Wolfgang Clement, der am Sonntag im Alter von 80 Jahren an einer Krebserkrankung starb, verkörperte das ungeschminkte Gesicht der SPD. Im Unterschied zu anderen Sozialdemokraten hielt er es nie für nötig, seine Verachtung für jene zu verbergen, deren Interessen die SPD zu vertreten vorgab. Er war ein rücksichtsloser Verteidiger von Kapitalinteressen und erachtete es als wichtigste Aufgabe seiner Partei, die Arbeiterklasse zu disziplinieren und zur Arbeit anzuhalten.
Gerade das machte ihn besonders wertvoll für die SPD. Als Wahlkämpfer, der den Wählern großzügige Versprechen macht, war er zwar wenig geeignet. Umso mehr dagegen als „Macher“, der lange hinter den Kulissen operiert, um dann in der Regierung ohne Rücksicht auf Verluste soziale und demokratische Rechte zu zerschlagen.
Im Unterschied zu anderen rechten SPD-Politikern wie Gerhard Schröder oder Olaf Scholz, die ihre Karriere bei den Jusos mit antikapitalistischen Phrasen begonnen hatten, hat Clement aus seinen rechten Ansichten nie ein Hehl gemacht. 1940 als Sohn eines Baumeisters in Bochum geboren, arbeitete er als Journalist und studierte Jura, bevor er sich 1970 im Alter von dreißig Jahre der SPD anschloss.
Dort wurde er vom Parteivorsitzenden Willy Brandt und später vom NRW-Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau gefördert, mit dessen Familie er eng befreundet war – von SPD-Größen also, die heute als angebliche Vertreter einer sozialen Politik idealisiert werden. 1981 machte ihn Brandt zum Parteisprecher und 1985 auch zum Bundesgeschäftsführer der SPD. Ab 1989 führte er Raus Staatskanzlei in NRW.
Clement ist kein Einzelfall innerhalb der SPD. Frank-Walter Steinmeier leitete erst zwölf Jahre lang die niedersächsische Staatskanzlei und dann das Kanzleramt von Gerhard Schröder, bevor er als Außenminister und schließlich als Bundespräsident ins Licht der Öffentlichkeit trat, um für die Rückkehr des deutschen Militarismus zu werben. Thilo Sarrazin, das ehemalige Führungsmitglied der Treuhand und der Deutschen Bahn, wurde vom rot-roten Senat als Finanzsenator nach Berlin geholt, um den öffentlichen Dienst kaputtzusparen, bevor er sich als Rassist und ideologischer Wegbereiter der AfD outete.
Clement zeigt die SPD so, wie sie wirklich ist – als Partei, die das kapitalistische System auf Biegen und Brechen verteidigt und vor nichts zurückschreckt, um jede Opposition dagegen zu unterdrücken. Seine Biografie demonstriert anschaulich, wie absurd und gefährlich die Vorstellung ist, eine Regierung aus SPD, Grünen und Linkspartei wäre ein geringeres Übel als die derzeitige Große Koalition, wie sie insbesondere die Linkspartei vertritt.
Während seiner 38-jährigen SPD-Mitgliedschaft, in der er zahlreiche Spitzenämter in Partei- und Regierung bekleidete, bestritt Clement nur einen einzigen Wahlkampf – 2000, als er das Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten verteidigte, das er zwei Jahre zuvor von seinem langjährigen Freund und Mentor Johannes Rau geerbt hatte.
Kaum im Amt, schlug Clement einen drastischen Sparkurs ein, um die Schulden des Landes von 130 Milliarden Euro abzubauen. Zu seinen Kernvorhaben zählte auch die Zusammenlegung von Innen- und Justizministerium, was die Kontrolle über Gerichte, Staatsanwaltschaft und Polizei in eine Hand gelegt hätte. Davon musste er nach einem Sturm der Empörung wieder ablassen. Selbst der Präsident des Bundesgerichtshofs wies darauf hin, dass Polizei und Justiz nur während der Nazi-Herrschaft demselben Minister unterstellt waren.
Clement gewann die Wahl im Jahr 2000 mit erheblichen Stimmenverlusten. Zwei Jahre später gab er sein Amt auf, um als „Superminister“ für Finanzen und Wirtschaft in die rot-grüne Bundesregierung von Gerhard Schröder einzutreten. Schröder holte Clement nach Berlin, um die Agenda 2010 zu verwirklichen, den umfassendsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik, der die Beziehungen zwischen den Klassen grundlegend veränderte. Massive Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen gingen mit dem Aufbau eines riesigen Niedriglohnsektors einher. Hartz IV diente als Druckmittel, um anständig bezahlte Arbeiter zur Aufnahme schlecht bezahlter Jobs zu zwingen.
Während Schröder als Kanzler die Verantwortung für die Agenda-Politik übernahm und dabei von den Grünen unterstützt wurde, erledigten Clement und der damalige Kanzleramtschef Steinmeier die Drecksarbeit.
Clement stürzte sich begeistert und verbissen in die Aufgabe. Er verhöhnte öffentlich jeden, der sich gegen die Agenda-Politik zur Wehr setzte. Sein Ministerium veröffentlichte eine Broschüre mit dem Titel „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“. Darin wurden Arbeitslose und Hilfsbedürftige als „Schmarotzer“, „Trittbrettfahrer“, „Abzocker“ und „Parasiten“ verunglimpft. Clement selbst behauptete auf Pressekonferenzen und in Talkshows ohne Beweis, es gebe bei Hartz IV-Empfängern eine Missbrauchsquote von zehn bis zwanzig Prozent.
