Die Politik der „Herdenimmunität“ und die menschenverachtende Ideologie des Thomas Malthus

Der Name des britischen Premierministers Boris Johnson wird für immer in einem Atemzug mit der mörderischen Strategie der „Herdenimmunität“ genannt werden.

Seine Regierung war die erste, die als Antwort auf die Corona-Pandemie offen für eine Politik der „Herdenimmunität“ geworben hat. Inzwischen wird diese Politik von den herrschenden Klassen der ganzen Welt verfolgt.

Als Premierminister, der die reaktionärsten Traditionen des britischen Imperialismus verkörpert, erwies sich Johnson als passender Fürsprecher der „Herdenimmunität“. Sein Vorgehen hat das barbarische Wesen einer gesellschaftlichen Ordnung offenbart, die auf der Akkumulation von Profit durch eine superreiche Oligarchie beruht. Johnson tat dies auf eine Weise, die von der Arbeiterklasse niemals verziehen oder vergessen werden wird.

Am 13. März, zwei Tage nachdem Covid-19 zur Pandemie erklärt wurde, behauptete Johnsons leitender wissenschaftlicher Berater Sir Patrick Vallance öffentlich, die Bevölkerung könne „eine Art Herdenimmunität entwickeln, sodass mehr Menschen immun gegen diese Krankheit sind und wir die Übertragung reduzieren können.“

In einem Interview hatte Johnson eine Woche zuvor näher erläutert, wie dies vonstatten gehen soll: „Eine Theorie besagt, man könnte es einfach gelassen hinnehmen, alles in einem Anlauf – es gewissermaßen zulassen, dass sich die Krankheit in der Bevölkerung ausbreitet.“

Das Konzept der Herdenimmunität als solches hat einen legitimen wissenschaftlichen Hintergrund. Damit ist die Immunisierung eines ausreichend großen Teils der Bevölkerung gemeint, sodass die weitere Übertragung eines Virus verhindert, es somit in Schach gehalten und ausgerottet werden kann. Doch im Zusammenhang mit schweren Krankheiten verstand man eine solche Herdenimmunität bisher als das Ergebnis umfassender Massenimpfungen. Verlässt man sich darauf, dass Personen durch Kontakt mit dem Virus auf natürliche Weise eine Immunität entwickeln, besteht keine Garantie dafür, dass sich eine effektive Infektionsresistenz durch die Herausbildung stabiler Antikörper entwickelt. Ganz davon abgesehen nimmt diese Strategie den Tod Hunderttausender in Kauf, die die Krankheit nicht überleben. Eben darin bestand die Absicht der britischen Regierung.

Diesem Plan entsprechend, verzichtete sie auf nennenswerte Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, während sich die Pandemie in Europa und auf der ganzen Welt in schnellem Tempo ausbreitete. Es gab in Großbritannien keinen Lockdown, große Sportereignisse durften stattfinden. Am 12. März ließ die Regierung jeglichen Anspruch fallen, das Virus durch Kontaktrückverfolgung und Quarantäne einzudämmen. In einem Interview auf Sky News wurde Vallance gefragt, warum das gesellschaftliche Leben des Vereinigten Königreichs normal weiter laufe, obwohl die Infektionsraten zu einer beispiellosen Zahl von Toten führen würden. Er antwortete: „Nun, natürlich sind wir mit der Möglichkeit konfrontiert – wie der Premierminister bereits gestern mitgeteilt hat –, dass eine wachsende Zahl Menschen sterben wird.“

Was hier vorbereitet wurde, war ein regelrechtes Massaker. Am 2. März veröffentlichte die Science Advice Group for Emergencies (SAGE), ein Beratergremium der Regierung für Notlagen, einen Bericht, der davor warnte, dass das Coronavirus hochansteckend sei und sich bereits in der Bevölkerung ausbreite. Würden keine „strengen Maßnahmen“ ergriffen, so der Bericht, könnten sich „etwa 80% der Bevölkerung [53 Millionen Menschen] anstecken“ und zwischen 250,000 und 500,000 Menschen dem Virus zum Opfer fallen.

Ein nationaler Lockdown wurde erst drei Wochen später am 23. März verhängt. Die Entscheidung erfolgte unter massivem öffentlichen Druck und vor dem Hintergrund weit verbreiteter Abscheu und Wut über die Verlautbarungen der Regierung. Seitdem hat die Regierung gemeinsam mit dem Großkapital und den Gewerkschaften daran gearbeitet, die Maßnahmen zurückzunehmen, um die Bevölkerung unter unsicheren Bedingungen zurück an die Arbeit zu treiben.

Die „Herdenimmunität“ ist keine Strategie der öffentlichen Gesundheitspolitik. Es handelt sich um eine Politik, die darauf abzielt, die Schwächeren auszumerzen und die wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Elite abzusichern – in soziopathischer Manier wird dem Profit Vorrang vor dem Leben der Bevölkerung eingeräumt. Laut einem langjährigen Abgeordneten der Konservativen soll Johnsons Berater Dominic Cummings diese Strategie so auf den Punkt gebracht haben: „Herdenimmunität, die Wirtschaft schützen, und wenn das bedeutet, dass dabei einige Rentner sterben – Pech gehabt.“

Johnsons Unterstützer in den rechten Medien haben offen für diese Agenda geworben. Am 13. März twitterte die faschistische Kolumnistin Katie Hopkins: „Das Coronavirus ist ein Mannschaftssport. Steck dich an. Werde immun. Fühl dich besser. Die Herde siegt. Fürchte nicht den Tod. Irgendwann ist für jeden Schluss.“

