Am Montag starben in Deutschland laut Robert-Koch-Institut 267 weitere Covid-19-Patienten in nur 24 Stunden. Gleichzeitig wurden bis Dienstagmorgen 14.419 Neuinfektionen registriert. Die Sieben-Tages-Inzidenz liegt bundesweit bei 145 Fällen pro 100.000 Einwohner, mit zahlreichen Hotspots, die weit höhere Inzidenzen aufweisen. Allein in Berlin sind zurzeit über tausend Covid-19-Patienten im Krankenhaus, von denen 274 auf der Intensivstation versorgt oder beatmet werden. Die Sieben-Tages-Inzidenz in Berlin-Mitte liegt bei 360.
In ganz Europa hat sich das Virus rasant ausgebreitet und bisher 330.000 Todesopfer gefordert. Im benachbarten Österreich haben die hohen Fallzahlen die Regierung am Samstag zum verschärften Lockdown und zu Schulschließungen gezwungen, und in Italien, Frankreich, Spanien und der Schweiz stehen Intensivstationen kurz vor dem Kollaps.
In dieser Situation halten die Regierungen von Bund und Ländern daran fest, dass Schulen, Kitas und Betriebe weiterlaufen müssen. Am Montagabend endete das Pandemie-Gespräch der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten ohne jedes Ergebnis. Angela Merkel (CDU) und die Länderchefs einigten sich auf unverbindliche „Appelle“ und weigerten sich, auch nur eine einfache Maskenpflicht an den Schulen verbindlich zu beschließen. Schulen und Kitas bleiben offen, und alle Entscheidungen werden auf den 25. November verschoben.
Inzwischen breitet sich die Pandemie über die offenen Einrichtungen weiter aus. Laut einem Bericht des Spiegel vom Montag haben sich die Corona-Infektionen bei Kindern in den letzten Wochen verzehnfacht. Laut RKI wurden in der ersten Novemberwoche mehr als 10.400 Corona-Infektionen bei Kindern unter 14 Jahren registriert (Anfang September waren es pro Woche noch weniger als tausend). Aus einer weiteren Untersuchung aus Bayern von letzter Woche geht hervor, dass sich sechsmal mehr Minderjährige als bekannt mit dem Coronavirus infiziert haben. Auch die Zahl der Kinder, die schwere Verläufe haben und ins Krankenhaus müssen, ist angestiegen.
Dramatisch ist die Lage auch im Pflegebereich. Die Intensivstationen kommen mit fast 3.500 intensivmedizinischen Patienten bundesweit an ihre Grenzen. In Kliniken, Arztpraxen und andern Gesundheitseinrichtungen sind aktuell 1.700 Ärzte und Pflegekräfte an Covid-19 erkrankt. Seit Beginn der Pandemie sind es mindestens 24.500, wobei die Dunkelziffer hoch ist. 25 von ihnen sind laut RKI gestorben.
Während die Regierung nichts tut, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen und das Leben der Beschäftigten zu schützen, erhöhen Politiker und Wirtschaftsmedien den Druck auf sie. Unter dem Titel: „Die Lehrer müssen einsehen, dass in der Krise ein Extrabeitrag notwendig ist“, reiht Barbara Gillmann im Handelsblatt eine Reihe von Beschuldigungen und Lügen aneinander.
In dem Text, der an die berüchtigte „Faule-Säcke“-Beschimpfung von Lehrern durch den ehemaligen Kanzler Gerhard Schröder (SDP) erinnert, schreibt Gillmann wahrheitswidrig: „Bisher gelten Schulen den Virologen noch immer nicht als Treiber der Pandemie“, und sie behauptet, einem Teil der Lehrer sei wohl „der ganze Aufwand mit den Masken und der Lüfterei in den Klassenzimmern schlicht zu viel“.
