-systemrelevanten Betriebe und Schulen geschlossen und die Lohnfortzahlung für die gesamte Bevölkerung gesichert, sowie ausreichende Mittel für Kleinunternehmen ausbezahlt werden. Die Mittel für solche Maßnahmen existieren, sie werden lediglich von der Wirtschafts- und Finanzelite mit Beschlag belegt. Die Alternative ist der Kampf für den Sozialismus und die Umgestaltung der Wirtschaft im internationalen Maßstab auf der Grundlage sozialer Bedürfnisse statt privatem Profitstreben. In Europa erfordert dies den Kampf gegen alle Formen von Nationalismus und den Kampf der Arbeiterklasse für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.