Ungarn wird gegenwärtig von einer Welle von Streiks erfasst. Am Donnerstag traten fast 10.000 Bedienstete des Öffentlichen Dienstes in den Ausstand. Nach dem Streik im Audi-Werk in Györ im Januar, der mit einer nominell 18-prozentigen Lohnerhöhung endete, treten nun Tausende Arbeiter der Zulieferindustrie in den Streik.
Die Beschäftigten reagieren damit auf die Hungerlöhne und auf die rechte Politik der Regierung von Victor Orban. Die Hauptforderung im Öffentlichen Dienst ist die Anhebung der Grundgehälter, die seit elf Jahren stagnieren. Gerade die unteren Einkommensschichten erhalten teilweise weniger als 800 Euro im Monat für eine Vollzeitstelle.
Die Gewerkschaften im Öffentlichen Dienst sind bekannt für ihre enge Zusammenarbeit mit der jeweiligen Regierung. Nun sehen sie sich gezwungen, einen Mindestlohn für die öffentlich Beschäftigten zu fordern. Dessen Höhe gaben Gewerkschaftsvertreter allerdings bislang nicht bekannt.
Hinzu kommt die Wut der Beschäftigten über das sogenannte „Sklavengesetz“. Mit diesem Gesetz kam die Regierung Orban vor allem den Bedürfnissen der Autoindustrie nach. Das Gesetz erhöht die Zahl der möglichen Überstunden von 250 auf 400 im Jahr. Für die öffentlich Beschäftigten bedeutet es eine Erhöhung der täglichen Arbeitszeit von 8 auf 9 Stunden und die Kürzung von fünf Urlaubstagen im Jahr.
Die Streikenden zogen in einer Kundgebung vor das Parlament in Budapest und riefen dort zu einer Demonstration am 1. Mai auf. Sie wurden von zahlreichen Arbeitern und Jugendlichen unterstützt. Medienberichten zufolge stößt der Streik auf große Sympathie in der Bevölkerung.
Zuletzt hatten die Beschäftigten von Audi im westungarischen Györ ihre Forderung nach einer Erhöhung der Löhne teilweise durchgesetzt. Nachdem die Produktion an mehreren europäischen Standorten zu erliegen drohte, stimmte der Autobauer einer Erhöhung der Löhne um offiziell 18 Prozent zu und die Audi-interne Gewerkschaft AHFSZ brach den Streik a. Zuvor hatten die Arbeiter im Daimler-Werk in Kecskemét eine Erhöhung der Löhne um über 20 Prozent erkämpft. Der Streik der ungarischen Arbeiter ist Teil einer wachsenden Streikbewegung in ganz Osteuropa. In den letzten Jahren hatten Autoarbeiter in Rumänien, Serbien und der Slowakei gestreikt.
Am Dienstag traten Arbeiter des koreanischen Reifenhersteller Hankook in Dunaújváros in den Ausstand. Dort sind 3400 Arbeiter beschäftigt. Angesichts extrem niedriger Löhne und belastender Arbeitsbedingungen fordern sie eine 18-prozentige Gehaltserhöhung, ein 13. Monatsgehalt sowie zusätzliche Prämien. Bereits in der letzten Woche war es zu einem zweistündigen Warnstreik gekommen. Daraufhin hatte sich die Geschäftsführung zu einer geringen Lohnsteigerung bereit erklärt, die abgelehnt wurde. Hankook produziert bereits seit 2007 in Ungarn.
Auch weitere Autozulieferer sind von Streiks betroffen. Bei Westcast in Oroszlány traten 1500 Arbeiter in einen zweistündigen Warnstreik und forderten eine Lohnerhöhung von 18 Prozent. Sie drohten, den Betrieb lahmzulegen, sollte das Management den Forderungen nicht nachkommen.
Auch beim deutschen Autozulieferer Conti in Veszprém unterstrichen die Beschäftigten ihre Forderung nach mehr Lohn mit einem Warnstreik. Bei einem Werk der Bosch-Gruppe in Miskolc organisierte die Gewerkschaft ETMOSz einen Warnstreik mit über 500 Teilnehmern. Sie fordern eine 12-prozentige Gehaltssteigerung und andere Gehaltsbestandteile, die für Beschäftigte des Unternehmens in anderen Ländern üblich sind.
