Experten warnen, dass die Krankenhäuser in Deutschland aufgrund der dramatisch steigenden Fälle von Covid-19-Infektionen an die Grenzen der Überlastung kommen. Während in den letzten Monaten die Schutzmaßnahmen gegen das Virus nahezu vollständig abgebaut wurden, unternahm die Regierung nichts, um die Kliniken auf den vorhersehbaren Anstieg von schweren Verläufen vorzubereiten.
Man müsse sich auf eine Welle schwer erkrankter Patienten vorbereiten, erklärte die Leiterin der Abteilung Infektiologie des Uniklinikums Gießen, Susanne Herold, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Vor allem in den Großstädten werden die Kliniken dadurch an die Grenze ihrer Kapazitäten stoßen.
Am 8. Oktober wurden in Deutschland 487 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch versorgt, 237 von ihnen wurden invasiv beatmet. Einen Monat vorher, am 8. September, waren es noch 230 Fälle gewesen, von denen 130 beatmet wurden – ein Anstieg um 112 Prozent.
Laut Herold ist in den nächsten Wochen mit einem weiteren deutlichen Anstieg und damit verbundenen Engpässen zu rechnen. Allein am Samstag stieg die Zahl der Neuinfektionen um 4721 und lag damit den dritten Tag in Folge über 4000. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte bereits Ende September verkündet, sie rechne bis Weihnachten mit 19.200 täglichen Neuinfektionen.
Die steigenden Infektionszahlen ziehen zwangsläufig eine zunehmende Anzahl an Klinikeinweisungen nach sich. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach rechnet künftig mit einer Todesrate von mindestens einem Prozent, also Hunderten Toten pro Tag.
Christian Karagiannidis von der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DIIN) hat in der Rheinischen Post vor zu wenig Intensivbetten gewarnt, besonders in großen Städten. Schon jetzt zeigten sich „deutliche Einschränkungen in den Kapazitäten“, vor allem in Berlin. In der Hauptstadt sind bereits jetzt 84 Prozent der Intensivbetten belegt. Jeden Tag stiegen die Aufnahmen auf Intensivstationen, vermutlich könnten bald nicht mehr alle Patienten am Wohnort behandelt werden, so der Mediziner.
Das größte Problem ist fehlendes und völlig überlastetes Personal. Das war bereits im Frühjahr deutlich geworden. Der Präsident des Berufsverbands der Deutschen Anästhesisten, Götz Geldner, hat in diesem Zusammenhang vor fehlendem Personal in den Krankenhäusern gewarnt. „Bei einem starken Anstieg von schweren Corona-Fällen wird es Engpässe beim Intensivpflegekräften geben“, gab er zu bedenken.
Schon im letzten Jahr mussten 37 Prozent der Intensivbetten in deutschen Kliniken wegen Personalmangel geschlossen werden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hatte bereits vor drei Jahren berichtet, dass 53 Prozent der Kliniken Probleme haben, Pflegestellen im Intensivbereich zu besetzen. Grund dafür sind katastrophale Arbeitsbedingungen und schlechte Löhne.
Zwischen 1991 und 2017 sind die Fallzahlen in Krankenhäusern um fast 30 Prozent gestiegen und die Verweildauer der Patienten hat sich gleichzeitig halbiert, was eine stark erhöhte Arbeitsbelastung bedeutet. Die Anzahl der Stellen im Pflegebereich ist im selben Zeitraum fast unverändert geblieben.
Auch der Gesundheitsexperte Hartmut Reiners bemerkte in der Frankfurter Rundschau: „Die Kapazitäten können nicht ausgelastet werden, weil qualifizierte Pflegekräfte fehlen. Die Länder haben in den letzten 25 Jahren ihre Fördermittel für die stationäre Versorgung halbiert.“
Gesundheitsminister Spahn reagierte mit der für ihn charakteristischen Mischung aus Ignoranz und glatten Lügen auf die Warnungen der Mediziner. Er wiederholte, dass die Kliniken in Deutschland für höhere Fallzahlen gut gerüstet seien, weil man aus der Situation im Frühjahr gelernt habe. Gleichzeitig stellte er nochmals klar, dass es nach dem Willen der Regierung keinen weiteren Lockdown geben werde. Obwohl die steigenden Fallzahlen auf die Öffnung von Schulen und Betrieben zurückzuführen sind, machte Spahn ausschließlich Feiern dafür verantwortlich.
