Angesichts dramatischer Infektionszahlen und einer katastrophalen Lage in den Kliniken sah sich die österreichische Regierung am Samstag gezwungen, neue Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus bekanntzugeben. Sie kommen viel zu spät und sind völlig unzureichend.
Bezogen auf die Einwohnerzahl hat Österreich aktuell die höchste Rate an gemeldeten Covid-19-Neuinfektionen weltweit, wie die Datenplattform „Our World in Data“ ermittelte. Im 7-Tages-Schnitt liegt Österreich mit täglich 831 Neuinfektionen pro Million Einwohner noch vor Georgien, der Schweiz und Tschechien. Auch bei den Todesfällen liegen in Europa derzeit nur Slowenien, Belgien und Frankreich vor Österreich. Am Freitag wurden in dem 8,9 Millionen Einwohner zählenden Land fast 9.600 Neuinfektionen und 53 Todesfälle gemeldet.
Die Verantwortung für diese verherende Entwicklung trägt die Regierung von Kanzler Sebastian Kurz, dessen rechts-konservative ÖVP gemeinsam mit den Grünen regiert. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr waren die Infektionszahlen und Todesfälle im April gesunken. Ab dem 1. Mai hob dann die Regierung sämtliche relevanten Schutzmaßnahmen wieder auf, obwohl Wissenschaftler eindringlich davor warnten und die Erfahrungen aus anderen Ländern ihre Warnungen bestätigten. Mit Verweis auf die Interessen der Wirtschaft übernahm Kurz in Europa eine Vorreiterrolle bei der Aufhebung der Schutzmaßnahmen.
Selbst als die Infektionszahlen im September und Oktober wieder exponentiell anstiegen, beharrten Kurz und sein grüner Koalitionspartner auf dem eingeschlagenen Kurs. Politiker sämtlicher Parteien erklärten, das Land könne sich einen weiteren Lockdown nicht leisten. Betriebe und Schulen müssten uneingeschränkt geöffnet bleiben und der Tourismus dürfe nicht beeinträchtigt werden.
Erst als die Infektionszahlen das Fünffache des Höchststands vom Frühjahr erreichten, immer mehr besorgte Experten Alarm schlugen und die Empörung in der Bevölkerung unübersehbar wurde, erließ die Regierung ab dem 3. November einige unzusammenhängende und halbherzige Maßnahmen. Die Gastronomie sowie Freizeit-, Kultur- und Sporteinrichtungen mussten bis Ende November schließen. Die Betriebe blieben offen und die Schulen unterrichteten weiterhin im Präsenzunterricht. Nur in der Oberstufe und an den Universitäten wurde auf Online-Unterricht umgestellt. Auch die Kliniken wurden nicht auf die neue Situation vorbereitet, noch wurden die Testungen nennenswert ausgeweitet.
Am 9. November waren es schließlich vier renommierte Wissenschaftler, die in einem Brandbrief Alarm schlugen und der weitverbreiteten Stimmung der Bevölkerung Ausdruck verliehen.
Die Maßnahmen der Regierung seien teilweise falsch und viel zu locker, schrieben der Mathematiker Peter Markowich, der Informatiker Georg Gottlob und die beiden Physiker Christoph Nägerl und Erich Gornik, alle vier Träger des Wittgenstein-Preises, des höchsten Wissenschaftsförderpreises Österreichs. Das Land fahre „nach aller wissenschaftlicher Evidenz seit Wochen ungebremst in die Katastrophe überlasteter Spitäler, wo Ärzte Triage machen und PatientInnen unbehandelt sterben lassen müssen“.
Die Wissenschaftler forderten die sofortige Schließung aller Schulen und die „Pflicht zu Home-Office, wo immer möglich“. Die Behauptung, dass Schulen besonders sicher seien, sei nicht aufrecht zu erhalten. Sie seien „einer der Treiber von respiratorischen Viren, das ist eine bewiesene Tatsache. Österreichische Studien, die das Gegenteil beweisen wollen, sind methodisch falsch bzw. überholt.“ Schulen seien zwar nicht die alleinige Ursache der Explosion der Fallzahlen, aber „ganz sicher ein signifikanter Beitrag“ und ihre Schließung „eine der effektivsten Einzelmaßnahmen überhaupt“.