Am 31. März schrieb Toby Young in der Zeitschrift Sceptic: „350 Milliarden Pfund auszugeben, um das Leben von ein paar hunderttausend, meist älteren Menschen zu verlängern, ist ein verantwortungsloser Umgang mit Steuergeldern.“ Der Redakteur des Wirtschaftsteils des Telegraph, Russell Lynch, schrieb in einem Artikel: „Die Kosten für die Rettung von Menschenleben in diesem Lockdown sind zu hoch.“

Die tödliche Bilanz dieser Politik: Großbritannien weist außerhalb der Vereinigten Staaten, obwohl deren Bevölkerung weitaus zahlreicher ist, die höchste Corona-Sterberate auf. Die Sterbezahlen werden explodieren, wenn die Bevölkerung zurück an die Arbeit geschickt wird, ohne dass elementare Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit ergriffen wurden.

Boris Johnson und die „globale Überbevölkerung“

Die Johnson-Regierung bringt die barbarischste aller Gesellschaftstheorien ans Tageslicht und setzt sie in die Tat um. Ein bis vor kurzem kaum bekannter Gastbeitrag von Johnson im Daily Telegraph aus dem Jahr 2007 bietet einen wertvollen Einblick in die Auffassungen, von der die Reaktion der Regierung auf Covid-19 bestimmt war. Der Artikel trägt den Titel „Die globale Überbevölkerung ist das eigentliche Problem“. Johnson klagt darin, es zeige „das tragische Ausmaß, in dem sich die Welt so weitgehend verändert hat“, dass „die Fortpflanzung der menschlichen Rasse“ als Gegenstand von Regierungspolitik nicht mehr öffentlich diskutiert werden könne.

„Es scheint“, so Johnson weiter, „als hätten wir die Bevölkerungskontrolle aufgegeben und für diese Kapitulation werden allerlei Erklärungen angeboten. Manche sagen, Indira Gandhi habe das Thema mit ihrem irrwitzigen Plan, indische Männer mithilfe von Transistorradios von einer Sterilisation zu überzeugen, in Verruf gebracht.“

„Manche schreiben unsere Selbstgefälligkeit der Grünen Revolution zu“, schreibt der Premierminister, „die Malthus‘ Argumente scheinbar widerlegte. Es wurde zu einer allgemein akzeptierten Auffassung, dass die Weltbevölkerung bis in die zig Milliarden anwachsen könne, sowie die Menschheit lernte, die landwirtschaftliche Produktion gewaltig zu steigern.“

Das bedeute, meint Johnson, dass sich die Gesellschaft „weigert, zu der einen, der größten Herausforderung, mit der die Welt konfrontiert ist, etwas sinnvolles zu sagen. Und, nein, auch wenn es heutzutage die gängige Meinung ist, die größte Herausforderung ist nicht der Klimawandel. Die wesentliche Herausforderung, die sich unserer Spezies stellt, ist die Reproduktion dieser Spezies selbst.“

Johnson wettert, dies sei „politischer Feigheit“ zuzuschreiben, und fährt fort: „Es ist an der Zeit, dass wir eine erwachsene Diskussion über die optimale Anzahl an Menschen in diesem Land und auf diesem Planeten führen. … Ist es nicht an der Zeit, dass Politiker damit aufhören, so ängstlich zu sein, und über das wirkliche Problem Nummer eins sprechen?“

Johnson gibt sich keine Mühe, den faschistischen Charakter seiner Ansichten zu verbergen. Er schreibt: „Wir sind an dem absurden Punkt angelangt, an dem sich die Menschheit über die Umweltzerstörung ereifert, doch über das Bevölkerungswachstum, das diese Zerstörung verursacht, findet sich kein Mucks in den Kommuniqués der Gipfeltreffen von EU, G8 oder UN.“

“Man kann es sehen“, fährt er fort, „wenn man über Mexiko-Stadt fliegt. Ein riesiges Schachbrett vom Smog verhüllter, niedriger Behausungen, die von einem Horizont zum anderen reichen. Und wenn man auf das hinab blickt, was wir diesem Planeten antun, drängen sich einem grauenvolle Fantasien von Behausungen auf, die sich unkontrolliert vermehren wie Bazillen in der Petrischale.“

Weit mehr als all die zahmen „investigativen Berichte“ in den Leitmedien, kommt dieser Artikel zum Kern der mörderischen Antwort der britischen Regierung auf die Pandemie. Soziale Ungleichheit, Armut, Krieg und Sozialabbau sind für Johnson nicht der Rede wert. Gegen diese Probleme Maßnahmen zu ergreifen – von der globalen Pandemie ganz zu schweigen – wäre kontraproduktiv: Die Arbeiter in den Slums von Mexiko-Stadt (oder an anderen Orten), die sich „vermehren wie Bazillen in der Petrischale“: Sie sind das eigentliche Virus.

Die Stoßrichtung von Johnsons Artikel zeigt sich daran, dass er sich auf Thomas Malthus, einen kapitalistischen Ideologe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, bezieht. Malthus argumentierte, die „Unvermeidlichkeit“ der Überbevölkerung mache Armut und einen frühen Tod für die Armen zu einer Notwendigkeit. Johnson bejaht diese Auffassung, wenn er sagt, die Geschichte habe Malthus nur „scheinbar widerlegt.“

Johnson ist ungehobelter und wirkt dümmer als viele seiner kapitalistischen Politikerkollegen, allerdings besuchte er die das Elite-Internat Eton und die Universität Oxford. Welches geistige und politische Rauchsignal er seinen Gesinnungsgenossen übermittelt, ist ihm wohl bewusst.

