Seit Beginn der Pandemie sind in Europa bereits mehr als 300.000 Menschen der Lungenkrankheit Covid-19 erlegen. Derzeit sehen sich nahezu alle europäischen Länder mit einer erneuten massiven Ausbreitung des Virus konfrontiert und es droht die Überlastung der Gesundheitssysteme. Infolgedessen könnten Hunderttausend weitere Menschen der Pandemie zum Opfer fallen. Es wird deutlich, dass das Coronavirus in Europa erneut außer Kontrolle geraten ist.
Als die Pandemie Europa im Frühjahr erreichte, war Italien eines der am stärksten betroffenen Länder. Derzeit spielen sich dort ähnliche Szenen ab wie vor acht Monaten. Am vergangenen Donnerstag starben 636 Menschen an Covid-19, am Mittwoch waren es 623. Seit April hat es keine so hohen Zahlen gegeben. Die Gesamtzahl der Infizierten überstieg am Dienstag die Grenze von einer Million, insgesamt 43.589 Menschen fielen dem Virus bislang zum Opfer.
Die italienischen Krankenhäuser stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Bis Mittwoch machten Corona-Patienten in neun von 21 Provinzen mehr als 50 Prozent der Patienten aus; in der Lombardei waren es 75 Prozent, im Piemont 92 Prozent und in Südtirol 99 Prozent. Da es bereits an Betten mangelt, haben sich vor den Krankenhäusern Schlagen von Rettungswagen gebildet.
Anders als bei der ersten Welle, als sich die Pandemie weitgehend auf den Norden des Landes beschränkte, hat das Virus nun einige ärmere Regionen im Süden getroffen. In Neapel musste diese Woche eine 78-jährige Frau 26 Stunden lang in einem Krankenwagen ausharren, bevor sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden konnte. Im Internet ging ein Video viral, das einen Patienten zeigen soll, der tot in einem Badezimmer einer Krankenhausstation liegt. Am Wochenende versorgten Krankenschwestern des Krankenhauses Catugno in Neapel Patienten mit Sauerstoff, während diese in ihren Autos saßen.
„Es fehlt nicht mehr viel, bis wir dem Andrang nicht mehr standhalten können. Ich kann nicht sagen, wann genau wir die Grenze erreichen werden, aber dieser Tag ist nicht mehr allzu fern“, sagte Dr. Luca Cabrini, Leiter der Intensivstation im Krankenhaus Circolo in Varese (Lombardei), gegenüber Associated Press. Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, warnte, seine Stadt und der Rest Siziliens könnten ein „vorhersehbares Massaker“ erleben.
In Frankreich sind von Donnerstag auf Freitag 425 Menschen gestorben. Seit Anfang Oktober gab es mehr als 10.000 Todesfälle, seit Beginn der Pandemie sind 42.960 Menschen dem Virus zum Opfer gefallen. Am vergangenen Montag sind 551 Menschen gestorben – der höchste Wert seit dem 6. April, als 613 Todesopfer verzeichnet wurden. In der Region Île-de-France um Paris sind mehr als 90 Prozent der Betten in der Notaufnahme belegt. In Auvergne-Rhône-Alpes ist die Kapazität der Notfallbetten mit 146 Prozent bereits überschritten und die Patienten werden bereits in andere Krankenhäuser verlegt.
In Großbritannien wurden am Mittwoch weitere 525 Todesopfer gemeldet. Die offizielle, von der Regierung bekanntgegebene Zahl der Todesopfer liegt nun bei über 50.000. Doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Das nationale Statistikamt schätzte, dass bis Oktober 61.000 Menschen dem Virus zum Opfer gefallen sein werden.
In Spanien gibt es unterdessen mehr als 1,4 Millionen bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus, sowie über 40.000 offiziell registrierte Todesfälle, darunter 356, die von Donnerstag auf Freitag innerhalb eines Tages gemeldet wurden. Eine Studie, die diese Woche im Open-Access-Journal PLOS ONE veröffentlichte wurde, weist nach, dass die durchschnittliche Lebenserwartung ab Zeitpunkt der Geburt in Spanien aufgrund der Pandemie zwischen 2019 und 2020 um 0,9 Jahre gesunken ist. In den Regionen Asturien, Murcia und Andalusien liegt die Zahl der täglichen Todesfälle unterdessen höher als zum bisherigen Höhepunkt der Pandemie im April.
Auch in Deutschland, dessen Umgang mit der Pandemie von den bürgerlichen Medien lange Zeit als vorbildlich gepriesen wurde, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle. Infolge der Öffnungspolitik sind Schulen zu Brutstätten des Virus geworden. Gegenwärtig befinden sich mehr als 300.000 Schüler und etwa 30.000 Lehrer in Quarantäne. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen (am Freitag waren es 23.542) sowie der Patienten, die auf einer Intensivstation versorgt werden müssen (3.186), liegen bereits höher als noch im Frühjahr. Über 1.800 Patienten sind auf Beatmungsgeräte angewiesen und kämpfen um ihr Leben. In einigen Städten und Regionen gibt es bereits keine freien Intensivbetten mehr, und die Zahl der Todesopfer steigt stetig.
In einigen kleineren europäischen Ländern ist die Zahl der Todesopfer gemessen an der Gesamtbevölkerung mit am höchsten. In der Schweiz, einem der reichsten Länder Europas mit einer Bevölkerungszahl von rund 8,6 Millionen, starben von Donnerstag auf Freitag 94 Menschen. Hochgerechnet auf ein Land von der Größe der Vereinigten Staaten entspräche dies mehr als 3.000 Todesfällen pro Tag.
