Türkei: Studierendenproteste trotzen polizeistaatlicher Willkür

Die Massenproteste von Studierenden in Istanbul setzten sich diese Woche trotz brutaler polizeilicher Unterdrückung fort. Sie richten sich gegen die Ernennung eines neuen Rektors durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan an der Boğaziçi-Universität, einer der renommiertesten Universitäten der Türkei.

Die Proteste werden in den türkischen sozialen Medien stark diskutiert. Sie haben die Sympathie breiter Bevölkerungsschichten. Sie treffen mit explosiver Wut und Opposition in der Arbeiterklasse und der Jugend über die Reaktion der Regierung auf die Pandemie, sinkenden Lebensstandard und zunehmende antidemokratische Maßnahmen in der Türkei und international zusammen.

Obwohl der Istanbuler Gouverneur Ali Yerlikaya alle Demonstrationen und Aufmärsche in den Stadtteilen Beşiktaş und Sarıyer verboten hatte, versammelten sich Hunderte von Studenten vor dem Verwaltungsgebäude der Boğaziçi-Universität und protestierten gegen den "Zwangsverwalter", den neu ernannten Rektor Prof. Dr. Melih Bulu. Während sie noch "Melih raus" skandierten, winkte Bulu ihnen während eines Live-Online-Interviews provokativ zu.

Trotz eines massiven Polizeiaufgebots rund um die Universität marschierten die Studenten fast acht Kilometer von der Boğaziçi-Universität zum Beşiktaş-Fährhafen. Sie setzten mit der Fähre in den Stadtteil Kadıköy über, um an einer Massendemonstration teilzunehmen, zu der Studentengruppen aufgerufen hatten. Entlang des Weges jubelten die Menschen, und Autofahrer hupten zur Unterstützung der Studenten.

Die Massendemonstration in Kadıköy, an der auch viele andere Studenten, Arbeiter und Sympathisanten teilnahmen, war eine kraftvolle Manifestation der wachsenden sozialen Wut gegen die Erdoğan-Regierung und ihren autoritären Kurs im Interesse der herrschenden Klasse. Dieselben Slogans wurden skandiert, die auch bei den Massenprotesten im Gezi-Park im Jahr 2013 schon populär gewesen waren. Damals hatte sich die Bewegung im ganzen Land ausgebreitet und die Regierung erschüttert. Damit gaben die Studenten zu verstehen, dass ihr Kampf so lange weitergehen wird, bis Melih Bulu zurücktritt und alle Inhaftierten freigelassen worden sind.

Auf einer Kundgebung verlasen die Studenten eine Erklärung im Namen der "Boğaziçi-Solidarität", in der sie drei Forderungen aufstellten: "1) Unsere inhaftierten Freunde müssen sofort freigelassen werden, 2) Melih Bulu und alle Rektoren, die zwangsweise eingesetzt worden sind, müssen sofort zurücktreten, 3) Wir verlangen demokratische Wahlen für die Rektoren aller Universitäten."

Mittlerweile breiten sich die Proteste der Studenten der Boğaziçi Universität schon auf andere Städte und Universitäten aus. Hunderte von Studenten an der Technischen Universität des Mittleren Ostens (ODTÜ) in Ankara gingen am Mittwoch mit auf die Straße, um ihre Solidarität zu zeigen. In Istanbul haben auch Studenten der Galatasaray Universität und der Mimar Sinan Kunsthochschule ebenfalls ihre Unterstützung erklärt, und auch in Izmir haben zahlreiche Jugendliche ihre Solidarität demonstriert.

Als Erdoğan Professor Bulu in einem Präsidialdekret am 1. Januar zum Rektor der Boğaziçi-Universität ernannte, begannen Proteste und Kritik mit dem Hinweis, dass Bulu bei den Parlamentswahlen 2015 für Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) kandidiert habe.

Akademiker der Boğaziçi-Universität gaben am Sonntag eine Erklärung heraus mit dem Titel: "Wir akzeptieren es nicht, wir geben nicht auf!", um sich dieser Ernennung zu widersetzen. Darin heißt es: "Dies ist ein weiterer Fall von vielen laufenden antidemokratischen Praktiken seit 2016, die auf die Abschaffung der Rektoratswahlen abzielen. Wir akzeptieren dies nicht, da es eindeutig gegen die akademische Freiheit und wissenschaftliche Autonomie sowie gegen die demokratischen Werte unserer Universität verstößt."

Die Studierenden nutzten die sozialen Medien, um gegen diese Entscheidung zu protestieren, und mehrere Studentengruppen riefen zu einer Demonstration am Montag auf, der Tausende von Studierenden begeistert folgten. Sie boykottierten auch den Unterricht, der wegen der Pandemie online stattfindet.

Die Regierung hat massive Polizeikräfte gegen die Massendemonstration an der Universität eingesetzt. Die Polizei ging mit Gummigeschossen und Tränengas hart gegen die Studenten vor. In einer beispiellosen Aktion versperrte die Polizei das Tor der Universität mit Vorhängeschlössern, um zu verhindern, dass Studenten innerhalb und außerhalb der Universität zusammenkommen.