Tatsächlich sind die Kliniken in Deutschland für Fallzahlen, wie sie in naher Zukunft wahrscheinlich sind, alles andere als gut gerüstet. Obwohl die Zahl der Neuinfektionen seit Wochen steigt, halten Kliniken deutlich weniger Betten für Corona-Patienten frei als zu Beginn der Pandemie.
Die Landesregierung in Baden-Württemberg hat entschieden, dass künftig statt 35 Prozent nur noch zehn Prozent der Klinikplätze für Covid-Patienten reserviert werden. Auch in Berlin, wo die Zahlen am stärksten nach oben schnellen, sind es nur noch zehn Prozent, ebenso in Niedersachsen. In anderen Bundesländern, wie Bayern oder Hamburg, müssen gar keine Intensivbetten mehr für Corona-Patienten freigehalten werden. Auch nach den jüngsten Zahlen sieht das Bundesgesundheitsministerium keinen Grund dafür, dass die Länder diese Regelungen ändern.
Tatsächlich halten zahlreiche Kliniken die Aufnahme von Covid-Patienten bewusst niedrig, da diese einen hohen Personal- und Sachaufwand bei vergleichsweise geringen Einnahmen bedeuten. Viele Krankenhäuser sind in den letzten Monaten tief in die roten Zahlen gerutscht. Laut dem Krankenhausreport 2020 der Unternehmensberatung Roland Berger rechnen 57 Prozent der deutschen Kliniken für das laufende Jahr mit einem Defizit. Trotz der andauernden Pandemie mussten mehrere Kliniken jüngst schließen, was die Versorgungssituation weiter verschärft.
Vertretern von Regierung und Wirtschaft kommt diese Situation nicht ungelegen. Bereits im letzten Jahr forderte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, dass die Zahl der Krankenhäuser in Deutschland halbiert wird.
Der RWI-Ökonom Boris Augurzky verlangte inmitten der Pandemie die flächendeckende Schließung von Kliniken. Kürzlich verkündete er erneut, dass ab 2022 zahlreiche Kliniken in massive finanzielle Schwierigkeiten geraten würden. Wie die Ärztezeitung berichtet, verlangte er von der Bundesregierung, die Klinikkosten zu senken. Es werde eine „Phase der Sparsamkeit“ auf uns zukommen, prophezeite Augurzky.
Unter diesen miserablen Bedingungen verwundert es nicht, dass Kliniken und Pflegeheime erneut zu Hotspots der Corona-Pandemie werden.
Im brandenburgischen Bad Saarow wurden 46 Personen positiv getestet. In dem Klinikum des Helios-Konzerns infizierten sich 25 Mitarbeiter und 21 Patienten. Gegenwärtig können keine Aufnahmen in der Klinik erfolgen. Auch weitere Patienten könnten infiziert sein, die Infektionsketten lassen sich kaum nachverfolgen.
Auch im Ernst-von-Bergmann-Klinikum in Potsdam traten erneut Fälle auf. Vier Mitarbeiter aus dem klinischen Bereich und fünf Beschäftigte aus dem Servicebereich haben sich infiziert. Im März hatten sich über 50 Menschen in der Klinik mit dem Coronavirus angesteckt. Die Staatsanwaltschaft Potsdam nahm Ermittlungen wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung auf.
In einem Nürnberger Pflegeheim haben sich in dieser Woche 28 Menschen angesteckt. Von den 18 Bewohnern und 10 Beschäftigten muss mindestens eine Person intensivmedizinisch behandelt werden. In einer Einrichtung in Freudental haben sich 24 von 29 Bewohnern und sieben Mitarbeiter angesteckt. Weitere Fälle werden nahezu täglich aus dem gesamten Bundesgebiet gemeldet.
Knapp über 10 Prozent (Stand September) aller bisher gemeldeten Infizierten sind laut dem Robert Koch-Institut (RKI) in den Bereichen Medizin und Pflege tätig, verstorben sind bisher offiziell 64 Beschäftigte. Weitere schwere Erkrankungen und Todesfälle von Beschäftigten und Patienten werden durch die Politik der Bundes- und Landesregierungen billigend in Kauf genommen.