Gestern meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 31.849 Neuinfektionen und weitere 1188 Covid-Tote in Deutschland, so viele wie nie zuvor. Bezogen auf die Bevölkerungszahl liegt die Todesrate in Deutschland mittlerweile höher als in den USA, wo gestern mehr als 4000 Tote registriert wurden. Das Washingtoner Institute of Health Metrics and Evaluation (IHME) schätzt, dass die gegenwärtige Pandemie-Politik der deutschen Regierung bis zum 1. April mehr als 91.000 Menschenleben gekostet haben wird.
Die Positivquote bei den Testungen liegt bei 16 Prozent und ist damit mehr als dreimal so hoch wie die WHO-Schwellwerte, jenseits derer eine Pandemieentwicklung als „außer Kontrolle geraten“ gilt. Während Krematorien mit der Beisetzung von Leichnamen oft nicht mehr hinterherkommen und Kliniken im ganzen Bundesgebiet kurz vor dem Kollaps stehen, haben die Kultusminister eine schnellstmögliche „Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts“ beschlossen, obwohl Schulen zentrale Treiber der Pandemie sind.
Bekräftigt wurde die systematische Öffnungspolitik am Dienstag von der Bund-Länder-Konferenz, deren Beschluss keine einzige Schließung von Büros und Fabriken vorsieht und außerdem eine „Notbetreuung“ in Kitas und Schulen verordnet, die es Arbeitern unmöglich machen soll, bei ihren Vorgesetzten eine Beurlaubung zu erwirken.
Mit besonderer Aggressivität wird diese Politik in den von SPD, Grünen und Linkspartei regierten Bundesländern durchgesetzt. Der rot-rot-grüne Senat von Berlin hatte zunächst geplant, bereits in der kommenden Woche alle abschlussrelevanten Jahrgänge und eine Woche später auch die ersten bis dritten Klassen in den Präsenzunterricht zurückzuschicken. „Ich möchte so dringend wie möglich in den Präsenzunterricht“, sagte Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin und Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, gestern im Berliner Abgeordnetenhaus.
Aufgrund der überwältigenden Opposition unter Eltern, Lehrern und Schulleitern sah sich die Landesregierung am Abend schließlich gezwungen, die Wiedereinführung der allgemeinen Präsenzpflicht auf den 25. Januar zu verschieben. Unterdessen sollen Schulen und Kitas zum Zwecke der Kindesverwahrung jedoch weiterhin geöffnet bleiben, damit Eltern zur Arbeit gezwungen werden können. Auch Prüfungen sollen „in allen Schulformen vor Ort durchgeführt werden“, erklärte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD).
Nur wenige Stunden zuvor hatte die Bildungsverwaltung einen Eilantrag mehrerer Beliner Schulleitungen noch abgelehnt, die eine Verschiebung der Schulöffnungen dringend erbeten hatten. Eine von Lehrern gestartete Online-Petitition mit dem Titel „Kein Präsenzunterricht in Berlin, solange Covid-19 nicht unter Kontrolle ist“, hatte innerhalb weniger Tage 40.000 Unterschriften erreicht.
In der Petition heißt es, mit seiner Politik „verlängert der Berliner Senat den Verlauf der Pandemie in Länge und Ausmaß in unabsehbarer Weise. [Bürgermeister Müller und Ministerin Scheeres] gießen Öl ins Feuer, wo Eindämmung geboten wäre. Sie verhöhnen damit die Anstrengungen der gesamten Gesellschaft, die Pandemie möglichst unbeschadet zu überstehen.“
Betroffen, so die Verfasser der Petition, seien einsame Heimbewohner, von Bankrott bedrohte Gewerbetreibende sowie „Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern, die einsam leiden und einsam sterben“.
Während die Durchseuchungspolitik insbesondere auf Intensivstationen und in Altenheimen bereits zu massenhaftem Sterben geführt hat, nehmen auch die Berichte von tödlich erkrankten Pädagogen, Verkehrsarbeitern und sogar Kindern zu. Den offiziellen Zahlen zufolge mussten in Deutschland zwischen März und Ende Dezember rund 800 an Covid-19 erkrankte Kinder intensivmedizinisch behandelt werden. Allein in Berlin liegen derzeit 12 Kinder auf der Corona-Intensivstation.
Tatsächlich sind Erzieher laut Daten der Krankenkassen Barmer und AOK – gefolgt von Pflegekräften und Lehrern – sogar mit Abstand am stärksten von einer Covid-19-Erkrankung gefährdet.
Zuletzt starb eine 44-jährige Erzieherin aus einer Kita im westfälischen Kamen. An der für den Deutschen Kitapreis 2021 nominierten „Vorzeige-Einrichtung“ war es mit 41 infizierten Kindern und Beschäftigten im Dezember zum bislang größten offiziell bestätigten Kita-Ausbruch gekommen, obwohl „alle Hygieneregeln eingehalten“ wurden. Das RKI führt in seiner Statistik derzeit 19 an Corona verstorbene Erzieher auf. 500 weitere mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden.
