Hohe Infektionszahlen im Bereich von Zwanzigtausend, Sieben-Tages-Inzidenzen bis zu 600 in einzelnen Landkreisen und ein R-Wert, der sich dauerhaft oberhalb der Marke eins bewegt: All dies zeigt, dass die Pandemie in Deutschland weiter wütet. Seit dem 11. Januar soll laut den Bund- und Länderregierungen ein „verschärfter Lockdown“ gelten. Aber die ganze Industrie, Bürobetriebe, die meisten Schulen und Kitas und der öffentliche Nahverkehr laufen munter weiter. Das Coronavirus grassiert, und das Sterben geht weiter.
Am Mittwoch meldete das RKI wieder 1060 neue Corona-Todesfälle in nur 24 Stunden. Weltweit sind bisher fast zwei Millionen Covid-19-Patienten verstorben, in Europa sind es (mit Russland) fast 600.000 Corona-Tote, und Deutschland gehört nach den Todeszahlen zu Europas Spitzenreitern. Seit dem 12. Dezember 2020, in nur einem Monat, hat sich die Gesamtzahl der an Sars-CoV-2 Verstorbenen auf 42.600 verdoppelt. Viele Arbeiter sind gestorben, darunter der Berliner Straßenbahnfahrer Sven B. (49) oder der Berliner Lehrer Soydan A. (38).
Letzte Woche ist im westfälischen Kamen auch eine 44-jährige Erzieherin an den Folgen des bisher größten Massenausbruchs in einer Kita gestorben. Am 16. Dezember wurde die Kita Sankt Marien nach einer Masseninfektion geschlossen. Von den zwölf Beschäftigten und 65 Kindern wurden insgesamt 41 Personen Corona-positiv getestet. Laut RKI sind allein seit Dezember fünf Pädagogen an Sars-CoV-2 verstorben, und mindestens 503 Lehrer und Erzieher sind zurzeit so schwer krank, dass sie stationär behandelt werden müssen.
Gleichzeitig breitet sich die mutierte Virusvariante B.1.1.7, die in Teilen Londons den Kollaps des Gesundheitssystems verursachte, nun auch in Deutschland aus. Sie ist etwa anderthalb Mal so ansteckend wie das bisher bekannte Virus. Auch in Irland hat sie schon dazu geführt, dass die dortige Sieben-Tages-Inzidenz von 41 pro 100.000 Einwohner vor Weihnachten auf über 940 hochschnellte.
Eine weitere Eigenheit der neuen, extrem ansteckenden Coronavirus-Mutanten besteht darin, dass sie sich besonders unter Kindern rasch ausbreitet. Eine breit angelegte britische Untersuchung ergab, dass die 11- bis 16-Jährigen sich besonders häufig ansteckten und das Virus deutlich rascher an Familie, Freunde und Bekannte weitergaben. Umso dringender wäre das konsequente Schließen der Schulen und Kitas.
Dies haben auch über tausend europäische Wissenschaftler gefordert, die Mitte Dezember einen europaweit koordinierten Lockdown vorschlugen, um die Infektionszahlen auf ein Niveau zu reduzieren, bei dem die Gesundheitsämter die neuauftretenden Fälle wieder nachverfolgen und isolieren können. Doch die Regierungspolitiker aller Parteien weigern sich, diesen Kampf gegen das Virus zu führen. Deshalb haben die WSWS und die SGP seit langem vorgeschlagen, in allen Betrieben und Bildungseinrichtungen Aktionskomitees aufzubauen mit dem Ziel, einen landes- und europaweiten Generalstreik vorzubereiten und den Corona-Schutz in die eigenen Hände zu nehmen.
In der Arbeiterklasse wächst die Unterstützung dafür rasch an. Überall entstehen neue Initiativen von Schülern, Eltern und Erziehern, die nicht bereit sind, Opfer einer Politik zu werden, die bewiesen hat, dass sie über Leichen geht. Letzte Woche hat eine Petition auf Change.org gegen die Öffnung der Schulen in kurzer Zeit über 50.000 Unterschriften erzielt.
