Mit Beginn dieser Woche wurde in allen Bundesländern die Notbetreuung in den Kindertagesstätten (Kitas) erneut ausgeweitet.
Die Liste der sogenannten kritischen Wirtschaftsbereiche, die von allgemeinem öffentlichem Interesse seien, wird in allen Ländern erweitert, wenn auch jeweils unterschiedlich. Eltern, die in diesen Bereichen tätig sind, haben Anspruch auf Notbetreuung.
Die Kita-Notbetreuung läuft seit Mitte März und war anfangs nur auf tatsächlich wichtige Berufe in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Lebensmittelversorgung, Infrastruktur u.ä. beschränkt. Nun wird sie trotz aller gesundheitlichen Risiken rasant ausgeweitet. Sie ist Teil der Вack-to-Work- bzw. Öffnungskampagne, die Bundes- und Länderregierungen am 15. April beschlossen haben und seitdem energisch forcieren.
Nach viel zu langem Nichtstun hatte zwischen dem 16. und 18. März ein Bundesland nach dem anderen entschieden, alle Einrichtungen zu schließen. Das diese Eindämmungsmaßnahmen viel zu spät kamen, zeigt allein die Verzehnfachung der Infektionen innerhalb von 14 Tagen bis Ende März.
Der verspäteten Reaktion war eine Phase der „böswilligen Untätigkeit“ aller Regierungen vorangegangen, wie die World Socialist Web Site damals schrieb, trotz der absehbaren Gefahren der Pandemie.
Die überfälligen Einschränkungen des öffentlichen Lebens, um Ansteckungsketten zu vermeiden, waren die notwendige Voraussetzung für die darauffolgende Verlangsamung der Ansteckungsrate und für die Senkung der Reproduktionsrate unter die kritische Marke 1.
Bereits letzte Woche ist die Rate wieder auf 0,9 gestiegen, und mit den Lockerungen dieser Woche riskieren die Regierungen ganz direkt, dass jeder Infizierte wieder mehr als eine Person ansteckt, was erneut zu einem exponentiellen Wachstum führen würde.
Die Lockerung der Notbetreuung ist jeweils Angelegenheit der Länder. Jedes Bundesland hat seine vollkommen eigene Liste von systemrelevanten Branchen oder Härtefallausnahmen und auch verschiedene Vorschriften hinsichtlich Gruppengrößen und Schutzvorkehrungen. Selbst der Beginn war nicht einheitlich. Während etwa Sachsen, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt ihre Notbetreuung schon in der vergangenen Woche ausweiteten und damit mancherorts Einrichtungen ohne Vorbereitungszeit überrumpelten, gilt die Ausweitung in den meisten Bundesländern erst ab dieser Woche.
Gemeinsam haben die Regelungen aller Länder, dass sie den Anspruch auf Notbetreuung enorm ausdehnen. Dass es dabei nicht wirklich um essenzielle, gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsbereiche geht, zeigt ein Blick nach Sachsen. Dort haben nun beispielsweise auch Anwälte, Notare, Steuerberater, Gerichtsvollzieher, Gewerkschaftssekretäre und der gesamte Einzelhandel Anspruch auf Kinderbetreuung.
Besonders perfide ist die Ausweitung der Ein-Eltern-Regelung. Bereits Ende März wurde ein Notbetreuungsanspruch eingefügt, wenn nur ein Elternteil in der Pflege, Logistik oder anderen wichtigen Bereichen arbeitet. Ab dieser Woche gilt in Berlin, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und weiteren Bundesländern ein Anspruch auf Notbetreuung für ALLE Alleinerziehenden unabhängig von ihrer beruflichen Tätigkeit.
Zynisch wird dies von Regierungspolitikern als soziale Geste verkauft. Die tatsächliche Notlage der oft benachteiligten und armutsgefährdeten Alleinerziehenden wird als Hintertür genutzt, um die Kita-Notbetreuung gewaltig auszuweiten. Anstatt die über 2 Millionen alleinerziehenden Mütter und Väter in Deutschland für die Zeit der Pandemie finanziell abzusichern, werden sie politisch benutzt, um die Rückkehr in die Betriebe zu ermöglichen.