„Schüler, Lehrer und Erzieher werden nicht geschützt“, sagt Erzieherin Eileen T. aus Sachsen gegenüber der World Socialist Web Site. „Die Winterferien wurden um eine Woche verkürzt und vorgeschoben, um anschließend eine siebenwöchige Periode Präsenzunterricht zu garantieren. Die Abschlussklassen sollen bereits ab dem 18. Januar in geteilten Gruppen wieder zum Unterricht kommen.“ Die Politik der sächsischen Landesregierung hat dazu geführt, dass die Krematorien im ganzen Land seit Wochen durch ankommende Corona-Leichname überwältigt sind und sich in den Kühlhallen der Kliniken die Leichname teils mannshoch stapeln.
Obwohl die Lage in den angrenzenden Bundesländern Brandenburg und Thüringen ähnlich verheerend ist, wird auch dort die Öffnung von Schulen und Kitas im Interesse der Wirtschaft mit gleicher Unnachgiebigkeit betrieben. In Brandenburg herrscht Präsenzunterricht für alle Abschlussklassen und Förderschulen, Kitas sind grundsätzlich geöffnet. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Potsdam stellte sich hinter diese Politik und erklärte, die weitere „Öffnung“ müsse „gründlich vorbereitet werden“.
In Thüringen forderte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) gestern einen „Lockdown für die ganze Wirtschaft“, nachdem er nur wenige Tage zuvor gemeinsam mit der Kanzlerin und den Länderchefs das genaue Gegenteil beschlossen hatte. In Wirklichkeit lehnt Ramelow seit Beginn der Pandemie sämtliche – selbst lokale – Lockdown-Maßnahmen strikt ab und hat die von der schwedischen Regierung vertretene Politik der „Herdenimmunität“ öffentlich umarmt. Die Folge ist, dass Thüringen bundesweit die zweithöchste Sieben-Tage-Inzidenz (297) und die niedrigste Impfquote (3,7 Dosen je 1000 Einwohner) aufweist. In vielen Landkreisen befinden sich bis zu 35 Prozent aller Kita-Kinder in der sogenannten „Notbetreuung“, ohne dass das Personal geschützt ist.
„Diverse aktuelle Studien zeigen definitiv, dass Kitas zu den Hochrisikobereichen zählen“, sagte die Erzieherin Elli F. im Gespräch mit der WSWS. „Die Krankenkassen belegen eine hohe Covid-Gefahr bei Erzieherinnen und Erziehern und die Zahl der Kitakinder mit Antikörpern ist sechsmal so hoch wie die gemeldeten Fälle. Statt nach dem Motto ‚AHA+L‘ [Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen und Lüften] gilt bei uns eher HLH: Hände waschen, Lüften und Hoffen, dass es gut geht.“
Elli lehnt die Durchseuchungspolitik der offenen Schulen, Kitas und Betriebe inmitten der Pandemie strikt ab: „Ich bin Risikopatient – coronal, diabetisch, lungenkrank – und bin da ganz bei Ihnen. Wenn ich Covid-19 bekomme, werde ich schwere Folgeschäden erleiden oder sterben. Jedes Mal, wenn ich morgens zur Arbeit gehe, lade ich meinen Trommelrevolver mit einer Patrone. Ich habe keinen Schutz vom Arbeitgeber und erfahre keine Hilfe von der GEW. Mein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht den wirtschaftlichen Interessen des Trägers, Senats und Staates offenbar entgegen. So kann man Rentenleistungen sparen, wenn man die Alten opfert. Dabei bin ich 53 und wollte eigentlich noch ein bisschen leben.“
Eine zusätzliche, von der Pandemie-Politik herbeigeführte Bedrohung für die Arbeiterklasse stellt die Coronavirus-Mutante B.1.1.7 dar, die in Großbritannien mittlerweile für jede zweite Neuinfektion verantwortlich ist. Obwohl Bund und Länder nur in jeden 900. Corona-Fall das Genom des Virus analysieren lassen, wird der Virusstamm seit Heiligabend auch in Deutschland festgestellt. Er ist laut britischen Forschern um bis zu 70 Prozent ansteckender als alle anderen bisher festgestellten Varianten von SARS-CoV-2.
Die Variante hatte sich in Großbritannien unter Bedingungen eines angeblichen „Lockdowns“ vor allem in den weiterhin geöffneten Schulen ausgebreitet. Laut dem Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité sei das Ganze „mit sehr viel Rückenwind in den Schulen“ losgegangen und habe sich von dort „in die normale Bevölkerung weiterverteilt“.
