Am Sonntag starb in Offenbach das bisher jüngste Sars-CoV-2-Opfer dieser Stadt mit 51 Jahren. Offenbach ist zurzeit der hessische Corona-Hotspot. Der traurige Tod einer Frau, die noch Jahrzehnte hätte leben können, ist eine weitere Anklage gegen eine Regierungspolitik, deren einhelliges Credo lautet: Die Wirtschaft verträgt keinen neuen Lockdown.
Nach diesem Credo wird zurzeit in Bund, Ländern und Kommunen alles getan, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Das setzt nicht nur die Beschäftigten in Produktion, Pflege und Transport, sondern auch die Schüler, Lehrer, Erzieher und ihre Familien, sowie alle im öffentlichen Personenverkehr Beschäftigten einer tödlichen Gefahr aus.
Gleichzeitig werden die steigenden Fallzahlen, das zwangsläufige Ergebnis dieser Politik, nun benutzt, um die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich auf dem Krisengipfel im Kanzleramt entschieden dafür ausgesprochen, die Bundeswehr in den Großstädten einzusetzen, um Gesundheitsämter zu entlasten. Die selbstgeschaffene Misere dient so als Vorwand, um die Bevölkerung an den Einsatz des Militärs im Innern zu gewöhnen.
Die Gesundheitsämter sind hoffnungslos überlastet und überfordert. Auch das ist ein Ergebnis der Wiederöffnungspolitik, denn während des Lockdowns hatten sie viel zusätzliches Personal aus den anderen, stillgelegten Ämtern. Nun können vielerorts die Kontaktpersonen nicht mehr zuverlässig ermittelt werden.
So hat letzte Woche auch der Oberbürgermeister von Offenbach, Felix Schwenke (SPD), die Bundeswehr um Amtshilfe ersucht. Am gestrigen Dienstag nahmen Soldaten eines Aufklärungsbataillons die Arbeit im Gesundheitsamt von Offenbach auf, und schon am Sonntag beteiligte sich ein Vertreter der Bundeswehr am städtischen Corona-Planungsstab. Gleichermaßen hat der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) Soldaten angefordert, und auch in mehreren Berliner Kreisen arbeiten schon Soldaten der Bundeswehr.
Die kaum verhüllte Durchseuchungsstrategie hat das Virus mit Macht zurückgebracht. Seit Tagen meldet das RKI weit über 4000 Neuinfektionen. Am Mittwochmorgen meldete das RKI 5132 Neuinfektionen in nur 24 Stunden und 43 Tote. Insgesamt sind bisher 9682 Covid-19-Patienten gestorben. Der R-Wert bewegt sich mit 1,4 deutlich im Bereich der exponentiellen Zunahme. Vor allem seit Beginn des neuen Schuljahrs gehen die Zahlen rapide in die Höhe. In nur einem Monat, vom 9. September bis zum 9. Oktober, haben sich die täglichen Corona-Neuinfektionen von rund 1500 auf 4516 verdreifacht. In dieser Zeit sind weitere 300 Covid-19-Patienten gestorben.
Betroffen ist nicht nur Offenbach, die Stadt mit einer aktuellen 7-Tages-Inzidenz von fast 80 pro 100.000 Einwohner. Auch Berlin, Frankfurt, Köln, Bremen, Stuttgart, München, Düsseldorf, Duisburg und andere Städte überschreiten zurzeit den vielbeschworenen Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Wie das RKI meldete, lebt in Nordrhein-Westfalen inzwischen etwa jeder Vierte in einem solchen sogenannten Corona-Risikogebiet.
Das Anrollen der zweiten Welle betrifft auch alle, die sich als Busfahrer und Altenpfleger, Krankenschwestern, Lehrer und Erzieherinnen etc. dem Virus nicht entziehen können. Sie realisieren mit wachsendem Zorn, dass sie nun die Kosten an Leben und Gesundheit für diese Politik zu tragen haben.
„Der Schulstart im Regelbetrieb und die Kita-Öffnungen sind ein Wirtschaftsrettungsprogramm, damit die Eltern zur Arbeit gehen können“, schreibt beispielsweise Conny F, eine Facebook-Nutzerin. „Zudem darf es offenbar nichts kosten“, ergänzt sie mit Blick auf die Weigerung der Landespolitiker, den Schulen mehr Personal und moderne Lüftungssysteme zur Verfügung zu stellen.