„Auch wenn alle großen Nachteile der Schulschließungen berücksichtigt werden,“ so die Wissenschaftler, „wiegt die Katastrophe der Überlastung der Spitäler schwerer. Alle, die jetzt gegen Schulschließung reden, müssen dazusagen, dass sie damit für Triage spätestens ab 18. November sind.“
Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo), das sowohl von den Unternehmerverbänden wie von den Gewerkschaften unterstützt wird, widersprach. Schulschließungen zögen aus ökonomischer Sicht „hohe individuelle und gesellschaftliche Kosten nach sich“, erklärte es in einem „Research Brief“.
Nach einigen Krokodilstränen über die psychische Belastung und die fehlende Bewegung der Schüler, kommt das Wifo zur Sache: Die Schulen müssen offen bleiben und die Ausbreitung des Virus sowie tausende von Toten in Kauf genommen werden, um die Profite der Konzerne zu sichern!
Schulschließungen hätten auch Folgen auf das Arbeitsangebot der Eltern, heißt es in dem „Research Brief“. Rund 31 Prozent der Beschäftigten hätten Kinder unter 15 Jahren in ihrem Haushalt und rund 25 Prozent keine potenzielle Betreuungsperson, also keine erwachsene Person ohne Beschäftigung, im gleichen Haushalt. Insgesamt 12,5 Prozent der Beschäftigten komme im Falle von Schul- oder Kindergartenschließungen eine Versorgungsverpflichtung gegenüber Kindern zu. Von diesen Personen würden neun Prozent aller Arbeitsstunden in Österreich geleistet.
„Auch wenn diese betroffenen Personen kreative Weg des Verbindens von Beschäftigung außer Haus bzw. Homeoffice und Homeschooling finden, sind die unmittelbaren Effekte auf das Arbeitsangebot negativ“, befand das Wirtschaftsinstitut.
Auch das von den Grünen geführte Gesundheitsministerium sprach sich bis vor zwei Tagen strikt gegen die Schließung der Schulen aus.
Angesichts der sich anbahnenden Katastrophe wurde der Druck auf die Regierung und deren Angst vor einer Rebellion, sollte es zu Szenen wie im Frühjahr in Norditalien kommen, zu groß. Am 14. November verkündete Kanzler Kurz einen verschärften Lockdown, der ab Dienstag bis zum 6. Dezember gelten soll.
Alle Schulen werden geschlossen und auf Fernunterricht umgestellt. Auch die Kitas bleiben, bis auf eine Notbetreuung, zu. Neben Gastronomie- und Freizeiteinrichtungen wird auch der Handel weitgehend geschlossen. Davon ausgenommen sind Lebensmittelgeschäfte, Post, Banken, Apotheken und ähnliche Geschäfte. Auch Dienstleister, wie Frisöre und Kosmetikstudios, dürfen nicht mehr öffnen. Die Ausgangsbeschränkungen, die derzeit von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens gelten, werden auf den ganzen Tag ausgeweitet. Das Haus darf nur noch verlassen, wer beruflich unterwegs ist, Grundbedürfnisse deckt sowie andere unterstützt und pflegt. Auch Spaziergänge und Sport sind erlaubt.
Die Betriebe produzieren dagegen weiter, auch wenn sie keine Systemrelevanz haben. Damit bleibt eine der Hauptquellen von Infektionen bestehen. Wie in den Schulen finden in Betrieben wegen mangelnder Schutzvorkehrungen zahlreiche Infektionen statt. Bereits im Sommer, als die Infektionszahlen deutliche niedriger waren, war es in mehreren Fleischfabriken des Landes zu Dutzenden von Infektionen gekommen. Doch die Regierung stellt die Profitinteressen der Wirtschaft auch weiterhin über das Leben der Menschen.
