In den vergangenen drei Tagen vermeldete das Robert-Koch-Institut (RKI) für Deutschland täglich Neuinfektionszahlen in nie dagewesener Höhe: 14.964 am Mittwoch, 16.774 am Donnerstag, 18.681 am Freitag und schließlich 19.059 Neuinfektionen am Samstag. Damit hat sich von den bisher über 500.000 nachgewiesenen Infizierten mehr als jeder Fünfte in der vergangenen Woche angesteckt.
Wie die World Socialist Web Site wiederholt aufgezeigt hat, verfolgen die Regierungen Europas eine Politik der systematischen Durchseuchung, die das Leben von Millionen Menschen gefährdet. Am Mittwoch verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel ein „Maßnahmenpaket“, das ab Montag in Kraft treten soll und vollständig darauf ausgerichtet ist, die Profite und Interessen der Superreichen und der Großindustrie zu garantieren. Es schließt einen lebensrettenden Shutdown der Industrie aus. Arbeiter werden inmitten der Pandemie weiter zur Arbeit und Schüler zur Schule geschickt.
Diese mörderische und politisch kriminelle Politik wird von einer menschenverachtenden Propagandakampagne in Politik und Medien flankiert.
Am deutlichsten brachte dies am Donnerstag der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland auf den Punkt, dessen rechtsextreme Partei wie zur Zeit der „Flüchtlingskrise“ erneut in Stellung gebracht wird, um der gemeinsamen rechten Politik aller Parteien den Weg zu bahnen. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag warnte Gauland vor „einem zweiten Lockdown der Wirtschaft“ und erklärte: „Dieser Preis ist zu hoch… Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben.“
Ins gleiche Horn stößt ein Kommentar des Handelsblatts. Unter dem Titel „Das Virus ist auch ohne den Lockdown beherrschbar – Der Lockdown 2.0 ist ein Fehler“ tobt der Autor Thomas Tuma gegen die „Hysterie“, die „Panikmache“, das „Untergangs-Menetekel“ und die „ohrenbetäubende Kakophonie“ der medialen Berichterstattung über das Coronavirus. Tuma ist Jurymitglied des Axel-Springer-Journalistenpreises und stellvertretender Chefredakteur des Handelsblatts, wo er außerdem die Herausgabe einer Beilage zu „Mode- und Lifestylethemen“ betreut.
Tuma plädiert dafür, dass medizinische Experten, Medien und „Teile der Regierung“ sich im Interesse der deutschen Wirtschaft „in eine Art freiwillige Corona-Schweigeklausur“ begeben – sich also unter Bedingungen einer exponentiellen Ausbreitung der Pandemie in ganz Europa in Selbstzensur und Vertuschung üben. Eine solche Desinformationskampagne, die zweifellos unzählige zusätzliche Menschenleben kosten würde, wäre „vergleichsweise harmlos“ und würde „nicht mal viel kosten“, so Tuma.
Nachrichten über die vom Robert-Koch-Institut publizierten „Neuinfektionen und kumulierten Krankenzahlen, die ja – wie wir längst wissen – nichts aussagen“, bezeichnet der Autor als „Halbwahrheiten“ und „Fake News“. Mahnende Politiker seien „apokalyptische Reiter“, die in den „Urlaub“ geschickt werden sollten. Schließlich gebe es bereits Warnungen, „es auch nicht zu übertreiben mit unserem Kampf gegen die Pandemie“.
In seinem wutschnaubenden „Kommentar“ verweist der Handelsblatt-Redakteur explizit auf die sogenannte „Great Barrington Declaration“ – ein Papier, das zurzeit offiziell die Strategie der Trump-Regierung bestimmt und von der WSWS als ein „Manifest des Todes“ bezeichnet wurde.
Außerdem führt Tuma ein gemeinsames Positionspapier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sowie der Virologie-Professoren Hendrik Streeck (Universität Bonn) und Jonas Schmidt-Chanasit (Universität Hamburg) an, das fordert, ein erneuter „Lockdown“ dürfe nicht erneut die „reflexartige Konsequenz“ auf das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen sein. Die bisherige Strategie der „Eindämmung durch Kontaktpersonennachverfolgung“ solle künftig weniger Priorität haben.
