Die zögerlichen Schritte, mit denen die Regierungen der europäischen Länder auf immer neue Coronavirus-Rekordzahlen reagieren, können nicht über die Katastrophe hinwegtäuschen, die dieselben Regierungen durch ihre verfrühte Back-to-work-Politik und die Wiedereröffnung aller Schulen selbst verursacht haben.
Seit dem Wochenende werden in Italien, Frankreich und Deutschland alle Rekorde gebrochen. In Italien wurden am gestrigen Dienstag fast 22.000 Fälle von COVID-19 entdeckt. In Deutschland waren es nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) über 11.400 Fälle mehr als am Montag. Frankreich verzeichnete erneut 33.417 neue Fälle, nachdem es am Sonntag über 52.000 und am Samstag 45.000 neue Fälle registriert hatte.
Frankreich hat letzte Woche den Meilenstein von einer Million Fällen seit Pandemie-Beginn überschritten. Allein am Montag sind nicht weniger als 532 Corona-Patienten verstorben. Damit steigt die Gesamtzahl der Corona-Todesfälle in dem Land auf 35.541. Nicht weniger als 17 Prozent der Tests waren zuletzt Covid-19-positiv, was die Rate auf einen neuen Höchststand hebt. Anfang September waren es noch 4,5 Prozent.
Spanien meldete am Wochenende mehr als 52.000 neue Fälle und am Montag weitere 18.418 neue Fälle. Pro 100.000 Einwohner werden zurzeit in Spanien rund 360 Covid-19-Fälle registriert. Überall im Land, sowohl auf der Halbinsel, als auch auf den Balearen, nehmen die Corona-Fälle stetig zu. Am Montag wurden 267 zusätzliche Todesfälle verzeichnet, womit sich die offizielle Zahl der Todesopfer auf 35.300 erhöht. Wie die spanische Presse einräumt, liegt die reale Zahl jedoch eher bei 55.000 Toten.
Am Samstag gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekannt, dass sie den dritten Tag in Folge einen neuen Weltrekord an Corona-Infektionen verzeichnet habe. Besonders betroffen sei dabei die nördliche Hemisphäre. Laut WHO-Weltstatistik wurden am Donnerstag 437.247 Fälle, am Freitag 449.720 Fälle und am Samstag 465.319 Fälle bestätigt.
In Europa haben die Regierungen mehrerer Länder angesichts der chaotischen Situation im Gesundheitswesen neue Maßnahmen ergriffen. In Italien werden die Kinos, Theater, Turnhallen und Schwimmbäder schließen, während Bars und Restaurants ihren Service nach 18.00 Uhr einstellen müssen. Eins der besonders stark betroffenen Länder, Belgien, hat seine Ausgangssperre auf 22.00 Uhr vorverlegt. Kulturelle und sportliche Aktivitäten sind seit Montag verboten.
In Spanien, wo rund 4.500 Klassenzimmer, d.h. 1,3 Prozent der Gesamtzahl, unter Quarantäne stehen, hat Premierminister Pedro Sanchez im ganzen Land, mit Ausnahme der Kanarischen Inseln, eine Ausgangssperre verhängt und den gesundheitlichen Notstand ausgerufen.
Sanchez trat nach einem Kabinettstreffen vor die Presse und erklärte: „Die Realität sieht so aus, dass Europa und Spanien in eine zweite Welle der Pandemie eingetaucht sind. Wir durchleben gerade eine außergewöhnliche Situation.“ Weitere Eindämmungsmaßnahmen schloss Sanchez jedoch aus: „In diesem Ausnahmezustand wird es keinen Hausarrest geben, aber je länger wir zu Hause bleiben, desto sicherer sind wir“, sagte er. „Jeder weiß, was zu tun ist.“
„Wir wissen, dass zahlreiche Epidemien im sozialen Bereich auftreten, aber ich bezweifle doch, dass viele von ihnen nachts und gerade nach Mitternacht auftreten“, mokierte sich Pedro Gullon von der spanischen Gesellschaft für Epidemiologie über die späte nächtliche Ausgangssperre in Spanien und in anderen Ländern.
Gullon schlug stattdessen einen neuen Lockdown vor und forderte, dass das Arbeiten im Home-Office nach Möglichkeit obligatorisch sein sollte. Damit werde man „viel unnötige Mobilität vermeiden, wo Tausende die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen“, wo sich das Virus besonders rasch ausbreitet.
In Frankreich diskutiert die Regierung nach wie vor die Nützlichkeit lokaler und nationaler Sperren, wie Cédric O, stellvertretender Minister für digitale Wirtschaft, am Sonntag erkennen ließ. Bei France Info antwortete der Minister auf eine Frage zu möglichen neuen Einschränkungen mit den Worten: „Alles ist möglich.“ Macron hält am Dienstag und Mittwoch zwei Sitzungen des Verteidigungsrats ab, um die Reaktion auf die Pandemie zu diskutieren.