Malthus‘ Lehre hatte von Anfang an eine lebenswichtige und bösartige politische Rolle im Interesse der gesellschaftlichen Schicht gespielt, mit der Johnson voll und ganz verbunden ist.

In seinem Werk Die Frau und der Sozialismus schrieb der führende deutsche Marxist August Bebel 1879, Malthus liefere „eine Begründung der vorhandenen Übel, die den geheimsten Gedanken und Wünschen der herrschenden Klasse Ausdruck gab und sie vor der Welt rechtfertigte“. Das heißt, während Eigentum und Reichtum der herrschenden Klasse zu Recht das Elend von Hunger und Krankheit ersparte, sollte sich die Arbeiterklasse, die kaum mehr als eine Bürde für die Kapitalisten und Landbesitzer darstellt, in Bezug auf derlei Wohltaten keine Hoffnung machen. Die Eliten können ein Leben in Luxus führen, so lange die Arbeitsleistung der Gesellschaft es ihr erlaubt. Der Tod eines alten oder kranken Arbeiters wird derweil als „natürlich“ angesehen, sobald er die Verpflichtung gegenüber seinen Herren nicht mehr ausreichend erfüllen kann.

Aus Sicht der heutigen Elite wird durch den Blutzoll, den die Pandemie fordert, auf natürliche Weise das Wachstum jener Bevölkerungsgruppen „gehemmt“, die dem Profitstreben im Weg stehen. Das ist der Inhalt der „Herdenimmunität“.

Thomas Malthus und das “Bevölkerungsgesetz“

Als Sohn eines Landedelmanns geboren, erhielt Thomas Malthus (1766-1824) ein Forschungsstipendium an der Cambridge Universität, wurde Pfarrer der anglikanischen Staatskirche und später Professor an der privaten Universität der East India Company, an der sie ihre Verwaltungsbeamten ausbilden ließ. Mit der Veröffentlichung seines Essay on the Principle of Population as It Affects the Future Improvement of Society (deutsch etwa: „Ein Versuch über die Grundsätze der Bevölkerung, und ihre Wirkung auf die künftige Entwicklung der Gesellschaft“) im Jahr 1798 stieg er zu einer maßgeblichen Figur der bürgerlichen Politik auf.

Malthus argumentierte:

Die Produktivkraft des Menschengeschlechts ist der Produktivkraft der Erde wiefern sie menschliche Nahrungsmittel liefert, so endlos überlegen, daß […] ein unzeitiger Tod in einer oder der andern Gestalt die blühenden Menschen dahinraffen muß. Die Laster der Menschen sind kräftige und gescheidte Knappen der Entvölkerung. Sie sind gleichsam die leichten Truppen in der großen Verheerungsarmee und beenden nicht selten allein schon das schreckliche Geschäft.

Gelingt ihnen der Vertilgungskrieg nicht, dann treten ungesunde Jahre, Volkskrankheiten, Seuchen und Pesten in fürchterlicher Ordnung hervor und stürzen Tausende und Tausende dar. Ist der Sieg noch nicht vollkommen genug, dann schreitet zuletzt das unwiderstehliche Ungeheuer Hungersnoth hervor, das mit einem mächtigen Schlage die üppige Volksmenge niederwirft und der vorhandnen Masse der Nahrungsmittel gleich macht. (zitiert nach einer deutschen Übersetzung 1807)

Alle sozialen Probleme werden dem immerwährenden Überschuss an Menschen zugeschrieben, die, wenn die Gesellschaft ihre Zunahme nicht hemmt, auf „natürliche“ Weise durch „ungesunde Jahre, Volkskrankheiten, Seuchen und Pesten“ dahingerafft werden.

Zur Vermeidung derartiger Katastrophen befürwortete Malthus Strafmaßnahmen im Sinne der Bevölkerungskontrolle und bestand darauf, dass es sinnlos sei, wenn die Reichen eine „überzählige Bevölkerung“ unterhielten. Er forderte „sittliche Enthaltsamkeit“, um Kinderreichtum unter den Armen zu verhindern, und die Abschaffung der Hilfsleistungen an Notleidende nach dem Armengesetz (Poor Law). Nur in Ausnahmefällen sollten private Hilfsorganisationen tätig werden.

So rechtfertigte Malthus das ungezügelte Wirken des kapitalistischen Profitsystems, ungeachtet der verheerenden Auswirkungen auf die Arbeiterklasse.

Karl Marx im Jahr 1875

Das „Bevölkerungsgesetz” ist ahistorischer Unsinn. Karl Marx nannte es ein „Pasquill [Schmähschrift] auf das Menschengeschlecht“, und unterzog das „abstrakte Zahlenverhältnis, das [von Malthus] rein aus der Luft gefischt ist und weder auf Naturgesetzen noch auf historischen beruht“ einer vernichtenden Kritik.

Wie Marx später in Das Kapital aufzeigte, ist Armut und Arbeitslosigkeit keine Konsequenz der „Überbevölkerung“, sondern der Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten, was die „Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol“ und die „Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol“ zur Folge hat.