2005 erlitt die SPD in ihrer einstigen Hochburg Nordrhein-Westfalen eine verheerende Niederlage bei der Landtagswahl und Schröder beendete die rot-grüne Koalition vorzeitig. Clement verlor sein Ministeramt und wandte sich empört von der SPD ab. 2008 sprach er sich in einem Gastbeitrag für die Welt am Sonntag gegen die Wahl der SPD bei der anstehenden hessischen Landtagswahl aus. Zur Begründung führte er die Wahlaussage der SPD an, sie werde weder neue Atom- noch Kohlekraftwerke bauen, was die Interessen des Energiekonzerns RWE berührt hätte, in dessen Aufsichtsrat Clement mittlerweile saß.
Es drohte ein Verfahren wegen parteischädigendem Verhalten. Obwohl sich zahlreiche führende Vertreter der SPD hinter Clement stellten, kam dieser einem formellen Verfahren zuvor, indem er die Partei von sich aus verließ. In den folgenden Jahren unterstützte er in Wahlkämpfen die wirtschaftsliberale FDP, engagierte sich in rechten Thinktanks und verdiente als Wirtschaftslobbyist und Mitglied zahlreicher Aufsichtsräte Millionen. Dabei profitierte er persönlich von den Billiglöhnen, die er als Wirtschaftsminister eingeführt hatte.
So saß er von 2006 bis 2016 im Aufsichtsrat des fünftgrößten deutschen Zeitarbeitsunternehmens DIS. Als der Schweizer Konkurrent Adecco die DIS schluckte, übernahm Clement den Vorsitz des neugegründeten „Adecco Institute zur Erforschung der Arbeit“, das vollständig vom Adecco-Konzern finanziert wird und der öffentlichen Propagandaarbeit dient.
Auch dem Aufsichtsrat der Dussmann-Stiftung gehörte Clement seit 2005 an. Die Unternehmensgruppe mit einem Umsatz von 2,2 Milliarden Euro (2017) betätigt sich fast ausschließlich im Niedriglohnbereich. Sie beschäftigt in 17 Ländern 64.500 Mitarbeiter in Pflegheimen, im Reinigungs- und Sicherheitsgewerbe und im Catering. Aus Gründen der Imagepflege unterhält Dussmann in Berlin außerdem ein Kulturkaufhaus.
Außerdem war Clement Mitglied oder Vorsitzender der Aufsichtsräte von Medien- und Telekom-Unternehmen (Landau Media, DuMont Schauberg, Media Broadcast, 1&1 Versatel), von Konzernen im Energiebereich (RWE Power), dem russischen Beratungsunternehmen Energy Consulting, dem Bohrtechnikunternehmen Daldrup & Söhne, von Investmentfirmen (Berger Lahnstein Middelhoff & Partners, Citigroup Global Markets Deutschland, Deekeling Arndt Advisors) und des berüchtigten Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen.
Als Kuratoriumsvorsitzender der von den Unternehmerverbänden getragenen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und Mitglied anderer rechter Thinktanks verteidigte Clement die Agenda 2010 und forderte deren Verschärfung. So plädierte er 2012 mit der Begründung, Menschen könnten auch bis zum 75. oder 80. Lebensjahr arbeiten, weil der demografische Wandel dies erfordere, die Abschaffung des Renteneintrittsalters.
All das hindert die SPD nicht daran, den Verstorbenen in den höchsten Tönen zu loben. Bundespräsident Steinmeier würdigte sein „hohes politisches Engagement und seine offene und verbindliche Art, auf Menschen zuzugehen“. Er habe sich um das Land verdient gemacht.
Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel schrieb auf Twitter: „Egal ob in der SPD oder draußen: mit #WolfgangClement ist ein großer Sozialdemokrat gestorben, der viel für die Menschen in NRW und die Republik getan hat. Zupackend, humorvoll, dickköpfig und sensibel zugleich. Und ein Kämpfer bis zum Schluss. Mach’s gut, mein Freund.“
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kommentierte, Clement sei „tolerant“ und „ein sozialliberaler Geist“ gewesen. „Wir waren nicht immer einer Meinung, aber klar ist, dass Wolfgang Clement ein großer Politiker war, ruhelos für Deutschlands Zukunft im Einsatz.“
Auch die FDP und die CDU lobten Clement. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner twitterte, die FDP trauere um ihn. „Als Sozialliberaler setzte er sich Zeit seines Lebens für sozialen Aufstieg, Arbeit und Wachstum ein. Ich habe ihn auch ganz persönlich als Ehrenmann und Ratgeber schätzen gelernt.“
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bezeichnete Clement als „Macher, der wie kein anderer für Soziale Marktwirtschaft stand, ein Ministerpräsident, der mit Dynamik unser Land vorangebracht hat“. CDU-Rechtsaußen Friedrich Merz zollte ihm „Dank und hohe Anerkennung für sein politisches Lebenswerk“. Und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) pries ihn als „großen Patrioten, dem es nicht um Ideologie, sondern um Arbeitsplätze und Menschen ging“.