In Worten, die aus der Parteizentrale der AfD stammen könnten, heißt es dort: „Der Rückgang der Fallzahlen ist politisch zwar eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis.“ Das Virus „wird uns die nächsten Jahre begleiten“. Nötig sei ein Zusammenleben „in größtmöglicher Freiheit“, das auf „Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung“ setze, da Letzteres „nicht unserem Verständnis einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ entspräche.
Unter „Freiheit“ verstehen diese Herren eine Art Sozialdarwinismus: Die Opferung unzähliger Menschenleben, um „den Niedergang ganzer Wirtschaftszweige“ zu bremsen.
Streeck, Schmidt-Chanasit und der KBV-Vorsitzende Andreas Gassen treten seit Langem als „medizinische“ Wortführer einer brutalen Lockerungspolitik in Erscheinung, die auf die systematische Durchseuchung der Bevölkerung hinausläuft. So sagte Gassen gegenüber der Süddeutschen Zeitung, „ein pauschaler Lockdown“ senke „zwar kurzfristig die Infektionszahlen“, sei aber „weder zielführend, noch verhältnismäßig“. Den Angehörigen der sogenannten „Risikogruppe“ empfahl er, ihr „Kontaktverhalten“ individuell zu „überdenken“ – jeder müsse „selbst entscheiden, welches Risiko er eingehen möchte“.
Der Bonner HIV-Virologen Streeck wird von weiten Teilen des medialen und politischen Establishments systematisch gefördert und aufgebaut. Neben Talkshows und diversen Boulevard-Blättern widmete auch der Spiegel Streeck zuletzt unter dem Titel „Der Antiheld“ eine umfassende und „persönliche“ Titelstory. Sie macht ein weiteres Mal deutlich, dass der ehemalige US-Army-Immunologe bestens mit Politik und Medien vernetzt ist – darunter mit FDP-Chef Christian Lindner, PR-Stratege Michael Mronz, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und dem milliardenschweren Fleischfabrikanten Clemens-Tönnies.
Bereits im April war Streeck in die Schlagzeilen geraten, weil er die unfertige „Heinsberg-Studie“, die die Gefahren der Pandemie verharmloste, durch eine exklusive PR-Agentur verbreiten ließ. Damals, so der Spiegel, sei ihm „von ziemlich weit oben in der Bundesregierung geraten worden, sich aus der öffentlichen Corona-Debatte zurückzuziehen“.
Streeck vertritt ziemlich unverhüllt die pseudowissenschaftliche Politik der sogenannten „Herdenimmunität“, die von führenden Virologen und Epidemiologen zurückgewiesen wird. Gegenüber der Frankfurter Rundschau erklärte er am Mittwoch: „Ich halte es für möglich, dass wir Ende des nächsten Jahres an einem Punkt sind, dass die Pandemie durch das Virus selbst beendet wird… Dass sich so viele Menschen infiziert haben werden, dass die Infektionsketten vielerorts von selbst immer wieder abreißen werden.“
In dem selben Interview macht Streeck deutlich, dass lebensrettende Milliarden-Investitionen in die öffentlichen Gesundheits- und Pflegesysteme für ihn – ebenso wie für die Bundesregierung – keine Option sind: „Wir verfügen nur über begrenzte Ressourcen.“
Dieselbe Linie vertritt auch der Hamburger Virologe Schmidt-Chanasit. Aufgrund der angeblich unabänderlichen Tatsache, dass „die Kapazität eben fehlt“, müsse „darauf verzichtet werden, bei Jugendlichen jeden Kontakt nachzuvollziehen“, sagte er am Montag gegenüber dem NDR. Der Hamburger Tropenmediziner forderte die Politik zugleich auf, „Freiräume“ für größere Partys zu schaffen – obwohl eine aktuelle YouGov-Jugendstudie ergab, dass die überwältigende Mehrheit der Jugendlichen die derzeit geltenden Schutzmaßnahmen für „angemessen“ oder „nicht ausreichend“ hält.
