Griechenlands Krankenhäuser kollabieren in der zweiten Corona-Welle

Die zweite Welle der Pandemie hat das griechische Gesundheitssystem, das über Jahrzehnte ausgeblutet wurde, an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die Todes- und Infektionszahlen schnellen in die Höhe, Ärzte und Pflegekräfte schlagen Alarm.

Für Donnerstag hat die Gewerkschaft des öffentlichen Diensts zu einem 24-stündigen Streik aufgerufen, weil sie befürchtet, dass die brodelnde Stimmung in den Belegschaften explodiert. Bereits am 10. November hatten Krankenhausmitarbeiter in Athen, Thessaloniki und anderen Städten kleinere Proteste organisiert und im Oktober streikten und protestierten tausende Schüler gegen die kriminelle Corona-Politik der griechischen Regierung.

1.815 Tote und über 95.000 Infektionen bei 10,4 Millionen Einwohnern – das ist der traurige Höchststand in Griechenland am Dienstagabend. Allein im Monat November sind schon fast doppelt so viele Menschen am Virus gestorben wie in der gesamten Zeit von Pandemiebeginn bis Oktober zusammen. Am Samstag erreichte die tägliche Todeszahl mit 108 einen Rekord. 549 Menschen sind aktuell an Beatmungsgeräten angeschlossen.

Krankenhausbeschäftigte testen eine Frau in Athen auf Corona, 23. November 2020 (AP Photo/Thanassis Stavrakis) [AP Photo/Thanassis Stavrakis]

Griechenland war in der ersten Phase der Pandemie dank eines schnellen und harten Lockdowns nicht so stark betroffen wie andere Länder. Doch seit dem Sommer springen die Zahlen nach oben, weil die Regierung unter der rechten Nea Dimokratia (ND) die Wirtschaft und Schulen verfrüht und umfassend geöffnet hatte.

Erst im November wurde ein erneuter Teil-Lockdown verhängt und die Schulen und Kindergärten geschlossen. Das Haus darf nur aus bestimmten Anlässen wie Arbeit oder Arztbesuch verlassen werden. Restaurants, Kultur und Geschäfte außer Supermärkte und Apotheken sind geschlossen. Die Maßnahmen umfassen jedoch nicht Industrie, Großhandel und Hotels und kamen zudem viel zu spät. Das Virus wütete bereits in allen Teilen der Gesellschaft. 

Laut Angaben des Gesundheitsministerium vom Freitag sind in Griechenland mindestens 82 Prozent der Intensivbetten belegt. Die Krankenhäuser brechen unter der Last der neuen Fälle zusammen. Sie können sich zum jetzigen Zeitpunkt nur über Wasser halten, weil Ärzte und Pflegepersonal mit aller Kraft versuchen, das Unmögliche möglich zu machen und unter widrigsten Bedingungen den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Besonders gravierend ist die Situation in Nordgriechenland. „Wir sind in einer verzweifelten Lage, die Intensivstationen sind voll“, warnt Nikos Kapravelos, der Leiter der Intensivstation des Krankenhauses Papanikolaou in Thessaloniki, im Fernsehsender Skai. In Thessaloniki stehen Sonderzüge bereit, um Corona-Kranke in andere Städte und sogar ins 500 km entfernte Athen zu transportieren.

Der Notarzt Vasilis Tsapas berichtete gegenüber Mega TV, dass Covid-Kranke in anderen Räumen beatmet werden mussten, obwohl dort nicht die geeigneten Bedingungen wie auf der Intensivstation existieren. Es seien keine Vorbereitungen getroffen worden, um das Gesundheitssystem zu stärken, so Tsapas.

Tödliche Triage

Die Durchseuchungspolitik der Regierung treibt die Ärzte in die tödliche Sackgasse der Triage – die Auslese der Patienten. Ein schockierender Fall in der nordgriechischen Stadt Florina vor wenigen Tagen zeigt, was das für die Menschen und ihre Liebsten bedeutet. Im Gespräch mit Mega TV schilderte Kostas Ikonomidis die letzten Tage seines Vaters, der in nur fünf Tagen nach der Diagnose dem Coronavirus erlag, weil kein Beatmungsgerät für ihn verfügbar war.

„Die Situation ist tragisch, weil wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir entscheiden müssen, wer leben und wer sterben wird“, so Ikonomidis. Die Ärzte des Krankenhauses von Florina „haben uns gesagt, dass es in Nordgriechenland keine Intensivbetten gibt, sie sagten: ‚Glauben Sie mir, selbst wenn ein Bett gefunden wird, zum Beispiel in Thessaloniki oder Larissa, werden sie es Ihrem Vater, der 73 Jahre alt ist, nicht geben, sondern jemand jüngeren vorziehen, der höhere Überlebenschancen hat.‘“ Ikonomidis konnte der Beerdigung seines Vaters nur über Video beiwohnen. „Ich bin am Boden zerstört“, schreibt er in einem Facebook-Post.