In anderen Werken greift die Angst vor ähnlichen Streiks um sich. Der Autobauer Suzuki kündigte bereits an, das neue Arbeitsgesetz der Regierung nicht in Anwendung zu bringen, um Proteste zu vermeiden. Zuvor stand das Werk in Esztergommassiv in der Kritik, nachdem ein Arbeiter entlassen worden war, der versucht hatte, eine Gewerkschaft im Betrieb aufzubauen.
Die Streiks müssen vor dem Hintergrund der zunehmenden sozialen Krise gesehen werden. Trotz offizieller Vollbeschäftigung ist Ungarn eines der ärmsten Länder in der EU. Das Stadt-Land-Gefälle ist enorm. In den Dörfern leben 40 Prozent der Menschen unter dem Existenzminimum. Der durchschnittliche Nettolohn liegt bei knapp 700 Euro.
Besonders das Gesundheits- und Bildungssystem steht vor dem Kollaps. Vor allem gut ausgebildete, junge Menschen ziehen auf der Suche nach einer Perspektive ins Ausland, beispielsweise nach Österreich oder Deutschland. Mittlerweile laufen in der Industrie riesige Kampagnen zur Anwerbung von Arbeitern aus den Balkanstaaten oder der Ukraine.
Gleichzeitig verspricht die Regierung, die Bedingungen für Unternehmen weiter zu verbessern, indem sie Löhne und Steuern niedrig hält. Laut der Statistikbehörde Eurostat kostete 2017 eine durchschnittliche Arbeitsstunde in Ungarn rund neun Euro. Im Vergleich dazu lag der Satz in Deutschland bei 34 Euro.
So kündigte jüngst der Autozulieferer Bosch an, sein Werk in der nordostungarischen Stadt Hatvan massiv erweitern zu wollen. Dort sollen laut der Zeit ab 2020 elektronische Komponenten produziert werden. Bei der Investition in Höhe von insgesamt rund 30 Millionen Euro beteiligt sich die Regierung in Budapest mit knapp vier Millionen. Ungarn biete die „EU-weit niedrigsten Unternehmenssteuern“, betonte Außen- und Außenhandelsminister Péter Szijjártó auf einer Pressekonferenz mit dem Bosch-Management.
Auch der Münchner Autobauer BMW kündigte im letzten Jahr an, ein neues Werk im ostungarischen Debrecen zu eröffnen. Das Gesamtvolumen der Investition beträgt gut eine Milliarde Euro. Auch dieses Vorhaben wird durch den ungarischen Staat und die Kommunalbehörden unterstützt, die mehr als 500 Millionen für den dazu erforderlichen Ausbau der Straßeninfrastruktur und ähnliche Projekte ausgeben wollen. Wie das Internetportal napi.hu berichtet, plant die Regierung darüber hinaus zu diesem Zweck in den nächsten Jahren über 400 Millionen weitere Euro zu investieren.
Während die Arbeiter immer häufiger in den Kampf treten, versuchen die Gewerkschaften unter allen Umständen, eine breite Bewegung zu unterbinden. Gerade die MKKSZ, die zu den Streiks im Öffentlichen Dienst aufgerufen hat, ist bekannt für ihre Unterwürfigkeit gegenüber der Regierung. Gewerkschaftsvertreter hatten bereits früher erklärt, dass ein Generalstreik in Ungarn nicht möglich sei. Nachdem Ende des letzten Jahres Zehntausende gegen die Regierung und das Arbeitsgesetz auf die Straße gegangen waren, rufen die Gewerkschaften nun nicht zu weiteren Protesten auf.
Statt dessen zeigen sie offen, wie weit rechts sie tatsächlich stehen. Anlässlich des ungarischen Nationalfeiertags haben am Freitag in der Budapester Innenstadt Oppositionsparteien und Gewerkschaften gemeinsam gegen die Regierung Orban demonstriert. Die Aktion zu Gedenken der Revolution von 1848/49 stand bezeichnenderweise unter dem Motto „Nationale Einheit“. Vertreter der ultrarechten Jobbik, der Sozialisten und der Gewerkschaften sangen gemeinsam die Nationalhymne.