In Berlin haben die Kita-Erzieher am gestrigen Dienstag einen geharnischten Brief an die Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gerichtet. Sie haben in den Kitas zu wenig FFP2-Masken und Testmöglichkeiten, von Luftfiltern ganz zu schweigen, und sie fordern, bei den Impfungen schneller berücksichtigt zu werden. Die Kita-Erzieher, die zu den Berufsgruppen mit der größten Infektionsgefahr gehören, werden in der Pandemie regelrecht verheizt. Der Senat hatte die Eltern sogar schriftlich aufgefordert, „Verdienstausfälle zu vermeiden“ und die Kinder in die Notbetreuung zu schicken.
Die Bildungseinrichtungen müssen offen bleiben, damit die Wirtschaft weiterlaufen kann und die Profite weiter sprudeln. Deshalb werden auch Covid-19-Ausbrüche in der Industrie praktisch totgeschwiegen, obwohl es sie natürlich gibt. Ein Beispiel dafür sind die Ausbrüche in den Schlachthöfen, die den Medien kaum eine Zeile wert sind. Im Vion-Schlachthof in Crailsheim (Baden-Württemberg) sind mindestens 23 Mitarbeiter positiv auf Covid-19 getestet worden, aber die Gesundheitsbehörde stimmte zu, den Schlachtbetrieb weiter laufen zu lassen. Davor gab es im November und Dezember schon Massenausbrüche in den Schlachthöfen in Vilshofen (100 Infizierte) und Landshut (43 Infizierte).
Auch aus der Autoindustrie und den Zulieferbetrieben wird kaum je über die Arbeitsbedingungen oder die Corona-Situation berichtet. Die Regierung verzichtet prinzipiell darauf, ihren „verschärften Lockdown“ auf die Produktionsbetriebe auszuweiten, und beschränkt sich auf „dringende Appelle“, die der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an die Unternehmer richtet. „Die Bänder laufen, und das soll möglichst auch so bleiben“, versicherte Heil der dpa.
Dies macht es den Konzernen natürlich leicht, solche „dringenden Appelle“ zu ignorieren oder arrogant zurückzuweisen. Das „Schweißen aus dem Home-Office“ habe noch niemand erfunden, sagte Siegfried Russwurm, neuer Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Russwurm war früher Siemens-Vorstand und sitzt unter anderem im Beirat des Schlachthofbetreibers Tönnies. Auch BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter nannte am Dienstag im ZDF-Morgenmagazin die Appelle der Regierung „unnötig“ und „unnütz“. Gesetzliche Vorgaben zum Home-Office wies Kampeter rundheraus zurück und behauptete wider besseres Wissen, damit seien die Infektionszahlen nicht zu verringern.
Auch die Landespolitiker selbst finden immer zynischere Rechtfertigungen für die Öffnung von Kitas und Schulen. Ein Beispiel ist die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Britta Ernst. Mit dem Argument, die Länder wollten „keinen Automatismus“, weigerte sie sich in den Tagesthemen, bundesweit einheitlichen Regeln zuzustimmen. Honigsüß erklärte Frau Ernst (auch Bildungsministerin von Brandenburg): „Wir machen eine Ausnahme für die Abschlussklassen, damit die Schüler nicht so die Leidtragenden der Corona-Pandemie sind.“
Die Ministerin kennt sich mit zynischen Rechtfertigungen aus. Für ihre heutige Aufgabe im Bildungsbereich hat Britta Ernst sich nicht etwa dadurch qualifiziert, dass sie jahrelang den Beruf einer Lehrerin oder Erzieherin ausgeübt hätte. Nein, die gelernte Immobilien-Kauffrau und Diplom-Ökonomin blickt auf eine dreißigjährige SPD-Parteikarriere im „Hamburger Klüngel“ zurück. Sie ist die Ehefrau von Olaf Scholz, dem langjährigen Hamburger Bürgermeister und heutigen Bundesfinanzminister, der Corona-Verluste der Konzerne und Banken schon mal „mit der Bazooka“ entschädigt, während sich Soloselbständige und Künstler mit Almosen begnügen müssen und die Arbeiter zu Tausenden entlassen werden.