Marx erklärte, dass Malthus diese Realität mit einer „Apologie des Elends der Arbeiterklassen“ zu vertuschen versuche. Er verleihe „der brutalen Ansicht des Kapitals brutalen Ausdruck“, wonach ein Arbeiter, wenn er sich und seine Kinder im „Kampf ums Dasein“ nicht versorgen kann, keine Hilfe zu erwarten habe. Der Arbeiter „hat keine Arbeit, darum keinen Lohn, und da er nicht als Mensch, sondern als Arbeiter Dasein hat, so kann er sich begraben lassen, verhungern etc.“.

Im abschließenden Kapitel seines Essay sagt Malthus:

Dass die hauptsächliche und andauerndste Ursache der Armut wenig oder gar keine direkte Beziehung zu den Regierungsformen oder zur ungleichen Verteilung des Eigentums hat, dass, da die Reichen tatsächlich nicht die Macht haben, Beschäftigung und Unterhalt für die Armen zu finden, die Armen der Natur der Dinge nach kein Recht haben können, beides zu fordern, das sind wichtige, aus dem Bevölkerungsgesetze hervorgehende Wahrheiten, die, wenn sie in geeigneter Weise auseinandergesetzt würden, keineswegs über das gewöhnlichste Begriffsvermögen hinausgingen.

Diese makabre Theorie war die Gegenreaktion auf die Kämpfe der Massen, die ihre Lage zu verbessern suchten. „Der Pöbel“, so zittert der bürgerliche Akademiker Malthus, „ist von allen Ungeheuern, welche die Freiheit bedrohen, das gefährlichste“. Malthus‘ Essay wurde erstmals 1798 veröffentlicht, im Jahr der irischen Rebellion. Die drei darauffolgenden Ausgaben erschienen in den Jahren vor dem Massaker an Arbeitern im Jahr 1819, die in St. Peter‘s Field bei Manchester für parlamentarische Vertretung protestierten (Peterloo-Massaker). Die fünfte Ausgabe wurde 1830 veröffentlicht.

Malthus stand den Gleichheitsbestrebungen der Aufklärung, die erst kurz zuvor durch die Amerikanische und Französische Revolution explosive Aktualität erlangt hatten, erklärtermaßen feindselig gegenüber. In der Erstschrift seines Essays und den darauffolgenden Ausgaben griff er den britischen utopischen Anarchisten William Godwin, den utopischen Sozialisten Robert Owens, den radikalen Demokraten Thomas Paine und den französischen Revolutionär Nicholas de Condorcet an. Gegen egalitäre Argumente, die grundlegende soziale Rechte für alle einforderten, lieferte Malthus der herrschenden Klasse eine ideologische Waffe, um die Verarmung und den frühzeitigen Tod der Armen als den natürlichen Gang der Dinge zu rechtfertigen. Dafür wurde er umgehend mit enormem Einfluss in herrschenden Kreisen belohnt.

Marx kommentierte:

Das große Aufsehn, das dies Pamphlet erregte, entsprang lediglich Parteiinteressen. Die Französische Revolution hatte im britischen Königreich leidenschaftliche Verteidiger gefunden; das ,Populationsprinzip‘, langsam im 18. Jahrhundert herausgearbeitet, dann mitten in einer großen sozialen Krisis mit Pauken und Trompeten verkündet als das unfehlbare Gegengift gegen die Lehren von Condorcet u. a., wurde jubelnd begrüßt von der englischen Oligarchie als der große Austilger aller Gelüste nach menschlicher Fortentwicklung.

Malthus gab der Auffassung, die Arbeiterklasse habe kein Recht auf Leben außer als Arbeitskraft zur freien Verfügung der Kapitalistenklasse, theoretische Form. Er behauptet: „[Ein] Recht aber gibt es, dessen Besitz dem Menschen allgemein zugesprochen worden ist, das er meiner Überzeugung nach weder besitzt noch besitzen kann – ein Recht auf Unterhalt, wenn seine Arbeit ihn füglich nicht erstehen kann.“ Niemand habe das Recht, so Malthus, „von der Gesellschaft einen Unterhalt zu fordern, wenn seine Arbeit ihn nicht zu erstehen vermag“.

In der zweiten Fassung seines Essays äußerte Malthus seine grausamen Ansichten so unverfroren, dass folgende Textstelle aus späteren Ausgaben entfernt werden musste: „Ein Mensch, der in eine bereits in Besitz genommene Welt geboren wird, hat, falls er keinen Unterhalt von seinen Eltern bekommt, an die er berechtigte Ansprüche stellen kann, und falls die Gesellschaft seine Arbeit nicht will, kein Recht, die geringste Menge an Nahrung zu beanspruchen, und eigentlich keinerlei Recht dort zu sein, wo er ist. An der gewaltigen Festtafel der Natur ist für ihn nicht gedeckt.“

Friedrich Engels unterzog Malthus‘ Vermächtnis in seinem 1843 veröffentlichten Werk „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ einer vernichtenden Bloßstellung – in Worten, die auch heute nichts von ihrer Kraft verloren haben:

Malthus […] behauptet, daß die Bevölkerung stets auf die Subsistenzmittel drückt, daß, sowie die Produktion gesteigert wird, die Bevölkerung sich in demselben Verhältnis vermehrt und daß die der Bevölkerung inhärente Tendenz, sich über die disponiblen Subsistenzmittel hinaus zu vermehren, die Ursache alles Elends, alles Lasters ist. Denn wenn zuviel Menschen da sind, so müssen sie auf die eine oder die andre Weise aus dem Weg geschafft, entweder gewaltsam getötet werden oder verhungern.