Während die Pandemie gerade den Kontinent verwüstet, sagte Minister O unverbindlich: „Wir dürfen nichts ausschließen und müssen sehen, was entsprechend der Entwicklung der Epidemie zu tun ist.“
Tatsächlich verhält sich Macron seit Wochen wie ein Nero, der zuschaut, wie Frankreich brennt, während eine Katastrophe ganz Europa bedroht. In Frankreich sind mehr als ein Drittel der Betten auf den Intensivstationen – und mehr als zwei Drittel in der Region Ile-de-France um Paris – bereits mit Covid-19-Patienten belegt. Die Zahl der Patienten verdoppelt sich etwa alle zehn Tage. Auch wenn die Regierung jetzt unmittelbar einen strengen und allgemeinen Lockdown verhängen würde, würde die Zahl der Patienten noch mehrere Wochen lang weiter steigen. In jedem Fall sind die Krankenhäuser völlig überfordert.
Ein Arzt auf der Intensivstation sagte der Zeitung Le Parisien: „Wir haben 15 Patienten auf dem Flur liegen, und wir wissen nicht, wohin mit ihnen. Wir arbeiten bis 4 Uhr morgens. Wenn wir so weitermachen, brechen wir zusammen. Als wir die Schlagzeile von Les Echos lasen, wo ein Minister sagte, die Krankenhäuser seien besser aufgestellt als im Frühjahr, hatten wir wirklich genug. Wir waren entsetzt!“
Die europäischen Regierungen haben den Erfolg des Lockdowns, den sie im März verhängt hatten, mittlerweile komplett verspielt. Damals hatten sie angesichts einer Reihe spontaner Streiks in Italien, die sich auf Europa ausbreiteten, einige strengere Maßnahmen ergriffen. Im Sommer setzte die herrschende Klasse jedoch die vorzeitige Rückkehr an die Arbeit und in die Schulen durch, und alle Beschränkungen wurden aufgehoben. Dies hat zu dem jetzigen Rückschlag geführt, und die rasche erneute Ausbreitung der Pandemie bedroht Millionen von Menschenleben in ganz Europa.
Der Widerstand, den die Regierungen und Banken einem neuen Lockdown entgegensetzen, zeigt ihre schiere Bereitschaft, über Leichen zu gehen. Regierungspolitiker greifen zu Ausgangssperren und anderen mehr oder weniger performativen Maßnahmen, hauptsächlich weil sie einen Ausbruch sozialer Wut befürchten. Dies fürchten sie völlig zu Recht, denn ihre Forderung, die Arbeiter müssten „lernen, mit dem Virus zu leben“, provoziert zwangsläufig eine große soziale Wut. Die Pandemie und Hunderttausende Tote haben den Bankrott der Finanzaristokratie offengelegt und den Beweis erbracht, dass sie unfähig ist, Menschenleben zu schützen.
Ihre kriminelle Politik geht mit der Komplizenschaft der Gewerkschaften und ihrer pseudolinken Verbündeten einher, ohne die sie nicht möglich wäre. Sie haben die katastrophale Back-to-work-Politik und die Wiedereröffnung der Schulen ausgehandelt. Diese Funktionäre sind nicht nur Propagandisten der Politik der Herdenimmunität: Sie haben sie selbst umgesetzt.
Die Regierung des stark von der Pandemie betroffenen Spaniens wird von einer Koalition der Sozialdemokratie mit den „linken Populisten“ von Podemos geführt. Diese Partei setzt die Herdenimmunitätspolitik der EU um; im Sommer hat sie den Einsatz der Polizei in den engen Arbeitervierteln von Madrid gebilligt. Heute, da die Gesundheitssituation in Spanien völlig außer Kontrolle gerät, weigert sich die Regierung, der Podemos angehört, Maßnahmen gegen das Virus zu ergreifen. Auf Kosten der Arbeiter schützt sie die Profite der Banken.
Diese Situation rechtfertigt voll und ganz die Forderung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, in den Schulen und an jedem Arbeitsplatz von den Gewerkschaften unabhängige Sicherheits- und Aktionskomitees zu gründen. Diese Komitees werden sicherstellen, dass die systemrelevanten Arbeiter vor dem Virus geschützt werden, während sie einen gemeinsamen Kampf der Arbeiter für die Verhängung des Lockdowns vorbereiten, der die einzig wirksame Methode zur Bekämpfung des tödlichen Virus darstellt.
Arbeiter in nicht-systemrelevanten Bereichen und junge Menschen müssen das Recht haben, zu Hause zu bleiben. Die Tausende Milliarden Euro aus den Konjunkturprogrammen dürfen nicht länger zur Rettung der Banken verwendet werden. Sie sollen dazu dienen, dass Arbeiter ohne Einkommensverluste in Sicherheit zuhause bleiben können. Dazu ist es notwendig, die Finanzaristokratie auf sozialistische Weise zu enteignen. Dies bedeutet, dass die europäische Arbeiterklasse den Kampf um die Macht aufnehmen und die Gesellschaft nach den Bedürfnissen der Menschheit neu organisieren muss.