Noch deutlich weiter geht der jüngste Vorschlag des Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der am 13. November auf dem Deutschen Pflegetag erklärte, notfalls müssten auch positiv getestete Mitarbeiter von Kliniken und Pflegeheimen weiterarbeiten. Wenn infolge von Isolation und Quarantänemaßnahmen die Pflegekräfte fehlten, müsse man die Frage stellen: „Was ist neben der bestmöglichen Lösung die zweitbeste?“, so Spahn laut dpa. Dann bestehe die „Rückfallposition“ darin, „die positiv Getesteten mit ganz besonderen Schutzvorkehrungen auch arbeiten zu lassen“.
Darüber laufen die sozialen Medien mit wütenden Kommentaren heiß. „SchwesterUnbequem“, die im Intensivbereich arbeitet, kommentierte Spahns Forderung auf twitter als „Bankrotterklärung eines Staates in 5 Worten! Wir sind nichts wert! Nicht mal den Dreck unter den Fingernägeln der Nation!. WIR. SIND. NICHT. EUER. ALLGEMEINGUT!“ Sie fährt fort: „Wir verdienen es, geschützt zu werden. Und alles, was ich tun kann, ist ohnmächtig zugucken, wie man uns verheizt.“ Duncan Blues schreibt: „Die Pflegekräfte werden seit Jahren konsequent verbrannt und jetzt bei Corona kippen sie noch Kerosin auf den schwelenden Scheiterhaufen des Pflegenotstands.“
Andere bestätigen, dass dies tatsächlich „schon eine ganze Zeit so“ gewesen sei: „Solange keine Symptome vorliegen, muss weiter gearbeitet werden.“ Auch seien sie es „gewohnt, dass wir ausgenutzt und unter Druck gesetzt werden (einspringen, auch wenn man frei oder Urlaub hat).“
Frau Flausch schreibt: „Das ist übel. Wurde einem Bekannten, der Arzt ist, auch schon gesagt. Der sollte infiziert an einer großen Uniklinik als HNO weiterarbeiten.“ Neinhorn schreibt: „Es widert mich zutiefst an, wie man Pflegefachfrauen/männer als dienstleistende Fleischmasse verheizt und so tut, als ob es Dienstleistungsroboter mit Helfersyndrom wären. Das hat mich schon vor Covid angekotzt und es pervertiert immer mehr.“
L+ schreibt von einem „totalen Versagen in der Personalgewinnung in Pflege und Pädagogik“, und erklärt, es sei „politikgeschuldet“. Und Enije schreibt: „Nur weil ein Minister das sagt, müssen wir den Blödsinn noch lange nicht stumpf mitmachen. Ich kann mich nämlich nicht erinnern, einen Diensteid auf Gedeih und Verderb geschworen zu haben.“
Seit einigen Tagen taucht im Netz immer wieder die Frage auf, wie sich Betroffene wehren können. Beispielsweise schreibt Ingmar V.: „Es muss unbedingt über Lösungen nachgedacht werden, wie die Pflegschaft eine Art Streik führen kann, ohne Gefährdung der Gepflegten … Vorschläge?!“
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und ihre Schwesterorganisationen in Deutschland, Europa und weltweit haben solche Vorschläge. Wir schlagen vor, in Schulen und Betrieben unabhängige Aktionskomitees zu gründen und sie zu vernetzten, um den Schutz vor Corona unabhängig von den Gewerkschaften in die eigenen Hände zu nehmen und einen Generalstreik vorzubereiten.
Schon am 7. März schrieb die World Socialist Web Site: „Die Gleichgültigkeit der herrschenden Klasse gegenüber der Gesundheit der Bevölkerung ist nicht besser oder geradezu schlimmer als das Verhalten der Pharaonen gegenüber den Sklaven im alten Ägypten.“ Die SGP erklärte damals: „Die Bedürfnisse der Menschen stehen an erster Stelle. Die Bekämpfung einer Epidemie, die Millionen Menschenleben bedroht, darf nicht dem privaten Profitstreben untergeordnet werden … Wir müssen eine Massenbewegung der Arbeiterklasse aufbauen und sofortige Notfallmaßnahmen gegen die Krise fordern, die von den Unternehmen, der Regierung und der Finanzoligarchie bezahlt werden.“
Und als im Sommer die Rückkehr in die vollen Schulen, einschließlich des überfüllten öffentlichen Personennahverkehrs, organisiert wurde, warnte die WSWS, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die steigenden Infektionszahlen auch wieder auf die Senioren übergreifen und zu tausenden Toten führen würden.
