Offiziell sollten die Kitas nach den jüngsten Beschlüssen der Bundes- und Länderregierungen bis zum 14. Februar „grundsätzlich geschlossen“ bleiben. So steht es im Statement der Kanzlerin vom 19. Januar 2021, das darüber hinaus die „restriktive Umsetzung“ der Schließungen ankündigt.
Es ist eine politische Mogelpackung, wie viele Erzieher festgestellt haben. Inmitten der Pandemie sind sie gezwungen, große Kindergruppen oft durchgehend in engen Räumen zu betreuen. Weil alle Parteien die Wirtschaft weiterlaufen lassen, werden die Erzieher, die die Kinder praktisch ohne Schutz betreuen, regelrecht verheizt.
In dem zweiten sogenannten „Lockdown“ haben die meisten Bundesländer keinerlei klare Regeln aufgestellt, um die Notbetreuung tatsächlich nur den systemrelevanten Berufen und den Härtefällen zur Verfügung zu stellen. Vielmehr wurden bewusst schwammige Formulierungen gewählt, die letztlich jedermann die Möglichkeit zur Kinderbetreuung einräumen.
So ist die seit Dezember geltende angebliche „Notbetreuung“ vielerorts nicht mehr als ein Appell an die Eltern, ihre Kinder nicht in die Kitas zu bringen. Viele Landesregierungen haben sogar explizit erklärt, dass „drohender Verdienstausfall“ ebenfalls ein Grund für einen Anspruch auf die Notbetreuung sei, was es den Vorgesetzten in den Unternehmen natürlich leicht macht, die Eltern trotz grassierender Pandemie zur Arbeit zwingen.
Obwohl die Zahlen der Neuinfektionen fünf- bis zehnmal so hoch sind wie bei der ersten Pandemiewelle, gelten diesmal für Kitas wesentlich weniger strikte Regeln als im letzten Frühjahr. Beispielsweise hat Sachsen diesmal sofort mit der Ein-Elternteil-Regelung begonnen, was bedeutet, dass von vorneherein nur ein Elternteil in einem systemrelevanten Beruf beschäftigt sein muss. Die meisten Länder haben jedoch überhaupt keine konkreten Beschränkungen eingeführt. In Bayern hat das Ministerium die Kitas angehalten, keine Bescheinigungen der Arbeitgeber anzufordern.
Noch weiter geht Berlin: Hier macht der rot-rot-grüne Senat deutlich, dass die Kitas überhaupt niemanden ablehnen dürfen. Zwar hat die Hauptstadt nach wie vor eine Sieben-Tages-Inzidenz von über 100 pro 100.000 Einwohner, die es völlig unmöglich macht, bei Neuinfektionen auch nur die Kontakte zu ermitteln. Dennoch besteht der Berliner Senat auf halbvollen Kitas, was Gruppengrößen von zehn Kindern oder mehr und je nach Einrichtungsgröße auch hunderte Kinder in einer Kita zur Folge hat.
Diese Politik hat der Berliner Senat in einer neuen Leitlinie ausdrücklich formuliert. Darin heißt es, dass die „durchschnittliche wöchentliche Auslastung“ der Kitas 50 % der Betreuungsplätze nicht überschreiten soll, worauf erklärt wird, dass bei Unterschreitung der 50 % „auch Kinder von Eltern aufgenommen werden, die nicht in einem systemrelevanten Aufgabenbereich tätig sind“. Die fünfzig Prozent sind also Ober- und Untergrenze gleichermaßen.
Was das in der Praxis bedeutet, darüber sprach vor kurzem der Berliner Erzieher René (Name von der Redaktion geändert) mit der World Socialist Web Site. René war in der Jugendhilfe beschäftigt, ist jedoch seit einigen Jahren wieder in einer Kindertagesstätte (Kita) tätig. Auf die WSWS ist René schon im Frühjahr gestoßen, als die Regierungen Mitte April ihre Back-to-Work-Kampagne mit Lockerungen in den Kitas begannen. Damals hatte er die Petition an den Berliner Senat, „Schützt unsere Pädagogen!“ über die sozialen Medien verteilt.