Die Folgen dieser Entwicklung sind nun, daß, da die Armen gerade die Überzähligen sind, man nichts für sie tun soll, als ihnen das Verhungern so leicht als möglich zu machen, sie zu überzeugen, daß es sich nicht ändern läßt und daß für ihre ganze Klasse keine Rettung da ist als in einer möglichst geringen Fortpflanzung… Almosengeben wäre ein Verbrechen, da es den Zuwuchs der überzähligen Bevölkerung unterstützt; aber sehr vorteilhaft wird es sein, wenn man die Armut zu einem Verbrechen und die Armenhäuser zu Strafanstalten macht, wie dies bereits in England durch das „liberale“ neue Armengesetz geschehen ist.

Soll ich diese infame, niederträchtige Doktrin, diese scheußliche Blasphemie gegen die Natur und Menschheit noch mehr ausführen, noch weiter in ihre Konsequenzen verfolgen? Hier haben wir endlich die Unsittlichkeit des Ökonomen auf ihre höchste Spitze gebracht … Und gerade sie ist der Schlußstein des liberalen Systems der Handelsfreiheit, dessen Sturz den des ganzen Gebäudes nach sich zieht. Denn ist die Konkurrenz hier als Ursache des Elends, der Armut, des Verbrechens nachgewiesen, wer will ihr dann noch das Wort zu reden wagen?

Engels bemerkte, dass im Jahr 1834, nur wenige Monate vor Malthus Tod, dessen Schriften benutzt wurden, um eine Reform des Armengesetzes zu rechtfertigen, die die bereits niedrige Armensteuer von Grundbesitzern zur Unterhaltung der Mittellosen reduzieren sollte. Unterstützungsleistungen für die Armen wurden durch das höllische System der Arbeitshäuser ersetzt. Männer, Frauen und Kinder wurden getrennt und gezwungen, unter gefängnisähnlichen Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Müttern „illegitimer“ Kinder wurde die Unterstützung entzogen.

Gut ein Jahrzehnt später rechtfertigte die britische Regierung ihren Völkermord in der irischen Hungersnot 1845-49 mit der malthusianischen Behauptung, Katastrophen seien unvermeidlich und seien ein sinnvolles „Hemmnis“ des Bevölkerungswachstums, und die Gesellschaft könne ihre Folgen nicht abwenden. Eine Million Menschen verhungerten, und eine weitere Million sah sich zum Verlassen des Landes gezwungen, weil die britische herrschende Klasse darauf pochte, das freie Wirken des Marktes dürfe nicht beeinträchtigt werden. Noch während die Kartoffelfäule Irlands Kartoffelernte zerstörte, wurden weiterhin große Mengen an Lebensmitteln exportiert.

Charles Trevelyan, Stellvertretender Finanzminister der regierenden Whig Party, vertrat den Standpunkt, die Hungersnot sei „ein wirksamer Mechanismus, um Überbevölkerung zu reduzieren“ und „direktes Resultat einer allwissenden und barmherzigen Vorsehung“, die geschickt wurde, um „die selbstsüchtigen, perversen und ungestümen“ Iren zu reformieren. Trevelyan hatte bei Malthus studiert.

Nimmt man die notwendigen Änderungen vor, unterscheidet sich das Vorgehen von Johnsons Tories in der aktuellen Pandemie in nichts von dem der Whigs Mitte des 19. Jahrhunderts.

Malthus, Sozialdarwinismus und Eugenik

Die Theorien der „natürlichen Selektion“ im Sozialdarwinismus und der Eugenik Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gründeten sich auf Malthus.

Herbert Spencer (1820-1903), der prominenteste Sozialdarwinist, verweist in A Theory on Population, deduced from the General Law of Animal Fertility (dt. etwa: „Eine Theorie über Bevölkerung, abgeleitet aus dem Allgemeinen Gesetz der Fruchtbarkeit von Tieren“), auf „einen kontinuierlichen Anstieg der Bevölkerung über die Subsistenzmittel hinaus”, „ein Übermaß an Fertilität, das einen ständigen Druck auf die Subsistenzmittel der Bevölkerung ausübt.”

Er geht allerdings noch weiter als Malthus‘ Idee vom „Kampf ums Dasein“ und kommt zu dem Schluss:

Familien und Rassen, für die es aufgrund erhöhter Fruchtbarkeit schwieriger ist, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sind letztlich zwangsläufig dem Untergang geweiht, wenn diese Schwierigkeiten sie nicht zu gesteigerter Produktivität – d. h., zu erhöhter geistiger Aktivität – anregen; sie müssen jenen Platz machen, die sich anregen lassen. Diese Wahrheit haben wir zuletzt am Beispiel Irlands bestätigt gesehen. Und hier sieht man in der Tat ohne weitere Erläuterungen, dass frühzeitiger Tod, in allen Formen und aus allen Ursachen, zwangsläufig immer in diese Richtung wirken muss. Diejenigen nämlich, die vorzeitig hingerafft werden, sind in den meisten Fällen die, deren Selbsterhaltungsfähigkeit am geringsten ist; daraus folgt unvermeidlich, dass diejenigen, die überleben, um die Rasse zu erhalten, diejenigen sind, deren Selbsterhaltungsfähigkeit am größten ist – diese sind die Auserwählten ihrer Generation. (Aus dem Englischen)

Diese neue Stufe ideologischer Barbarei war eine Reaktion auf eine neue Verschärfung der Klassenspannungen. Spencers Schriften erschienen nach der Zeit des Chartismus, einer stürmischen Bewegung der Arbeiterklasse, den europäischen Revolutionen 1848, der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests und inmitten des „imperialen Jahrhunderts“ Großbritanniens, das auf der brutalen Unterwerfung und Ausbeutung Indiens, Chinas und anderer Kolonien beruhte. Auf das Erstarken der Arbeiterklasse und die Entstehung der sozialistischen Bewegung reagierte Spencer mit dem Drang, soziale Ungleichheit, Unterdrückung und imperialistische Gewalt rigoros zu verteidigen. Erneut verwies er dabei auf ein vermeintliches Naturgesetz.