In den letzten Wochen haben sich auch die griechischen Gefängnisse in Brutstätten des Virus verwandelt. Über 100 positive Fälle und zwei Tote wurden im Gefängnis Diavata bei Thessaloniki registriert. Das Virus hat dort – wie auch in anderen Gefängnissen – leichtes Spiel, weil die Insassen wegen drastischer Überbelegung von 140 Prozent keine Abstände einhalten können.

Noch abscheulicher sieht es in den überfüllten Flüchtlingslagern und -heimen aus, wo sich Corona wie ein Lauffeuer verbreiten kann. Auf Samos waren Anfang November über 100 Menschen infiziert und wurden zur Quarantäne in winzige, dreckige Container gesperrt.

Gleichzeitig grassieren die Ansteckungen im Krankenhauspersonal. Laut dem staatlichen Nachrichtensender ERT waren am Sonntag 1.500 Krankenhausmitarbeiter wegen Covid-19 krankgeschrieben. Vor einer Woche erlag ein 42-jähriger Lungenarzt in Athen dem Virus, nachdem er sich bei einem Patienten angesteckt hatte. Nur einen Tag später starb eine 49-jährige Frau im Universitätsklinikum Achepa in Thessaloniki, wo sie in der Radiologie gearbeitet hatte.

Seit Oktober nehmen auch die Infektionszahlen unter Kindern und jungen Menschen dramatisch zu. Wie der Fernsehsender Open TV berichtet, wurden bis zum 20. November fast 6.000 Infektionen bei Kindern unter 17 Jahren verzeichnet – sechsmal soviel wie bis Ende September.

Kostas Imprialos, ein Pathologe am Krankenhaus Ippokratio in Thessaloniki, erklärte gegenüber Open TV: „In der letzten Zeit haben wir unter den Kranken auch viele Patienten in den Dreißigern.“ Mittlerweile „sehen wir unter ihnen einen sehr großen Anteil, vielleicht 30 bis 40 Prozent, die keine nennenswerten Vorerkrankungen und trotzdem einen sehr schweren Covid-Verlauf haben“.

Am Montag verlor ein 25-Jähriger aus Serres den Kampf gegen das Virus. Zwei Tage zuvor starb der 39-jährige Athener DJ Decibel (Dimitris Belos), der vorher kerngesund war. Er hinterlässt seine Frau, ein Kleinkind und ein Neugeborenes. Der bekannte Musiker hatte sich vermutlich im Oktober bei einem Auftritt angesteckt, wie ein Freund berichtet, dessen Mutter ebenfalls an Covid gestorben ist.

„Die Mitarbeiter sind verzweifelt“

Angesichts dieser erschütternden Notsituation kocht die Wut in der Arbeiterklasse und vor allem im Gesundheitswesen. „Die Mitarbeiter sind verzweifelt“, schreibt der Personalrat des Allgemeinen Krankenhauses Chalkidikis in einem Brandbrief an den Gesundheitsminister, den die Onlinezeitung ThePressProject veröffentlicht hat. „Man geht nicht ohne Soldaten und Vorräte in einen Krieg.“ Sie schildern die schwierigen Bedingungen für das überforderte und unterbesetzte Personal in den Abteilungen. Auf ihre Sorgen, dass sie so „nicht sicher arbeiten“ können, habe ihr Krankenhausdirektor geantwortet: „Wer nicht kann, soll kündigen.“

In ihrem Brief fordern sie den Rücktritt des Direktors und sofortige Schutzmaßnahmen und Aufstockung des Personals durch die lokale Regierung und Parteienvertreter. „Wo war der Staat, als die Pandemie auf niedrigem Niveau war? Warum wurde in dieser ganzen Zeit nichts organisiert, obwohl sie wussten, dass im Herbst die zweite Welle der Pandemie kommt? Die Situation ist extrem kritisch!!! WIR SIND ALLEIN!!!“

Die Pathologin Christina Kydona gibt in einer Online-Veranstaltung Einblick in die Arbeit auf einer Covid-Station des Ippokratio-Krankenhauses in Thessaloniki, wo statt der geplanten 50 Corona-Patienten jetzt 300 zu versorgen sind: „Ich möchte gar nicht über die Müdigkeit, die Erschöpfung, die ständige Erkrankung des Personals sowie die umsichgreifende Angst sprechen, die im Krankenhaus herrschen… Ein Facharzt und ein Assistenzarzt betreuen 50 Patienten und arbeiten 26 Stunden ohne Pause in ihren Schutzanzügen, bei mindestens 30 Prozent sehr schweren Fällen.“

Hinzu kommt: Griechische Ärzte und Pflegekräfte leben faktisch von Niedriglöhnen. Ein Arzt im öffentlichen Sektor (Stufe „epimelitis B“) erhält laut To Vima im Schnitt 1.200 Euro im Monat – rund 40 Prozent weniger als noch vor zehn Jahren. Dabei liegen die Lebenshaltungskosten in Griechenland nur geringfügig unter denen Deutschlands.

Letzte Woche hatte Regierungssprecher Stelios Petsas einen Corona-Bonus für verschiedene Berufszweige angekündigt. Als er darauf angesprochen wurde, ob auch die Ärzte unterstützt werden, antwortete er lachend, das sei nicht geplant.