Aus Hamburg kennt Britta Ernst natürlich auch Ties Rabe, den dortigen SPD-Bildungssenator, der über die Ausbrüche an den Hamburger Schulen so schamlos gelogen hat. Ihre Vizepräsidentinnen in der KMK sind die schon erwähnte Berliner Senatorin Sandra Scheeres (SPD) und Stefanie Hubig (SPD, Bildungsministerin Rheinland-Pfalz). Als dritte Vizepräsidentin amtiert Karin Prien (CDU, Bildungsministerin Schleswig-Holstein), die vor kurzem die Schulöffnungen mit dem wirklich zynischen Satz rechtfertigte: „Mehr frische Luft [als in den Schulen] finden Sie in keinem Büro in Deutschland.“
Um die immer lautere Kritik und die Forderungen nach Betriebs- und Schulschließungen aus der Arbeiterklasse zum Schweigen zu bringen, haben Politiker, TV-Moderatoren und Medien ein wahres Trommelfeuer an Propaganda gegen einen effektiven Lockdown entfesselt.
Den Auftakt bildete ein BILD-Talk mit Politikern, der Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) die Gelegenheit bot, gegen die Corona-Regeln zu wettern: „Es reicht jetzt“, so der notorisch rechte Palmer. „Anfang Februar müssen wir kontrolliert wieder aufmachen.“ Er setzte hinzu: „Wir müssen auch leben“, eine Bemerkung, die sich offensichtlich nicht auf Produktionsarbeiter, Pflegekräfte und Erzieher bezog. Weder der SPD-Politiker Karl Lauterbach noch ein anderer Teilnehmer war bereit, diesen rechten Tiraden Paroli zu bieten, während der BILD-Moderator den schwachen Regierungs-„Lockdown“ auf übelste AfD-Manier von rechts angriff.
Ähnlich bei der ARD-Sendung „Hart aber fair“ am Montagabend. Dort machten sich unter anderen die Welt-Journalistin Susanne Gaschke und der Ökonomieprofessor Michael Hüther über die Wissenschaftler Janssen, Drosten, Priesemann, Eckerle und Brinkmann lustig. Ihre Forderung nach einem Lockdown zur Erreichung einer Sieben-Tages-Inzidenz unter 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner sei so, als würde man der Gesellschaft eine Betonplatte überstülpen. Allein schon aufgrund der Witterung im Winter sei klar, dass die Inzidenz nicht unter 100 fallen könne.
Es sei „schlichtweg nicht möglich, das Virus auf Null herunterzudrücken“, machte Frau Gaschke Stimmung, und Prof. Hüther ergänzte: „Wir werden dauerhaft mit dem Virus zu tun haben. Wir werden dauerhaft Corona-Tote haben.“ Deshalb dürfe man doch die Wirtschaft nicht herunterfahren. „Wir müssen doch froh sein, dass die Lieferketten laufen und die Wirtschaft stabil ist.“
Ein Teilnehmer der Sendung, der Lungenarzt Dr. Cihan Çelik, Leiter einer Corona-Isolierstation, schilderte dagegen die grausigen Konsequenzen solcher Ansichten: Er hatte sich selbst schon mit Covid-19 angesteckt. Der 34-Jährige war zuvor topfit und ohne Vorerkrankungen, als er Halsschmerzen verspürte und 24 Stunden später auf der Intensivstation lag. „Innerhalb weniger Stunden hatte ich nur noch eine Lunge, mit der ich richtig durchatmen konnte“, berichtete der Arzt, der auch den Personalmangel und die 13-Stunden-Schichten in den Kliniken erwähnte. Sein Fazit: „Im Krankenhaus trifft man keine Corona-Leugner.“
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