In seinem Buch Social Statics griff er die „irrige … Annahme“ des Sozialismus an, dass „der Mensch ein Recht auf Unterhalt habe sowie darauf, dass jemand dafür sorge, dass er eine Arbeit bekommt“. Der bekannte zeitgenössische Ökonom und Schüler Spencers, Alfred Marshall, schrieb in diesem Sinne, dass Sozialleistungen „diesem selektierenden Einfluss von Kampf und Wettbewerb … auf den der Fortschritt der menschlichen Rasse in höherem Maße als auf irgendetwas anderes zurückzuführen ist, teilweise entgegenwirken könnten.“

Die herrschende Klasse überschüttete Spencer mit Lob. Zu Lebzeiten verkaufte er über eine Million Exemplare seiner Werke. Für die Elite war der Sozialdarwinismus nicht nur der „Beweis“ für die Richtigkeit ihrer Überzeugung, dass die Arbeiterklasse keine Unterstützung verdiene, sondern auch dafür, dass deren Leid und frühzeitiger Tod für die „Gesellschaft“ und die „Menschheit“ tatsächlich vorteilhaft war. Unter diesem Vorteil verstand die Elite vor allem ihren Reichtum. In einer widerwärtigen Textstelle in Social Statics heißt es:

Derweil werden sowohl das Wohl der Menschheit als auch ihre Entwicklung zu höchster Vollkommenheit jeweils durch dieses nützliche, wenn auch strenge Gesetz sichergestellt, dem die lebendige Schöpfung als Ganzes unterworfen ist. … Die Armut der Untauglichen, das Leid, das die Unbesonnenen ereilt hat, der Hungertod der Müßiggänger und die Hilfe von Starken für die Schwachen, die so viele im Elend zurücklässt, sind die Dekrete einer umfassenden, weitsichtigen Güte. Es erscheint hart, dass ein Mangel an Fertigkeit, den er trotz aller Mühen nicht überwinden kann, für den Handwerker als Folge den Hunger nach sich zieht. Es erscheint hart, dass der Arbeiter, den Krankheit hindert, mit seinen kräftigeren Kollegen mitzuhalten, die daraus folgenden Entbehrungen ertragen soll. Es erscheint hart, dass man Witwen und Kinder dem Kampf um Leben und Tod überlassen soll.

Blickt man jedoch nicht auf das Einzelschicksal, sondern auf das Interesse der gesamten Menschheit, erkennt man in diesen harten Opfern die höchste Wohltätigkeit – dieselbe Wohltätigkeit, die verwaiste Kinder früh ins Grab bringt und die Niedergeschlagenen, Maßlosen und Geschwächten als Opfer einer Epidemie aussondert. (Aus dem Englischen)

Im Kontext der sich verschärfenden Konflikte zwischen den imperialistischen Nationen, der Wirtschaftskrisen und Klassenkämpfe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts begünstigte der Sozialdarwinismus die Entstehung der Eugenik-Bewegung, deren Begründer Sir Francis Galton (1822-1911) versprach: „Was die Natur blind, langsam und erbarmungslos vollführt, kann der Mensch vorsorglich, rasch und gütig vollbringen.“

Die Eugenik bot der herrschenden Klasse eine weitere pseudowissenschaftliche „Erklärung“ für die Armut der Arbeiterklasse und anderer „Rassen“, die als von Natur aus geistig minderwertig galten. Auf die unterdrücktesten Schichten, die die kapitalistische Klasse mit Blick auf ihre imperialistischen Ambitionen als Ballast ansah, konnte man verzichten und sich dieser „untauglichen“ Unterschicht entledigen.

Wie ihre ideologischen Vorläufer fand auch die Eugenik-Bewegung weithin Gehör in den mittleren und oberen Schichten, die dem revolutionären Sozialismus feindlich gegenüberstanden – angefangen bei der nominell „linken“ reformistischen Fabian Society bis hin zum konservativen Aristokraten Winston Churchill (den Johnson stets zu imitieren versucht).

Unter dem Einfluss dieser Ideen führte der Mental Deficiency Act 1913 zur Absonderung von bis zu 65.000 „Schwachsinnigen“ und „sittlich mangelhaften“ Menschen in Arbeitskolonien innerhalb Großbritanniens. Während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gab es laut einem Bericht des Joint Committee on Mental Deficiency 300.000 „Schwachsinnige“ im Land. Die ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung beschrieb der Bericht als „soziale Problemgruppe“. 1934 empfahl das Departmental Committee on Sterilisation eine Gesetzgebung für die „freiwillige“ Sterilisation „geistesgestörter Frauen“.

Wie der Malthusianismus und der Sozialdarwinismus war die Eugenik eine weltweite Bewegung. Sie rechtfertigte die Zwangssterilisation zehntausender Menschen in den Vereinigten Staaten und Skandinavien. Ihren weitgehendsten und entsetzlichsten Ausdruck fand sie im nationalsozialistischen Deutschland, wo das Konzept des „lebensunwerten Lebens“ für die Zwangssterilisation von 400.000 Menschen und die Ermordung von 300.000 körperlich oder geistig behinderten Menschen sowie später die Massenvernichtung der Juden, Slawen und Roma als Grundlage diente.