Besonders prekär ist die Situation von Assistenzmitarbeitern und -ärzten, die keine Festanstellung haben. Am Freitag wurden Assistenzmitarbeiter des Nationalen Rettungsdiensts EKAV in Thessaloniki informiert, dass ihnen im Oktober und November kein Gehalt ausgezahlt wird.

Statt alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Gesundheitsnotlage zu lindern und Leben zu retten, plant die herrschende Klasse schon die möglichst baldige Wiedereröffnung der Schulen und das vollständige Hochfahren der Wirtschaft (die meisten Unternehmen blieben ohnehin geöffnet). Man spekuliert über Mitte Dezember, um das Weihnachtsgeschäft nicht zu verpassen. Wie in anderen europäischen Ländern lautet der Schlachtruf der herrschenden Klasse „Profite vor Leben“. Gelder werden nicht für die Gesundheit und den Schutz der Bevölkerung mobilisiert, sondern kommen vor allem den Banken und Großunternehmen zu Gute. Gestern verkündete die Regierung, weitere 120 Millionen Euro Staatshilfe an die Aegean Airlines zu schenken.

In Bezug auf die Pandemie versuchte Entwicklungsminister Adonis Georgiadis am Montag, die katastrophel Corona-Politik seiner Regierung als positiv zu verkaufen: „Wir sind 12mal besser dran als Belgien“, behauptete er in einer zynischen Aufrechnung der Toten.

Privatisierung und Aufrüstung statt Pandemiebekämpfung

Inmitten dieser Krise nutzt die rechte ND unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis die Gelegenheit, um die lang gehegten Privatisierungspläne im Gesundheitswesen weiter voranzutreiben. Ärzte fordern seit langem eine sofortige Beschlagnahmung aller Privatkliniken im Kampf gegen die Pandemie. Am Freitag erklärte das Gesundheitsministerium, es hätte zwei Privatkliniken in Thessaloniki „beschlagnahmt“. Zuvor hatte die Regierung monatelang mit den Besitzern der Privatkliniken verhandelt, aber diese hatten sich aus Kostengründen geweigert, Betten für Covid-Patienten zur Verfügung zu stellen.

Die jetzige angebliche „Beschlagnahmung“ der Privatkliniken entpuppt sich bei näherem Hinsehen als weiterer Schritt der Regierung, um den privaten Sektor auf Kosten des öffentlichen Fiskus zu stärken. Am Montag kam ans Licht, dass Personal der unterbesetzten öffentlichen Krankenhäuser in eine der „beschlagnahmten“ Privatkliniken beordert wird, um dort zu arbeiten. Außerdem erhalten die Privatkliniken pro Tag eine Entschädigungssumme – weil „wir hier ja nicht in Sowjetland sind“, wie Gesundheitsminister Vasilis Kikilias sarkastisch kommentierte.

In einer Stellungnahme auf Facebook sprach Dafni Katsimba, die Vorsitzende der Vereinigung der Krankenhausärzte von Thessaloniki, von einer „Schande“. In Wirklichkeit werde damit der „öffentliche Sektor vom Privatsektor beschlagnahmt – statt umgekehrt“.

Die tödliche Politik der Regierung soll im nächsten Jahr mit Tempo fortgeführt werden. Das zeigt der Haushaltsentwurf 2021, der in diesen Tagen im Wirtschaftsausschuss diskutiert wird. Medienberichten zufolge sieht der Entwurf nicht etwa eine massive Aufstockung, sondern eine Kürzung der öffentlichen Gesundheitsausgaben um 572 Millionen Euro vor. Während in diesem Jahr 4,83 Milliarden für die Gesundheit bereitstanden – davon 523 Millionen für die Bekämpfung der Pandemie – sollen es im nächsten Jahr nur 4,26 Milliarden sein, und davon nur 131 Millionen für Corona-Maßnahmen. Laut OECD-Zahlen steht Griechenland im europäischen Vergleich an vorletzter Stelle bei den zusätzlichen Gesundheitsausgaben im Kampf gegen Covid-19.

Stattdessen will die Regierung noch mehr Geld in die riesige Kriegsmaschinerie pumpen: Der Verteidigungshaushalt soll um 30 Prozent von 3,8 Milliarden in diesem Jahr auf 5,4 Milliarden Euro im nächsten Jahr steigen.

Diese Pläne enthüllen vor aller Augen, dass der ungeheure Aderlass in der Pandemie kein unausweichlicher Schicksalsschlag, sondern die Folge einer bewussten Klassenpolitik ist, die von allen kapitalistischen Parteien unterstützt wird. Bevor die ND im vergangenen Jahr an die Regierung zurückkehrte, hatte die pseudolinke Syriza-Regierung unter Alexis Tsipras vier Jahre lang die Politik des Sozialkahlschlags, Militarismus und der Angriffe auf Flüchtlinge organisiert und mithilfe der Gewerkschaften gegen den Widerstand in der Arbeiterklasse durchgesetzt. In den Jahren davor spielte die gleiche Rolle die mittlerweile völlig diskreditierte sozialdemokratische PASOK.

Loading