Ein Statement einer Berliner Erzieherin zeigt die drastische Auswirkung dieser Lockerung. War ihre kleine Einrichtung bisher durchgehend geschlossen, da keine Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten, erreicht sie ab nächster Woche 50 Prozent der Gesamtkinderzahl. Zeitungsberichte aus dem Ruhrgebiet, Brandenburg, Hessen, Sachsen und Schleswig-Holstein haben bereits in der letzten Woche die Verdopplung der betreuten Kinderzahl in vielen Städten und Gemeinden gemeldet.
Die bisherigen Bemühungen der Erzieher und Kitaleiter, die Notbetreuung unter Vermeidung unnötiger Kontakte in kleinen Gruppen zu organisieren, werden mit den jüngsten Lockerungen direkt sabotiert. Viele Einrichtungen stoßen schnell an räumliche oder personelle Grenzen. Bei Einhaltung von Kleingruppen bis fünf Kinder entscheiden letztlich die Anzahl der Räume und die verfügbaren Erzieher über die Gesamtkapazität.
Die Problematik offenbart ein Bericht aus Kirchheim unter Teck. Zu den bisherigen rund 40 Notbetreuungsplätzen der Gemeinde wurden allein bis zum 20. April schon 45 neue Anträge für die erweiterte Notbetreuung ab dieser Woche gestellt. Da 40 Prozent der Erzieher selber zu Risikogruppen gehören, ermöglichen viele Länderverordnungen bereits die Ausweitung der Gruppengröße oder die Lockerung des Betreuungsschlüssels.
Manche Bundesländer, wie z.B. Sachsen, haben erst gar keine maximale Gruppengröße festgelegt. So war es allein der Vernunft der Mitarbeiter zu verdanken, dass in Kleingruppen gearbeitet und somit die Gefahr der Ansteckung reduziert wurde. Da in Sachsen die Lockerungen bereits seit letzter Woche gelten, ist das Ausmaß dort auch bereits konkret erkennbar.
In Dresden hat sich die Zahl der betreuten Kinder von rund 1300 auf über 2500 gesteigert. Im Normalbetrieb sind es rund 33.000. In Leipzig ist sie von 2100 auf 3700 gestiegen.
Der Abteilungsleiter Kita des Städtischen Eigenbetriebs berichtete dem MDR: „Wir haben vier Kinder gehabt auf einen Betreuer in den letzten Wochen, wir müssen das jetzt neu betrachten anhand der neuen Betreuungszahlen. Es wird einen Großteil an Einrichtungen geben, die diesen Betreuungsschlüssel weiterhin gewährleisten können, es wird aber auch Einrichtungen geben, die wenig Räume haben, vielleicht auch Personalmangel.“
Bei wachsenden Kinderzahlen ist eine Ausweitung der Gruppengröße zur Umsetzung der Notbetreuungsverordnungen unvermeidlich. Manche Bundesländer, wie Thüringen, haben bereits von sich aus die Gruppengröße auf zehn erhöht.
Wohlgemerkt finden die drastischen Steigerungen in Sachsen ohne die oben genannte Ein-Eltern-Regelung statt. In vielen Städten und Gemeinden ist also ein noch größerer Anstieg als in Sachsen zu erwarten, wo die Notbetreuung meist noch unter 10 Prozent der normalen Gesamtzahlen liegt.
Dieses Ziel hat sich NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) gesetzt. Bisher lag der Notbetreuungsanteil bei rund 4 Prozent, nun hat Stamp vorgeschlagen, bereits in dieser Woche alle Vorschulkinder zurück in die Kitas zu schicken.
Eine Umfrage in einer Facebook-Gruppe von Erziehern zeigt, dass rund zwei Drittel davon ausgehen, ab dieser Woche 20 Prozent oder mehr der normalen Kinderzahl zu erreichen. Rund ein Fünftel geht sogar davon aus, dass 40 Prozent oder mehr der Kinder in die Notbetreuung kommen werden.