Wenn Johnson sich in seinem Artikel von 2007 auf Malthus beruft, stellt er sich damit in die Tradition dieser bluttriefenden Ideologie.

Die herrschende Klasse und die Pandemie

Die Wiederbelebung der faschistischen Traditionen ihrer jüngsten Vergangenheit durch die herrschende Klasse wurde in den letzten sechs Jahren vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und der World Socialist Web Site (WSWS) sorgfältig analysiert. 2014 nahm die deutsche Sektion des IKVI den Kampf gegen die Relativierung der Verbrechen des Dritten Reichs durch Vertreter der akademischen Welt auf.

Im Rahmen dieser Arbeit, die mit dem Kampf gegen die reaktionären Theorien der Professoren Jörg Baberowski und Herfried Münkler von der Berliner Humboldt-Universität begann, hat das IKVI eine breiter angelegte Verschwörung der herrschenden Klasse aufgedeckt. Baberowskis Aussagen im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass Hitler „nicht grausam“ gewesen sei, bereiteten sowohl die Wiederbelebung des deutschen Militarismus vor, die gegenwärtig vom Bundestag orchestriert wird, als auch die Einbindung der faschistischen Alternative für Deutschland (AFD) und ihrer Politik in die Regierungsarbeit, um die Unterdrückung linker Opposition zu erleichtern.

Der Kampf gegen die Rehabilitierung des Faschismus ist an Dutzenden Universitäten in Deutschland in den Fokus gerückt und in mehreren Städten haben große antifaschistische Demonstrationen stattgefunden. Die deutsche Sektion des IKVI wurde nach Absprachen zwischen der AfD und dem Verfassungsschutz in dessen Verfassungsschutzbericht aufgenommen.

Die Socialist Equality Party (SEP), die britische Sektion des IKVI, konnte Lehren aus diesen Ereignissen ziehen. Sie deckte auf, dass die London Conference on Intelligence am University College London im Januar 2018 in Wirklichkeit eine Eugenik-Konferenz war, an der auch mehrere britische Wissenschaftler teilnahmen. Die SEP begann nun einen weitsichtigen Kampf, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Oxford-Wissenschaftler Noah Carl, gegen die Wiederbelebung des Sozialdarwinismus und der Eugenik.

In mehreren Artikeln und auf zwei öffentlichen Veranstaltungen erklärten die WSWS und die Socialist Equality Party, dass das erneute Auftreten dieser Ideologien mit einer internationalen Kampagne des rechten Revanchismus an Universitäten zusammenhängt, die selbst eine Reaktion auf die wachsende soziale Ungleichheit, die Zunahme der Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten und das globale Wiederaufleben des Klassenkampfes darstellt: „Die Wiederkehr der Eugenik und des Sozialdarwinismus“, schrieben wir, „ist das Produkt immenser Verschiebungen der gesellschaftlichen Kräfte und mächtiger Interessen der herrschenden Klasse, die ein immer rechteres intellektuelles Klima erfordern.“

Im Februar konstatierte die WSWS, dass die heutigen „Eugeniker in Johnsons bösartig elitärer Tory-Regierung, die gegen Migranten hetzt, eine Verbündete gefunden haben.“

Der britische Premier Boris Johnson informiert die Presse über den Umgang der Regierung mit dem Coronavirus [AP Photo/Simon Dawson]

Gegenüber dem Centre for Policy Studies erklärte Johnson 2013: „Für wie zuverlässig Sie IQ-Tests auch halten mögen, für die Diskussion über Gleichheit ist doch sicherlich relevant, dass der IQ bei immerhin 16 Prozent unserer Spezies unter einem Wert von 85 liegt.“ Ebenfalls 2013, als er Bürgermeister von London war und regelmäßig mit Millionären verkehrte, schrieb Johnson einen Artikel, der im Telegraph erschien und in dem er behauptete, die „Superreichen“ gehörten „drei ziemlich exklusiven Kategorien von Menschen“ an. So tendierten sie zu „überdurchschnittlichen Ergebnissen“ bei „mathematischem, wissenschaftlichem oder zumindest logischem Denken“.

In einem Vortrag beim Centre for Social Justice („Zentrum für soziale Gerechtigkeit“, eine rechte Denkfabrik) sagte Iain Duncan Smith, der als Parteivorsitzender der Tories von 2001 bis 2003 den Abbau sozialstaatlicher Leistungen vorantrieb und die Anhebung des Rentenalters auf 75 Jahre befürwortete, dass soziale Sicherheit „Individuen unfrei macht … und eine wachsende Unterschicht schafft.“

In einem Papier, das er für Bildungsminister Michael Gove verfasste, argumentierte Johnsons Chefberater Dominic Cummings, die Finanzierung eines vielseitigen Bildungsprogramms für Arbeiterkinder sei sinnlos, da Intelligenz hauptsächlich genetisch bedingt sei. Cummings war es auch, der im Januar 2018 den bekennenden Eugeniker Andrew Sabisky als Sonderberater der Regierung engagierte. Sabisky nahm neben Anhängern der Ideologie der „weißen Vorherrschaft“ sowie Faschisten an der London Conference on Intelligence teil. Außerdem waren mehrere britische Akademiker sowie der rechte Kolumnist Toby Young vertreten, der 2018 für die Leitung des staatlichen Office for Students nominiert worden war.