Diese reaktionäre Offensive konnte die Studenten nicht davon abhalten, sich an der Universität zu versammeln. Auch Arbeiter unterstützten den Protest und riefen zur Solidarität im Klassenkampf auf. Arbeiter, die bei Bimeks, einer Elektronikfirma, einen Kampf für ausstehende Löhne und Abfindungen führen, nahmen ebenfalls an dem Protest teil. Der Unternehmer Vedat Akgiray, der an der Universität Vorlesungen über "Wirtschaftsethik" hält, war Chef von fast 1.500 Bimeks- Arbeitern, die 2016 ohne Bezahlung entlassen wurden.

Die Praxis der Regierung, Universitätsrektoren zu ernennen, geht auf das Jahr 2016 zurück. Es ist Teil einer breiteren autoritären und undemokratischen Offensive, die kurz nach dem gescheiterten, von der NATO-unterstützten Putsch gegen die Erdoğan-Regierung begonnen hatte.

In einer massiven Säuberungsaktion an den Universitäten, die sich seit 2016 gegen alle Regierungsgegner richtet, wurden Tausende von Akademikern per Präsidialdekret entlassen. Tatsächlich begann dies schon im Januar 2016, als über 1.000 Akademiker eine Erklärung im Namen der "Akademiker für den Frieden" veröffentlicht hatten, um sich gegen die laufenden Militäroperationen in den südöstlichen kurdischen Städten zu wehren. Diese Angriffe richten sich bis heute gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), und sie haben schon zu unzähligen Todesfällen, auch sehr vieler Zivilisten, geführt.

Schon als Erdoğan im Jahr 2016 Prof. Dr. Mehmed Özkan zum Rektor der Boğaziçi-Universität ernannte (obwohl die Vorgänger-Rektorin Prof. Dr. Gülay Barbarosoğlu mehr als 80 Prozent der Stimmen erhalten hatte), löste dies Proteste von Studierenden und Akademikern aus. Rektor Özkan war auch der Bruder eines AKP-Politikers.

Die Boğaziçi-Universität war 2018 auch Zeuge eines bedeutenden Anti-Kriegs-Protests mit Transparenten, auf denen zu lesen war: "Es gibt nichts zu Feiern an Krieg und Besatzung", was sich auf die Invasion der syrischen Stadt Afrin durch die türkische Armee und ihre islamistischen Stellvertreter bezog. Nach dem Studentenprotest an der Boğaziçi-Universität wurden viele Studenten verhaftet.

Seit den jüngsten Protesten geht die Regierung immer brutaler mit Polizeistaatsangriffen gegen die Studierenden vor. Dies ist ein verzweifelter Versuch, die wachsende Opposition in der Arbeiterklasse und der Jugend gegen die Pandemie und die sich vertiefende soziale und wirtschaftliche Krise zu unterdrücken und einzuschüchtern. Mindestens 36 Jugendliche sind seit Montag verhaftet worden.

Sondereinsatzkommandos mit schweren Waffen griffen die Studierenden mit Haussuchungen an und brachen Türen auf, um sie zu ergreifen und zu verhaften. Mehrere von ihnen wurden, Berichten zufolge, bei der Festnahme auf Polizeistationen einer Leibesvisitation unterzogen.

Der Sprecher des Innenministeriums, İsmail Çataklı, behauptete am Dienstag, einige Verhaftete hätten Kontakt zu "terroristischen Organisationen". Mit dieser Verleumdung soll die friedliche und legitime Studentenbewegung diffamiert werden, um die wachsende Unterstützung unter Arbeitern einzudämmen.

Devlet Bahçeli, Erdoğans Verbündeter und Führer der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), hat die Proteste an der Boğaziçi-Universität angeprangert und fordert staatliche faschistische Angriffe auf sie. "Der Versuch, einen Gezi-Park-Aufstand von der Boğaziçi-Universität aus zu starten, ist eine Verschwörung, die zerschlagen werden muss", sagte Bahçeli am Mittwoch.

Diese Drohung muss als eine Warnung für die Jugend und die gesamte Arbeiterklasse verstanden werden. Inmitten einer verheerenden Pandemie und Massenarmut und -arbeitslosigkeit geht die Regierung im Interesse der herrschenden Elite mit Polizeigewalt gegen die wachsenden Kämpfe der Arbeiterklasse vor. Mit brutalen polizeistaatlichen Methoden und faschistischen Kräften will sie ihre Politik der Herdenimmunität durchsetzen.

Die Studierenden müssen sich an die Arbeiterklasse wenden; sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die in der Lage ist, demokratische Rechte zu verteidigen. Nur die Arbeiterklasse kann einer Diktatur der herrschenden Klasse standhalten, indem sie den Kampf auf der Grundlage einer internationalen und sozialistischen Politik aufnimmt. Wir rufen die Studierenden auf, die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) an allen Bildungseinrichtungen aufzubauen, um in der gesamten Jugend eine internationale sozialistische Bewegung zu entwickeln.

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