Stefan Spieker, Geschäftsführer des Berliner Kitaträgers Fröbel Bildung und Erziehung, zeigte im Tagesspiegel die Probleme der kurzfristigen Lockerungen auf: „Wir hätten uns als Träger gewünscht, dass das Hochfahren in Schritten erfolgt und jeweils die Folgen auf das Infektionsgeschehen überprüft werden. Generell sollten solche Entscheidungen im Vorfeld mit den Akteuren abgestimmt werden.“
Für eine Betreuung, die über ein Drittel der Kinder hinausgehe, so Spieker, seien zwei bis drei Wochen Vorlauf nötig. 1,5 Meter Abstand wahren, das gehe in Kitas nicht. „Einige unserer Fachkräfte haben Angst, sich anzustecken, und wir müssen auch diese berechtigten Sorgen berücksichtigen, so gern wir Eltern und Kindern helfen wollen.“
Manche Bundesländer hebeln den ursprünglich restriktiven Anspruch auf Notbetreuung sogar noch weiter aus. So führt Niedersachsen in seinen Härtefallregelungen auch „drohende Kündigung und erheblicher Verdienstausfall“ als Kriterium an. Auch hier dient die soziale Notlage als Vorwand, Eltern dazu zu bewegen, mitten in einer Pandemie mit weltweit fast 3 Millionen Infizierten an die Arbeit zurückzukehren.
Rheinland-Pfalz hat einen vagen Grundsatz für Einzelfallentscheidungen eingebaut. Danach hat jeder Notbetreuungsanspruch, der „andernfalls nicht am Erwerbsleben teilnehmen“ kann.
Am klarsten ist jedoch die grün geführte Landesregierung von Baden-Württemberg. Ab dieser Woche haben dort alle einen Notbetreuungsanspruch, die einen „präsenzpflichtigen Arbeitsplatz“ haben und vom Arbeitgeber einen Unabkömmlich-Nachweis erhalten. Zeitgleich ermöglicht die neue Verordnung eine Ausweitung der Betreuungskapazität auf 50 Prozent der Normalgröße.
Das im grün regierten Autobauerland derart drastische Lockerungen für Kitas durchgesetzt werden, dürfte kaum ein Zufall sein. Daimler und andere Konzerne sind wild entschlossen, ihre Produktion wieder hochzufahren, um damit ihre Konkurrenten unter Druck zu setzen. Mit der Ausweitung der Notbetreuung für potenziell alle Fabrikarbeiter assistiert ihnen die Politik dabei.
Die Wut und Empörung über den Umgang mit Kitas und Eltern während Corona ist groß.
Katharina Mahrt, eine Mutter aus Berlin, deren Petition für ein Corona-Elterngeld bereits über 42.000 unterstützen, erklärt darin: „Als ich die Pressekonferenz am 15.04. mit Angela Merkel zu den weiteren Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie gehört habe, war ich einfach nur wütend. […] Ich habe die Nase voll – deswegen fordere ich von der Politik, dass sie endlich aufhört, die Belange von Familien zu ignorieren.“
Erzieher wiederum lehnen mit großer Mehrheit die schnelle Ausweitung der Notbetreuung ab, und viele sprechen sich für eine Schließung bis zu den Sommerferien aus. Alle haben vollstes Verständnis für die Notlage der Eltern. Doch fehlendes Geld und die drohende Pleite von Betrieben kann nicht auf Kosten von Erziehern gelöst werden, schreibt Erzieher Jonas aus Breisgau.
Dann erklärt er: „Pädagogen opfern sich gerne bis zum bitteren Ende, haben Verständnis für alles und jeden und ... sie sind alle bereit sich dem Risiko auszusetzen, in dieser Zeit Kinder zu betreuen. Eine Tätigkeit, bei der man sich mehr Viren einfangen kann, als bei fast jeder anderen.“ Für wirtschaftliche Probleme seien Pädagogen aber nicht zuständig. „Niemand sollte in dieser Zeit weniger Geld verdienen und niemandem sollte es an die Existenz gehen. Aber es kann nicht sein, dass diese Grundsicherung mit der Gesundheit der ärmeren Bevölkerung finanziert wird, statt mit dem Geld der Reichen.“