Vor der Verkündung des Lockdowns hatte sich die Lage dramatisch zugespitzt. Am Freitag lagen 3922 Covid-19-Erkrankte in Krankenhäusern, 567 davon auf der Intensivstation. In den am stärksten betroffenen Bundesländern Vorarlberg und Oberösterreich sind die Intensivbereiche bereits völlig ausgelastet. Kliniken in Vorarlberg ließen am Freitag verlauten, man konzentriere sich nur noch auf akute Notfälle und Covid-19-Patienten. Die Anwendung von Triage – der Selektion von Patienten, die ohne Behandlung dem Tod überlassen werden – stehe in den nächsten Tagen bevor.
Auch Kliniken in anderen Teilen Österreichs geraten an ihre Grenzen, verschieben nicht zwingend nötige Operationen und bereiten sich auf die Aufnahme weiterer Coronapatienten vor. Zuletzt lag die Zunahme von Intensivpatienten innerhalb einer Woche bei 70 Prozent.
Susanne Rabady, die Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM), schlug am Samstag Alarm, das Gesundheitssystem in Österreich sei „jetzt vollkommen ausgelastet“.
Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), warnte vor der bevorstehenden Triage. „Wenn über ein Drittel aller verfügbaren Intensivbetten nicht mehr zur Verfügung stehen“, dann beginne die Triage, sagte er. Nähmen die Klinikeinweisungen in den nächsten Tagen zu – wovon aufgrund der aktuellen Zahlen auszugehen ist – sei die Triage unausweichlich.
„Es wird immer schwieriger, Patienten auf Intensivbetten zu bekommen, die sie brauchen,“ sagte Markstaller. „Wir sind genau an der Grenze. Wir werden beginnen müssen, die nächsten Tage zu entscheiden, in welchem Umfang wir welche Patienten mit der Intensivmedizin behandeln können.“ Sobald es zu einer „harten Triage“ komme, würden Prognosefaktoren, der Wille des Patienten, die Umgebungsbedingungen und der Vergleich zu anderen Patienten darüber entscheiden, wer behandelt werde und wer nicht, zitiert ihn der Kurier.
In dieser dramatischen Situation sind die Maßnahmen der Regierung völlig ungenügend und sowohl die extreme Rechte als auch die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften und die Arbeiterkammer treten weiterhin offen für die ungebremste Durchseuchung der Bevölkerung ein.
Die rechtsextreme FPÖ, der ehemalige Koalitionspartner der ÖVP in der Regierung, hat die Maßnahmen als „völlig überzogen“ angegriffen. Der FPÖ-Fraktionsvorsitzende und ehemalige Innenminister Herbert Kickl schimpfte, sie trieben Österreich in den Ruin. Die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner, selbst Ärztin, bezeichnete die Schließung der Schulen als „hochgradig verantwortungslos“. Wie auch andere SPÖ-Politiker sorgt sie sich um die reibungslose Produktion in den Betrieben, die sie durch Sdie chulschließungen gefährdet sieht.
Der Chef des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wolfgang Katzian, und Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl laufen seit Wochen gegen Lockdown-Maßnahmen Sturm. Trotz aller Warnungen von Experten fordern sie, dass Schulen und Kindergärten weiter geöffnet bleiben.
Beide stellen die Notwendigkeit eines Lockdowns in Frage, wie der Kurier berichtet. Katzian werde „sich hüten, die Maßnahmen von Virologen und Experten zu kommentieren“. Anderl sagte im Stil von Coronaleugnern: „Ich weiß nicht, ob das wirklich Sinn macht, jetzt alles runterzufahren.“ Ihr sei nicht bekannt, dass es etwa in Gasthäusern zu vielen Infektionen gekommen sei.
Die Fakten widerlegen dieses reaktionäre Geschwätz. Erst jüngst belegte eine Studie in Österreich, dass die Prävalenz, also der Anteil der Erkrankungen an der Gesamtbevölkerung, bei Schülern und Lehrern de facto gleich hoch ist. Das bei Kindern und Jugendlichen weniger häufig Symptome auftreten, hat keine Auswirkung auf die Gefahr einer Übertragung. Unterschiede gibt es lediglich in Bezug auf die soziale Struktur an den Schulen. An Schulen mit vielen Kindern aus sozial benachteiligten Familien ist das Infektionsrisiko den Wissenschaftlern zufolge um das 3,6-Fache höher als an Schulen mit weniger sozial schwachen Kindern.