Gegenüber der Süddeutschen Zeitung fügte Schmidt-Chanasit hinzu, die Einhaltung von Hygieneregeln und die Nutzung der Corona-Warn-App der Bundesregierung seien „vollkommen ausreichend, um die Pandemie gut zu überstehen“.
Das Papier von Gassen, Schmidt-Chanasit und Streeck trägt den hochtrabende Untertitel „Gemeinsame Position von Wissenschaft und Ärzteschaft“. Das ist ein bewusster Betrug. Sie wird zwar von zahlreichen Ärzteverbänden unterstützt, aber diese sind keine wissenschaftlichen Institutionen, sondern Berufsverbände, sie sich vor allem um die materiellen Interessen der Ärzte kümmern.
Zahlreiche Mediziner haben sich inzwischen von dem Papier distanziert. Der Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA), dessen Name sich auf der Unterstützerliste findet, hat dagegen protestiert. Man sei ohne Absprache als Unterzeichner genannt worden. BDA-Präsident Götz Geldner bekräftigte gegenüber der Presse, er „unterstütze das Positionspapier inhaltlich nicht“ und „habe im Vorfeld auch keinerlei Kenntnis von dem Papier gehabt“.
Diese Auffassung teilt auch die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin mit mehr als 15.000 Mitgliedern. Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Uwe Janssens, sagte, er „habe kein Verständnis für den Vorwurf, dass Panik gemacht werde“. Janssens hatte zu Beginn der Woche eindringlich vor einer drohenden katastrophalen Überlastung der Intensivstationen in Deutschland gewarnt.
Die wissenschaftlichen Fortschungsgesellschaften lehnen die von Streeck, Gassen und Schmidt-Chanasit vorgeschlagene Durchseuchungspolitik geschlossen ab. Sie fordern in einem gemeinsamen Papier mit dem Titel „Es ist ernst“: „Die Fallzahlen müssen reduziert werden, bevor die Bettenauslastung in den Kliniken kritisch wird.“ Um einen „starken Anstieg der Sterbezahlen“ zu verhindern, müssten Kontakte systematisch auf ein Viertel reduziert werden. „Nur so werden eine Unterbrechung der Infektionsketten und ein Einhegen der Situation wieder möglich.“
Weiter heißt es in dem Papier: „Jeder infizierte Kontakt, der den Gesundheitsämtern entgeht, ist der Keim einer neuen Infektionskette, die sich dann der Kontrolle entzieht… Eine Überlastung der Gesundheitsämter kann daher zu einer immer höheren Dunkelziffer und schließlich zu einem unkontrollierten exponentiellen Wachstum der Fallzahlen führen. Die Gesundheitsämter sind bereits in vielen Kreisen überlastet.“
Die Unterzeichner – Deutsche Forschungsgemeinschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft und Leopoldina – sagen für Ende November eine tägliche Fallzahl von über 100.000 Neuinfektionen voraus, wenn keine Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung ergriffen werden.
Wissenschaftlichen Studien zufolge haben die ursprünglichen Lockdown-Maßnahmen im Frühjahr, die von den Regierungen unter dem Druck spontaner Streiks und einem überwältigenden Druck der Öffentlichkeit verhängt wurden, in elf europäischen Ländern insgesamt 3,1 Millionen Menschenleben gerettet.
Bereits vor einer Woche hatten die führenden Virologen Deutschlands sich vehement gegen Herdenimmunität und Durchseuchung gewandt: „Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen“, warnte die Deutsche Gesellschaft für Virologie (GfV).
Sie lehne diese Strategie entschieden ab, die „zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen“ würde. Sie begründete dies damit, dass „selbst bei strenger Isolierung der Ruheständler es noch weitere Risikogruppen gibt, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt sind, um aktiv abgeschirmt werden zu können.“