Lehrer, Eltern und Schüler haben mit massiven Protesten auf die Pläne des Berliner Senats reagiert, die Schulen inmitten steigender Infektionszahlen weitgehend zu öffnen. Doch trotz dieses Widerstands und eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass Schulen ein Haupttreiber der Pandemie sind, hält die Landesregierung aus SPD, Grünen und Linkspartei an der Politik der Durchseuchung im Interesse der Wirtschaft fest.
Der Senat hatte zunächst geplant, bereits in der kommenden Woche alle abschlussrelevanten Jahrgänge und eine Woche später auch die unteren Klassen in den Präsenzunterricht zurückzuschicken. Ab Mitte Februar war dann die komplette Rückkehr zum Präsenzunterricht vorgesehen. „Ich möchte so dringend wie möglich in den Präsenzunterricht“, erklärte Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Abgeordnetenhaus.
Angesichts des dramatischen Anstiegs der Corona-Infektionen in der Hauptstadt löste die Entscheidung des Senats einen Sturm der Entrüstung aus, der ihn am Freitagabend zu einem teilweisen Rückzug zwang.
Christoph Podewils, ein Berliner Familienvater startete eine Online-Petition mit der Forderung: „Kein Präsenzunterricht in Berlin, solange Covid-19 nicht unter Kontrolle ist“, die bis zum Wochenende mehr als 45.000 Unterzeichner erreichte.Die Petition verlangte, dass Müller und Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) ihre „unverantwortliche Entscheidung“ zurücknehmen. Zuvor hatten sich auch Erzieherinnen und Erzieher in einem Brandbrief an Scheeres gewandt.
Mehrere Berliner Schulen wehrten sich ebenfalls gegen den Beschluss des Senats. Der Leiter des Steglitzer Fichtenberg-Gymnasiums, Andreas Steiner, erklärte im Tagesspiegel: „Nach meiner Meinung ist die geplante Öffnung der Schulen unverantwortlich und fahrlässig. Das diesbezügliche Wirken unseres Arbeitgebers stellt eine Gefährdung für die Bemühungen der gesamten Gesellschaft zur Eindämmung der Pandemie dar und riskiert die Gesundheit der Lehrkräfte, der Schülerinnen und Schüler und die Gesundheit der betroffenen Familien in unverhältnismäßiger Weise.“
Eine Schulleiterin aus Treptow-Köpenick sagte dem rbb, sie öffne ihre Schule am Montag auf keinen Fall. Zuvor hatten sich bereits Schulen in Neukölln gegen den Beschluss gewandt. Landesschülersprecher Richard Gamp forderte, bevor die Schulen wieder geöffnet werden, müssten erst wirklich belastbare Zahlen zum aktuellen Infektionsgeschehen da sein.
Der Landeselternausschuss reagierte empört: „Die häuslichen Kontakte werden auf eine Person reduziert. In den Schulen dürfen sich aber Schülerinnen und Schüler aus bis zu 16 Haushalten mit ihren Lehrkräften in Unterrichtsräumen treffen.“
In den Sozialen Medien wandten sich zahlreiche Nutzer gegen die gefährlichen Schulöffnungen. Unter Hashtags wie #LasstDieSchulenundKitaszu wurden in kurzer Zeit hunderte Posts gegen die Politik des Senats verfasst.
Nach dem teilweisen Rückzug des Senats bemerkte Ralf Treptow vom Verband der Oberstudiendirektoren: „Einmal mehr stellt sich die Frage, warum die Senatorin immer erst mit dem Rücken zur Wand grundsätzlichen Forderungen der Praktiker nachkommt.“
Einzelne Vertreter von Grünen und Linkspartei begrüßten die Verschiebung der Schulöffnung nach den Protesten. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie den ursprünglichen Öffnungsbeschluss vollumfänglich mitgetragen hatten. Seit Beginn der Pandemie zählt der rot-rot-grüne Senat zu den Vorreitern der Öffnungspolitik. Das Ergebnis sind erschreckend hohe Infektionszahlen und überlastete Kliniken.
Mittlerweile haben sich in Berlin über 105.000 Menschen mit dem Virus infiziert. 1560 sind daran verstorben. Ende der Woche wurde erstmals die neue Virusmutation in Berlin nachgewiesen, die möglicherweise deutlich ansteckender ist, als das bisherige Virus. Laut Forschern gibt es erste Hinweise, dass Kinder noch anfälliger für diese neue Viruslinie sind als Erwachsene, was das Risiko der Öffnung von Schulen und Kitas erhöht. In den letzten drei Tagen ist der Inzidenz-Wert in Berlin von 130,6 auf 191,7 gestiegen. Die Berliner Charité hat kürzlich ihr Notprogramm verlängert und ein Besuchsverbot ausgesprochen.
Welche verheerenden Folgen die geöffneten Schulen haben, wurde zuletzt durch den tragischen Tod des Lehrers Soydan A., der an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Kreuzberg unterrichtete, publik. Der junge Lehrer hatte sich mit großer Wahrscheinlichkeit im Schulbetrieb angesteckt. Doch auch solche Ereignisse lassen die Regierungsvertreter kalt.
Bis zuletzt verteidigten Müller und Scheeres ihre verantwortungslose Politik. Mit der ihr eigenen Arroganz und Kaltschnäuzigkeit erklärte Scheeres gegenüber dem Tagesspiegel sogar, es hätten sie „ganz viele Mails“ erreicht, die sie ermutigten, trotz der Proteste bei der Öffnungsentscheidung zu bleiben. Mit der ursprünglich vorgesehenen Rückkehr zum Präsenzunterricht ab Montag habe sie „genau das gemacht, was Eltern und Schulleitungen sich gewünscht haben“.