Etwas später im gleichen Jahr schrieb der stellvertretende Vorsitzende der Jugendorganisation der Tories, Ben Bradley, in einem Blogpost, dass Großbritannien bald „in einem riesigen Meer an arbeitslosen Verschwendern untergehen“ werde. Im Anschluss erklärte er, an die ärmeren Familien gerichtet: „Es tut mir leid, aber wie viele Kinder Sie bekommen, entscheiden Sie selbst. Wenn Sie sie sich nicht leisten können, setzen Sie sie einfach nicht in die Welt! Vasektomien sind kostenlos.“

Die WSWS kommentierte nach Sabiskys Amtsantritt, dass diese Ideologie „in der herrschenden Klasse regelmäßig als Reaktion auf eine Verschärfung des Klassenkampfes unter den Bedingungen einer tiefen kapitalistischen Krise an Bedeutung gewonnen hat. Sie dient in erster Linie als ideologische Waffe gegen den Marxismus und die sozialistische Bewegung, indem sie die Ungleichheit für biologisch gegeben statt sozial bedingt erklärt. Ihre Folgen sind die Verunglimpfung und Unterdrückung der Arbeiterklasse sowie deren Spaltung entlang der Hautfarbe … Dieser reaktionäre Dreck ist ein Ergebnis der tiefgehenden Fäulnis in der Politik der herrschenden Klasse, die eine zunehmend faschistischen Charakter annimmt.“

In den vergangenen Monaten ist dieser Prozess, der im Inneren der bürgerlichen Gesellschaft begann, mit Macht nach außen gebrochen und zu einem Problem geworden, mit dem Millionen von Menschen auf der Welt konfrontiert sind.

Für die herrschende Klasse, die Johnson repräsentiert, ist die Pandemie eine unvermeidbare und größtenteils vorteilhafte „malthusianische Katastrophe“, ein „Hemmnis“ für das Anwachsen der Bevölkerung, die ihre „überflüssigen“ und „untauglichen“ Gruppen aussondert. Die fortwährende Gefährdung der Arbeiterklasse – insbesondere ihrer am schlechtesten bezahlten und gesundheitlich vorgeschädigten Schichten –, die Verwandlung von Pflegeheimen in Orte des Massensterbens und die fehlende Versorgung von Alten und Kranken sind soziale Verbrechen, die in dieser abscheulichen Klassenideologie wurzeln.

Wohin diese Ideologie führt, zeigte sich auf krasseste und erschreckendste Weise darin, wie alte Menschen sich selbst überlassen wurden. Der Guardian enthüllte am 5. Juni, dass die Regierung eine Empfehlung von Public Health England (Abteilung des Gesundheitsministeriums) abgelehnt hatte. Die Empfehlung schlug einen sichereren Lockdown für Pflegeheime und die Bereitstellung ungenutzter britischer Nightingale-Krankenhäuser für die Quarantäne und Pflege der Heimbewohner vor. Der Vorschlag wurde am 28. April eingereicht, als bereits zur Genüge deutlich geworden war, dass das Coronavirus in dieser Bevölkerungsgruppe besonders viele Opfer forderte.

Auf das Schicksal von 400.000 alten Menschen reagierte die Regierung mit Gleichgültigkeit, da sie sie – in der Sprache des Dritten Reichs – als „nutzlose Esser“ betrachtet. Zu Beginn der Krise hatte Jeremy Warner, Redakteur des Telegraph und führender Wirtschafts- und Business-Kolumnist, geschrieben: „Vom rein wirtschaftlichen Standpunkt könnte sich Covid-19 langfristig sogar als leicht vorteilhaft erweisen, indem es überproportional viele leistungsabhängige ältere Menschen ausmerzt.“

All dies traf bei keiner Fraktion der herrschenden Elite oder bei ihren Dienern in den Medien, Gewerkschaften oder der Labour Party auch nur auf den geringsten Widerstand.

Die internationale Entwicklung verläuft in gleicher Richtung. In Deutschland trommeln Politiker und Medienkommentatoren, auch Vertreter der Linkspartei, für eine Rückkehr an die Arbeit. Sie treten das Recht auf Leben mit Füßen und paktieren dabei mit Neonazis. US-Präsident Donald Trump hat in Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei eine vollständige Wiedereröffnung der Wirtschaft durchgesetzt und verzichtet auf öffentliche Gesundheitsmaßnahmen. Schwedens sozialdemokratische Regierung und ihre Politik, die ausdrücklich der Strategie der Herdenimmunität folgte und zu einer der weltweit höchsten Todesraten pro Kopf geführt hat, wurde wiederholt zur Nachahmung empfohlen.

Das Coronavirus hat eine herrschende Klasse im Zustand des endgültigen Verfalls offenbart, die jegliches Recht auf Herrschaft verloren hat. Auf Krisen reagiert sie mit mörderischen Theorien, die „einem mittelalterlichen Ideenfriedhof entstiegen“ sind, wie Trotzki über den Faschismus der 1930er Jahre bemerkte. Eine rationale und humane Lösung für diese globale Katastrophe sowie die Zeit danach hängt davon ab, dass die Arbeiterklasse als die fortschrittliche Kraft innerhalb der Gesellschaft ihre revolutionäre Aufgabe erfüllt und diesen rückschrittlichen Kräften im bewussten Kampf für den Sozialismus das Handwerk legt.

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