In der TV-Sendung „hart aber fair“ hat die Krankenpflegerin Nina Böhmer, Autorin eines Buchs über den Pflegenotstand, am Montag bestätigt, dass in Krankenstationen und Altenheimen seit April „eigentlich gar nichts“ geändert worden sei. „Die Personalsituation ist noch die gleiche, die Materialsituation ist die gleiche. Schon vor der Pandemie wurde unglaublich an der Ausrüstung und am Personal gespart. Wir arbeiten immer noch an der Belastungsgrenze.“
Im Frühjahr hatte Böhmer auf Facebook gepostet: „Euer Klatschen könnt ihr euch sonst wo hinstecken ... wenn ihr helfen wollt oder zeigen wollt, wie viel wir Wert sind, dann helft uns für bessere Bedingungen zu kämpfen!“
Der wachsende Kampfgeist kommt international bereits in Jugendprotesten zum Ausdruck. In Polen bestreiken die Schüler aus Angst, ihre Familien anzustecken, seit letzten Montag einen Teil der Schulen, während andere Schüler schwarz gekleidet zum erzwungenen Präsenzunterricht kommen.
In Griechenland haben Schüler Ende September über 700 Schulen besetzt. Für ihre Forderungen nach kleineren Klassen, mehr Lehrkräften und sicheren, kostenlosen Transportmitteln trotzen sie der Staatsgewalt, die sie erpresst und gewaltsam angreift. Sie betonen: „Wir sind keine Kosten – wir sind die Zukunft!“
Die World Socialist Web Site und die Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale kämpfen dafür, dass sich Arbeiter und Jugendliche in unabhängigen Aktionskomitees zusammenschließen, bundesweit und international vernetzen und einen Generalstreik vorbereiten, um die zweite Welle in Europa gemeinsam zu stoppen.
Immer deutlicher wird, dass die Gewerkschaften im Boot der Regierenden und Wirtschaftsbosse sitzen, und dass auch Verdi und IG Metall dem Lager der Corona-Verharmloser und Durchseuchungspolitiker angehören. Obwohl Verdi derzeit bundesweite Warnstreiks im öffentlichen Dienst und im öffentlichen Nahverkehr organisiert, hat sie keine einzige Forderung nach mehr Sicherheit in der Pandemie aufgestellt. Gegen die unhaltbare Situation an den Schulen rührt die Gewerkschaft keinen Finger. Die Warnstreiks dienen ihr nur dazu, ein Ventil für die wachsende Wut zu schaffen und die Kontrolle nicht aus der Hand zu geben.
Dies führt dazu, dass immer mehr Arbeiter durchschauen, wo die Gewerkschaft wirklich steht. So vermutete Kaya, eine Berliner Busfahrerin, im Gespräch mit der WSWS: „Ein Grund, warum sie sich nicht für die Sicherheit der Kollegen vor Ansteckung mit Corona einsetzen, ist, dass die Verträge sicherlich schon längst unter Dach und Fach sind. Das kennen wir schon aus der Vergangenheit.“
Ihr Kollege H., der für die BGV-Tochter Berlin Transport GmbH fährt, berichtete: „Nicht einmal bei den privaten Fahrern, die oft nur mit Flatterband herumfahren müssen, kämpfen sie für Schutz. Frei nach dem Motto: Ich werde doch die Hand nicht schlagen, die mich füttert.“
„Wichtige zehn Monate wurden nicht genutzt“, fuhr H. fort. Schon im Januar hätten auf den Betriebshöfen eine Maskenpflicht und eine Abstandsregel gelten müssen. „Man hätte alles runterfahren sollen. Die Leute haben ja gesehen, dass viele Menschen in China gestorben sind. Jetzt – nach zehn Monaten – eine Maskenpflicht zu verkünden, ist ein Witz und eine Alibimaßnahme, damit die Firma sagen kann, sie hätte etwas getan. Eine geschlossene Fahrerkabine hätte in der Zeit schon längst eingebaut sein können.“
Die steigenden Corona-Zahlen sind umso alarmierender, als sie nicht das aktuelle Infektionsgeschehen, sondern dasjenige vor sieben bis zehn Tagen widerspiegeln. Das bedeutet, dass die Zahlen selbst bei einem unwahrscheinlichen effektiven Gegensteuern noch mindestens zehn Tage weiter steigen würden. Mit der jetzigen Politik ist ein Niveau von täglich 10.000 und mehr Neuinfektionen fest vorprogrammiert. Mit der Folge, dass täglich mehrere hundert mit schweren Verläufen ins Krankenhaus kommen und Dutzende bis Hunderte täglich sterben werden.