René berichtet: „Die Lockerungen in Berlin kamen immer häppchenweise. Erst die Zwei-Eltern-Regel, dann Eines, und dann kamen Dutzende Berufe hinzu.“
René hat damals die Erfahrung gemacht, dass die Kitas jedes Mal von den politischen Entscheidungen überrumpelt wurden, um dann bei der Umsetzung völlig alleingelassen zu werden. Trotz Personalausfalls und begrenzter Raumanzahl musste die sichere Betreuung in Kleingruppen garantiert werden. Sobald es dann aufgrund rasant steigender Kinderzahlen räumlich und personell nicht mehr möglich war, die sicheren Kleingruppen aufrecht zu erhalten, löste der Senat das Problem ganz „pragmatisch“ dadurch, dass er überhaupt alle Gruppenbeschränkungen aufhob. Rasch waren die Räume wieder voll.
Mittlerweile kämpfen viele Pädagogen nach langen Monaten der Pandemie mit einem Zustand der Dauererschöpfung oder auch direkter Resignation. Er fühle sich „beschissen, hilflos und allein gelassen“, beschreibt René seine Situation, und er spricht damit vielen seiner Kollegen aus dem Herzen. Man komme sich vor „wie Kanonenfutter“, schilderte vor kurzem eine bayrische Kita-Leiterin ihre Lage gegenüber der Süddeutschen Zeitung.
Als die Pandemieregeln über Weihnachten und Silvester extra gelockert wurden, war das in Renés Augen „ein Scherz, aber ein schlechter“, und „einfach grotesk für jeden Pfleger, jede Krankenschwester und alle Ärzte (…) Als ob Covid kurz Ferien machen würde.“ Schließlich habe man die Auswirkungen eines solchen Verhaltens schon daran gesehen, dass die Lockerungen an Thanksgiving in den USA voraussehbare Folgen hatten. „Da war es wohl wirklich für viele das letzte gemeinsame Fest.“
Was die aktuellen Regierungsbeschlüsse vom 19. Januar betrifft, so ist schon ihre Rhetorik verlogen, wenn es heißt, die Kindertagesstätten würden geschlossen bleiben. Sie waren es schon vorher nicht. Für René führen die Konzepte der Regierung offensichtlich nicht zur erfolgreichen Eindämmung und Bekämpfung der Pandemie. „Wir fahren viele Dinge an die Wand“, kommentiert der Erzieher. „Trotzdem erleben wir keine wirkliche Besserung, aber öffnen neue Brandherde in den Schulen und Kitas.“
René schildert die Absurdität der Situation: Zwar seien die Eltern „dazu angehalten, eine andere Betreuung zu finden. Aber in einer Zeit von lauter Verboten haben wir [in den Kitas] bloß einen Appell an die Hand bekommen.“ Das führe „zu einer aktuellen Auslastung von 60 %, bei 50 % Personal. ‚Notbetreuung‘ trifft es also schon, nur eben anders als gedacht: Am Ende liegt die Not eher auf unserer Seite.“
Kita-Erzieher sind laut einer AOK-Studie am häufigsten von allen Berufsgruppen von einer Sars-CoV-2-Erkrankung betroffen. Dennoch halten die Landesregierungen, Politiker aller Parteien und die Zeitungen, wie auch die GEW stur an der Behauptung fest, dass Klein- und Grundschulkinder sich und andere weniger anstecken würden. Dies liegt auch der Politik der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) zu Grunde. „Meiner Meinung nach gefährdet diese Frau aktiv Menschenleben“, so Renés Urteil über Scheeres, die auch Mitglied der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist.
Für René hätte es längst konsequentere Maßnahmen und einen härteren Lockdown geben müssen. Dass diese nicht spätestens im November kamen, hat ihn aber nicht überrascht. Es passe in das Bild, das sich schon lange vor der Pandemie aufdrängte, dass nämlich die Politiker Investitionen in die Bildung sträflich vernachlässigen: „Erst die Wirtschaft, dann die Menschen“, kommentiert René diese Politik.