Wie konnte es nur acht Monate nach dem Höhepunkt der ersten Welle der Pandemie so weit kommen? Im März wurden in Italien und Spanien erste Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen beschlossen, nachdem gewerkschaftsunabhängige Streiks die Regierungen gezwungen hatten, Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu ergreifen. Sie befürchteten einen Aufstand der Bevölkerung angesichts der Gleichgültigkeit, die sie trotz Tausender Todesfälle an den Tag legten.
Die europäische herrschende Klasse verfolgte diese Politik, wohlwissend, dass sie Hunderttausende Menschenleben kosten würde. Diese Todesfälle wären vermeidbar gewesen! Sie sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das von der Finanzoligarchie und ihren politischen Vertretern begangen wird.
Die Europäische Union nutzte die Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen, um zwei Billionen Euro zur Rettung von Unternehmen durchzusetzen. Obwohl die Maßnahmen zu einer starken Eindämmung des Virus führten, kam die herrschende Elite zu dem Schluss, dass ausgeweitete Einschränkungen inakzeptabel seien – egal, wie viele Menschen streben werden. Denn dies hätte bedeutet, die Produktion einzustellen und Einbrüche der Unternehmensgewinne hinzunehmen. Überall in Europa und auch in den USA wurden nicht systemrelevante Arbeitsstätten vorzeitig wieder in Betrieb genommen und Dutzende Millionen Menschen zurück an ihre Arbeitsplätze beordert, um weiter Profite zu erwirtschaften. Sichergestellt wurde dadurch allerdings auch, dass sich das Virus weiterverbreitet.
Bereits im Juli warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass das Virus sich erneut in ganz Europa ausbreiten werde. Doch die Regierungen unternahmen nichts.
Der französische Premierminister Jean Castex brachte den Standpunkt der herrschenden Elite am deutlichsten zum Ausdruck. Noch im Juli erklärte er, dass ein Lockdown „selbstverständlich die Ausbreitung der Pandemie stoppt, aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht ist das allerdings eine Katastrophe“.
Anfang Oktober, als die Gesundheitsbehörden öffentlich vor einem bevorstehenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems warnten, verhängten die Regierungen partielle Lockdowns. Nicht lebenswichtige Geschäfte bleiben aber weiterhin geöffnet. Dasselbe gilt für die Schulen, wo bis zu 35 Schüler in einem Klassenzimmer zusammengepfercht sind. Die herrschende Klasse braucht das öffentliche Bildungssystem zur Betreuung der Kinder, damit Eltern gezwungen werden können, zur Arbeit zu erscheinen.
Diese Woche forderte der italienische Ärzteverband öffentlich einen vollständigen Lockdown für das Land. Die Antwort von Premierminister Giuseppe Conte in der Zeitung La Stampa am Mittwoch lautete jedoch, dass „ein flächendeckender Lockdown nicht das Mittel erster Wahl sein sollte – die Kosten wären zu hoch“.
Oder anders ausgedrückt: Während ein Lockdown unzählige Leben retten könnte, sind die „Kosten“ dafür – also die Auswirkungen auf die Gewinne der Unternehmerelite – inakzeptabel. Vielmehr wird es von der herrschenden Elite als positiv gewertet, wenn alte und gebrechliche Menschen sterben und damit Einsparungen bei Renten und in der Gesundheitsversorgung ermöglichen.
Die Antwort auf die Pandemie darf nicht der herrschenden Klasse überlassen werden. Die Arbeiterklasse muss gegen die Profitlogik und die skrupellose Duldung weiterer Opfer vorgehen und eine wissenschaftliche Antwort auf die Krise erkämpfen. Die Sozialistischen Gleichheitsparteien rufen europaweit zur Bildung von Aktions- und Sicherheitskomitees in Schulen und Arbeitsstätten auf – unabhängig von den Gewerkschaften, die dazu beigetragen haben, die Wiedereröffnung der Wirtschaft umzusetzen. Die Komitees bieten Unterstützung, um einen europaweiten Generalstreik zu organisieren, die Schließung von Schulen und nicht lebensnotwendigen Produktionen zu erzwingen sowie allen Arbeitern zu ermöglichen, geschützt zu Hause zu bleiben.
Es müssen umfassende Ressourcen aktiviert werden, um allen Menschen während der Pandemie einen hohen Lebensstandard zu bieten. Dazu gehören auch Mittel, die erforderlich sind, um den Online-Unterricht für Schüler und Studenten aufrechtzuerhalten. Die Behauptung, es gäbe „kein Geld“ für solche Maßnahmen, ist schlicht eine Lüge. Seit Beginn der Pandemie wurden Banken und Unternehmen Billionen Euro in Form von Rettungspakten zur Verfügung gestellt. Die benötigten finanziellen Mittel existieren also – allerdings erhebt die Unternehmens- und Finanzoligarchie darauf einen Alleinanspruch.
Die Vermögen der Reichen müssen enteignet und Großkonzerne in öffentliche Versorgungsbetriebe umgewandelt werden, die demokratisch von der Arbeiterklasse kontrolliert werden. Im Rahmen der sozialistischen Umgestaltung des Wirtschaftslebens müssen sie gesellschaftlichen Bedürfnissen dienen und nicht dem privaten Profit. Die europäische Arbeiterklasse muss die politische Macht übernehmen und die Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa aufbauen.