Die Öffnung, die die Gesundheit und das Leben von Tausenden Lehrkräften und Schülern aufs Spiel gesetzt hätte, bezeichnete die SPD-Politikerin als „eine bewusste Entscheidung, eine durchdachte Entscheidung“. Es gelte verantwortungsvoll abzuwägen zwischen dem nötigen Gesundheitsschutz und dem Recht auf Bildung. Gleiches erklärte der grüne Koalitionspartner: „Jeder Tag Lockdown bedeutet ein weiterer Tag, an dem die Schere zwischen denen, die lernen können, und denen, die nicht lernen können, größer wird“, sagte Fraktionschefin Silke Gebel.
Auch die nun beschlossenen Regelungen bieten keinen Schutz für Schüler, Lehrer und Erzieher. Dazu kommt, dass der Senat keinen Zweifel daran gelassen hat, dass er die Präsenzpflicht schnellstmöglich wieder einführen will.
So wird das Lernen zu Hause für Schüler der Klassen 1 bis 9 bis zum 25. Januar verlängert, wie Scheeres mitteilte. Für die Abschlussklassen 10, 12 und 13 an Gymnasien und Sekundarschulen sollen indes bereits ab kommender Woche Präsenzangebote in kleinen Gruppen möglich sein. Ob dabei so genannter Wechselunterricht mit Lernen zu Hause und in der Schule angeboten oder nur zu Hause unterrichtet wird, können die jeweiligen Schulen selbst entscheiden.
Die Präsenzangebote für Abschlussklassen sind in doppelter Hinsicht fahrlässig. Die Schüler und Lehrer sind nicht nur der Gefahr an den Schulen selbst ausgesetzt, sondern müssen auch – meist mit öffentlichen Verkehrsmitteln – zur Schule fahren. Bei den Abschlussklassen handelt es sich um jene Altersgruppen, die aktuell überdurchschnittlich häufig mit Covid-19 infiziert sind.
„Jeglicher Unterricht in den Schulen ist hochgradig gesundheitsgefährdend“, kritisierte Inessa die Entscheidung des Senats gegenüber der WSWS. Inessa soll in dieser Woche an einem Oberstufenzentrum in Berlin-Charlottenburg eine Klausur in Präsenz schreiben, obwohl es an der Schule bereits mehrere Infektionsfälle gab und Klassen in Quarantäne mussten. „Die Schulöffnungspolitik von Frau Scheeres angesichts der Millionen Covid-19-Toten weltweit ist so unerträglich menschenverachtend, dass diese Frau eingesperrt gehört.“ Es ist der Schülerin unverständlich, dass Online-Unterricht nicht so organisiert wird, dass er „vernünftig ist und richtig funktioniert“.
Dies bestätigt auch Frank (Name geändert), ein Grundschullehrer, der in Berlin-Mitte tätig ist. Er beklagt, dass er sich vom Senat allein gelassen fühle. So würden dringend benötigte Materialien für den Online-Unterricht erst jetzt geliefert. „Wer soll die Kinder in die Geräte jetzt unter diesen Bedingungen schnell einweisen?“ FFP2-Masken seien erst in der letzten Woche eingetroffen, und auch viel zu wenige, ergänzte Frank.
Wie Inessa ist auch Frank entsetzt über die Politik des Senats. „Obwohl das Virus bereits durch die Schule ging, herrschte nur in den Fluren Maskenpflicht.“ Lehrer und Schüler werden durch den Senat in eine unmögliche Situation gedrängt. „Warum hört niemand auf die Empfehlungen der Wissenschaft?“, diese habe seit Langem die Schulen als Treiber der Pandemie identifiziert.
Aus Inessas Sicht sind die Schulöffnungen „kompletter Wahnsinn“. Sie verurteilt die Heuchelei von SPD, Grünen und Linken, denen es angeblich um die Bildung der Kinder gehe. „Wenn sie sich für eine gute Bildung einsetzen würden, hätten sie schon vor Jahren für eine bessere Ausstattung an den Schulen, mit ausreichend Schulmaterialien, mehr Lehrern und hygienischen Toiletten gesorgt.“
Bezeichnend ist auch die Situation an den Kitas. Diese bleiben weiterhin im Notbetrieb. Bei geöffneten Betrieben bedeutet dies, dass Eltern weiterhin gezwungen sind, ihre Kinder in die Kita zu bringen, um arbeiten zu können. Damit sind die Erzieher, die Kinder und deren Eltern weiterhin der Gefahr von Infektionen ausgesetzt. „mpo“ twitterte dazu: „Die Kita meines Kindes in Berlin hat 190 Kinder, 160 sind jetzt in der Notbetreuung. Noch Fragen, warum der ‚Lockdown‘ nicht funktioniert?“
Um der skrupellosen Politik von Rot-rot-grün in Berlin entgegenzutreten, müssen Schüler, Eltern, Lehrer und Erzieher den Kampf in die eigenen Hände nehmen. Es müssen Aktionskomitees unabhängig von Parteien und Gewerkschaften aufgebaut werden und Streiks organisiert werden, um Schulen und nicht lebensnotwendige Betriebe zu schließen und so der kriminellen Politik der Durchseuchung ein Ende zu setzen. Es ist entscheidend, diese Offensive auf der Grundlage einer sozialistischen Perspektive zu führen. Wie sich in Berlin anschaulich zeigt, sind sämtliche Bundestagsparteien und Regierungen einer Politik verpflichtet, die Profite über Menschenleben stellt.
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