„Dafür sprechen auch die massiven staatlichen Hilfen für die Autobranche und TUI“, fährt er fort. „In den Schulen gibt es nicht einmal Hygienekonzepte, Seife oder Fenster zum Öffnen, denn unser Allheilmittel ist ja das Lüften und keine Unterstützung. Ach, und Kniebeugen gegen die Kälte.“
Die Zeit der Notbetreuung wurde sogar für Einsparungen bei den Kitas genutzt. René erzählt, wie der Senat mit einigen wenigen ausgewählten Kita-Vertretern eine Sachkosten-Rückerstattung für freie Kitaträger ausgehandelt hat. Angeblich hätten die Kitas weniger Sachkosten – „aber das ist völliger Blödsinn, da Mieten und Personalkosten gleichgeblieben sind, und gleichzeitig für Hygienematerialien und die Schaffung neuer Hygienekonzepte zusätzlich Gelder drauf gegangen sind“, erklärt René. Nicht weniger als 20 Millionen Euro holte sich der Berliner Senat auf diese Weise von den Kita-Trägern zurück und erklärte dies zynisch zu einem „guten und für alle Seiten tragbaren Kompromiss“.
Auch „Organisation und Kommunikation“ des Senats nennt René „einfach nur fatal“. Die offiziellen Richtlinien, die auf die „vollmundigen Ankündigungen über Lockerungen, Bonuszahlungen oder sonst was in den Medien“ folgten, seien erst Tage später an die umsetzenden Stellen in den Kitas gelangt. Die Folge: Kita-Leitungen opfern eine Menge Freizeit, um die Personalpläne entsprechend zu ändern und Eltern und Erzieher zu informieren.
Die Hoffnung in die Politik ist für René längst dahin. Gleichzeitig spricht er vielen Pädagogen aus der Seele, wenn er sagt: „Aber natürlich machen wir unseren Job gerne und kümmern uns auch in diesen Zeiten um die Kinder. Es muss jedoch ein vertretbares Risiko und der Anspruch muss schlüssig sein.“
René begrüßt daher die Initiative der Aktionskomitees für sichere Bildung, wie alle Aktionen, die dafür kämpfen „dass unser Bildungssystem dringend überarbeitet gehört und aus dem 19. Jahrhundert in das 21. Jahrhundert gebracht werden muss. Aber dazu muss man eben auch mal in Menschen investieren und nicht nur in Firmen“, bringt er es abschließend auf den Punkt.
Tagesmütter und -väter
Tausende Erzieherinnen und Erzieher machen zurzeit die gleichen Erfahrungen wie René. Dies betrifft auch die Tagesmütter und -väter in den Tagespflegeeinrichtungen, die sich ebenfalls allein gelassen fühlen. In einem offenen Brief hat ihr Bundesverband (BVKTP) vor kurzem einen „Ausgleich für die nicht ermöglichte Betreuung“ während der Notbetreuungszeit gefordert.
In Berlin wie in den meisten Bundesländern erhalten die selbstständigen Tagespfleger nur eine Bezahlung entsprechend der geleisteten Betreuungsstunden. Bei gleichbleibenden Kosten, insbesondere der Miete, stehen dadurch viele vor dem drohenden Ruin, wenn aufgrund der Pandemiegefahr oder durch Quarantäneanordnung weniger Kinder kommen. Rund 50.000 Tagespfleger gibt es deutschlandweit, allein 1457 davon in Berlin, und laut einer aktuellen Umfrage der Berufsvereinigung der Kindertagespflegepersonen fühlen sich 86 % unzureichend geschützt.
Im Durchschnitt betreuen die Tagesmütter- und väter zwei Drittel ihrer Kinder weiterhin und ohne jeglichen Schutz, obwohl bei 45 % Angehörige zur Risikogruppe gehören. Trotz des angeblichen „Lockdowns“ hat Nicole Halver bei Aachen eine Auslastung von 90 %, wie sie in einem ZDF-Bericht erzählte. 80 % nennen als eins der Hauptprobleme die mangelhafte Testung der Kleinkinder bei typischen Symptomen. Nur eine Handvoll Schnelltests erhalten sie bis Ostern. Von Schutzausrüstung haben viele bisher nichts gesehen.
Der Berliner Senat hat Mitte Dezember erstmals eine Maske pro Kindertagespfleger zur Verfügung gestellt. Angesichts der Kurzlebigkeit der meisten Masken ein schlechter Witz. Viele überlegen, ihren Beruf aufzugeben, da sie sich ausgeliefert fühlen. Claudia Engelsberts von der Berufsvereinigung verglich im ZDF-Interview die Situation der Tagespfleger mit Soldaten, die ohne Ausrüstung an die Front geschickt werden.
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