Genauso ist es gekommen. Zurzeit steigen die Infiziertenzahlen in den Seniorenheimen bedrohlich an. Am Wochenende musste im Berliner Bezirk Lichtenberg ein Alten- und Pflegeheim teilweise evakuiert werden, in dem sich 30 Heimbewohner und 17 Mitarbeiter mit Corona angesteckt hatten. In kurzer Zeit sind 14 der erkrankten Bewohner verstorben.
Der private Heimbetreiber Kursana, der der Dussmann-Gruppe gehört und die besten Beziehungen zum rot-rot-grünen Berliner Senat unterhält, beschäftigt in seinen 116 Einrichtungen fast 7.000 Mitarbeiter, darunter zahlreiche Pfleger auf Leasingbasis. Kommentare im Netz berichten von „zu wenig und überlastetem Personal, das tagtäglich die eigenen Grenzen überschreitet“, und dass bei Kursana eine Pflegekraft neun Heimbewohner betreuen müsse.
Auch in Mannheim gab es Corona-Ausbrüche in zwei Einrichtungen. Mehr als 120 Menschen (93 Heimbewohner und 28 Pflegekräfte) wurden infiziert, und in kurzer Zeit sind acht Bewohner gestorben. Weitere Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen gab es im hessischen Bad Soden-Salmünster, im bayrischen Fürth mit 63 Infizierten, und in Karlsfeld bei München mit 48 Erkrankten und dreizehn Toten in einem einzigen Altenheim.
„Die Regierungschefs haben die Not in den Altenheimen ausgeblendet“, kommentierte Eugen Brysch, Leiter der Stiftung Patientenschutz, das Kanzlertreffen vom Montag. Brysch wies darauf hin, dass bisher die Hälfte der verstorbenen Covid-19-Patienten Bewohner von Alten- und Pflegeheimen waren.
Lehrern, Schulleitern, Eltern und Schülern ist dies in wachsendem Maße bewusst, und immer mehr von ihnen fordern Aktionen, um das Ausbreiten der Pandemie über offene Schulen zu stoppen – wobei sie jedoch auf den Widerstand der Politiker stoßen.
So beschloss die Stadt Solingen Anfang November, die Klassen aufzuteilen und wochenweise Präsenz- und Distanzunterricht im Wechsel abzuhalten. Aber die CDU-FDP-Landesregierung von NRW untersagte dies, und Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) führte als Grund die „Bildungsgerechtigkeit“ an.
Als in Lollar bei Gießen eine Gesamtschule beschloss, an einer freiwilligen Testreihe teilzunehmen, beteiligten sich fast 90 Prozent der Schüler daran. Vergangene Woche wurden die Testergebnisse an der Clemens-Brentano-Europaschule in Lollar bekannt, und von rund 750 Schülern der 5. bis 10. Klasse, die sich testen ließen, waren 60 Covid-19-positiv. Daraufhin wurde die ganze Schule geschlossen. Sie muss am kommenden Montag jedoch, nach knapp zwei Wochen, wieder im Normalbetrieb öffnen.
Zurzeit geht ein Video von Markus Söder rund, in dem der bayerische Ministerpräsident die tieferen politischen Motive für die Öffnungen von Schulen und Kitas offen ausspricht. Am 22.September erklärte Söder, dass der eigentliche Zweck der Schul- und Kitaöffnungen darin bestehe, die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Wörtlich sagte Söder: „Unsere Kinder müssen betreut werden, wenn wir den wirtschaftlichen Lockdown verhindern wollen. Das ist ja der Zusammenhang: Schule und Kita hatten den Sinn und Zweck auch, die Wirtschaft am Laufen zu halten.“ Im Prinzip sagen alle Politiker mit ihren Entscheidungen mehr oder weniger offen nichts anderes als Donald Trump, der am vergangenen Freitag der Wall Street versprach: „Diese Regierung wird keinen Lockdown einführen.“