Die Virologin Isabella Eckerle, Professorin am Zentrum für neu auftretende Viruskrankheiten in Genf, machte zu Beginn der Woche gegenüber Zeit Online eine düstere Prognose: „Ich denke, dass sich die Variante im Rest von Europa ebenso durchsetzen wird wie in Großbritannien.“ Dies, so Eckerle, bereite ihr „große Sorgen“: „Die Vorstellung, dass man gezielt diese eine Variante eindämmen kann, während man seit Monaten schon das bisherige Infektionsgeschehen nicht in den Griff bekommt, ist vollkommen illusorisch.“
Sollte sich bestätigen, dass die neue Virusvariante viel ansteckender als die bisherigen ist, so droht die Gefahr eines noch schlimmeren Massensterbens in Europa und auf der ganzen Welt. Der Mathematiker und Epidemiologe Adam Kucharski von der London School of Hygiene & Tropical Medicine weist auf Twitter darauf hin, dass eine leichtere Übertragbarkeit im Gegensatz zu einer erhöhten Fatalitätsrate einen exponentiellen Effekt auf den Anstieg der Todeszahlen ausübt.
Gestern meldete der Tagesspiegel den ersten Fall der neuen Variante in Berlin. In der betroffenen Familie aus Steglitz-Zehlendorf hatte es nur einen Tag gedauert, „dann waren alle krank“. Obwohl schon an Heiligabend ein positiver PCR-Test vorlag, ist es dem Gesundheitsamt noch immer nicht gelungen, alle Kontakte zu ermitteln. Die Zeitverzögerung über die Feiertage, so die Zeitung, mache eine Kontaktverfolgung jetzt zusätzlich „schwierig“.
In Ländern, die an Deutschland angrenzen, grassiert das Virus ebenfalls bereits. So berichteten die niederländischen Gesundheitsbehörden am Mittwoch von 50 Fällen der Virusvariante – 30 davon standen mit einer einzigen Grundschule in Verbindung. In Dänemark, wo elf Prozent aller positiven Corona-Fälle sequenziert werden, ist der Anteil von B.1.1.7 zwischen Kalenderwoche 49 und 52 von 0,2 auf 2,3 Prozent gestiegen. Österreich gab zuletzt bekannt, dass es sich bei drei der fünf nachgewiesenen Infektionen mit B.1.1.7 um Kinder handelt.
Im Heute-Journal fügte die Isabella Eckerle hinzu, es werde künftig „viel schwieriger, mit den bestehenden Maßnahmen das Infektionsgeschehen einzudämmen“, und warnte vor einer „großen dritten Welle“. „Wir wissen von den RNA-Viren, dass die sich relativ schnell anpassen können. Das bedeutet, wenn man auf sie Druck ausübt – z.B. durch Antikörper – dann können sich Varianten durchsetzen, die vielleicht etwas weniger stark von unserer Immunantwort angegriffen werden.“
Vor diesem Hintergrund warnte die Virologin vor dem hohen evolutionären Selektionsdruck, den eine falsche Impfstrategie ausüben könnte: „Die Diskussion, dass man vielleicht nur eine Impfstoffdosis gibt, halte ich persönlich für gefährlich, weil man dann eine große Population haben wird, die nur eine schwache Immunität hat und dadurch diesem Virus die Tür öffnet, weiterhin solche Mutationen zu entwickeln.“ Bereits jetzt beobachte man „Varianten, die ein bisschen die Tür geöffnet haben, um unter diesem Impfstoff hindurchzumutieren“. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftlerin lautet: „Ganz Europa bräuchte einen koordinierten Lockdown.“
Diese Forderung, die in ganz Europa von mehr als 1000 Wissenschaftlern und Forschern unterstützt wird, steht der Politik der Bundes- und Landesregierungen diametral entgegen. Während Kitas und Schulen mit aller Gewalt aufgerissen werden und kein einziger Industriebetrieb geschlossen wird, hat eine repräsentative Befragung der Hans-Böckler-Stiftung ergeben, dass im November nur 14 Prozent aller Erwerbstätigen überwiegend im Homeoffice ihrem Beruf nachgingen.
Unter diesen Bedingungen hängt alles davon ab, dass Aktionskomitees von Lehrern, Schülern und Arbeitern unabhängig von Parteien und Gewerkschaften in die Entwicklung eingreifen und der Politik des Todes ein Ende setzen. Sämtliche Bundestagsparteien und Regierungen jeglicher Couleur verfolgen gleichermaßen eine solche Politik und werden dabei von den Gewerkschaften unterstützt.
Um die Schließung der Schulen und nicht lebensnotwendigen Betriebe durchzusetzen, ist es notwendig, einen europaweiten Generalstreik zu organisieren und für ein sozialistisches Programm zu kämpfen. Zu den Forderungen, die erhoben werden müssen, zählen Milliardeninvestitionen in sichere Bildung, voller Einkommensersatz für Eltern und einen vollständigen Schutz der Risikogruppen und aller Arbeiter, die im Kampf gegen die Pandemie an der Front stehen.