Am Freitag wies der Charité-Leiter Heyo Kroemer auf der Bundespressekonferenz mit Christian Drosten auf die Zahlen in Frankreich hin. „In Frankreich sind sie uns immer um zwei-drei Wochen voraus“, so Kroemer, das sei schon im Frühjahr so gewesen. Am Freitag hatte die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Frankreich erstmals wieder die Schwelle von 20.000 pro Tag überschritten, und am Samstag waren es schon fast 27.000 in 24 Stunden. Über 32.600 Menschen sind in Frankreich an der Pandemie gestorben. Auch Spanien, Österreich, Tschechien, Polen, die Niederlande, Portugal und praktisch ganz Europa melden wieder steigende Coronazahlen.
Schon häufen sich erneut die Berichte über Ausbrüche in Pflegeheimen und Flüchtlingsunterkünften.
Im Vitalis-Wohnpark in Bad Essen (Niedersachsen) wurden am Samstag 27 Bewohner und 13 Mitarbeiter Covid-19-positiv getestet, während eine 85-jährige Bewohnerin verstarb. Kurz zuvor hatten sich am Mittwoch in einem Pflegeheim für Demenzkranke in Freudental (Baden-Württemberg) 24 von 29 Bewohnern und sieben Mitarbeiter mit dem Coronavirus angesteckt.
Schon vor einer Woche wurde der Corona-Ausbruch in einer Wohnstätte für Menschen mit Behinderung im thüringischen Schleiz bekannt. Mehr als 20 Menschen, auch Mitarbeiter des Heims, hatten sich dort infiziert. Im Landkreis Esslingen sind mindestens 26 Schulen, fünf Kindertagesstätten und mehrere Flüchtlingsheime betroffen. Ein Infektionsherd ist ein Frachtzentrum der DHL in der Gemeinde Köngen, wo auch Flüchtlinge arbeiten, die in Gemeinschaftsunterkünften in der Nähe wohnen.
Stark betroffen sind auch die Schulen, und nicht nur in Baden-Württemberg sind die Schulschließungen sprunghaft angestiegen. Dort gibt es seit Schuljahresbeginn 531 bestätigte Coronafälle an Schulen, Kitas und Horten, und 23 Lehrer sind erkrankt. Wie die Rhein-Neckar-Zeitungberichtet, war waren Mitte September alle Klassen offen, am 24. September gab es schon 172 Klassenschließungen, und am 6. Oktober erhöhte sich die Zahl auf 444.
Hinzu kommt nun die Herausforderung der kalten Jahreszeit, während man um jeden Preis am Regelbetrieb festhält. Der Deutsche Philologenverband rät den Lehrern und Schülern, sich im Klassenzimmer „dick anzuziehen“, damit weiterhin gelüftet werden kann.
Dazu mehren sich die Kommentare im Internet. „Das ist das ultimative Armutszeugnis unserer Gewerkschaften“, kommentiert Lanayah. Und ein Lehrer Gustav schreibt: „Die sollen mal lieber den Schulleitungen raten, die Schule zu schließen, wenn die Minimaltemperatur nach Arbeitsschutzrichtlinie unterschritten wird. Wieso immer beugen? Zwei Wochen alle Schulen zu, alle würden bei den KMs [Kultusministerien] Druck machen – und keiner müsste mehr frieren, weil auf einmal Geld da wäre.“
Aber die führenden Politiker aller Couleurs, von CDU bis Linkspartei, halten an der Back-to-work-Strategie fest und vertreten im Prinzip alle AfD-Politik. Während sie das „unvernünftige Partyvolk“ beschimpfen, nutzlose Alkoholverbote und Sperrstunden verhängen und die Bundeswehr mobilisieren, sehen sie keinen Grund, die eigentlichen Superspreader-Events – die vollen Schulen und Kitas und überfüllten Busse und Bahnen – einzuschränken, umzurüsten und Pandemie-sicher zu gestalten.