Am Mittwoch beteiligten sich Dutzende Millionen Arbeiter in Indien am zweiten Tag des 48-stündigen landesweiten Proteststreiks gegen die verhassten, investorenfreundlichen „Reformen“ der Regierung der Hindu-chauvinistischen Bharatiya Janatha Party (BJP).
Die kapitalistischen Medien versuchten großteils, den Streik totzuschweigen. Von breiten Teilen der Arbeiterklasse, sowohl aus den so genannten formellen, als auch aus den informellen Sektoren, wurde er jedoch unterstützt. Zudem setzte sich der Streik über die Spaltung durch Religion und Kasten hinweg, mit der die Kapitalistenklasse jahrzehntelang die soziale Unzufriedenheit in reaktionäre Kanäle gelenkt hatte.
Die große Beteiligung ist ein Ausdruck der wachsenden Wut der Arbeiterklasse auf die Regierung von Premierminister Narenda Modi, die vom Großkapital gestützt wird. In ihrer viereinhalbjährigen Amtszeit hat sie den jahrzehntelangen Angriff auf die indische Arbeiterklasse, die eine der größten der Welt ist, drastisch verschärft. Sie hat brutale Sparmaßnahmen durchgeführt, Privatisierungen forciert, Zeitarbeit gefördert, Umwelt- und Arbeitsschutzstandards ausgehöhlt und der arbeitenden Bevölkerung umfassende Steuererhöhungen aufgezwungen.
Eine zentrale Rolle im Streik spielten die Kohlebergarbeiter, die Postbeschäftigten und die Dockarbeiter. Auch die Beschäftigten in Banken, Versicherungsfirmen, Telekommunikations- und Transportunternehmen und die Arbeiter der Teeplantagen nahmen teil. Den streikenden Arbeitern der staatseigenen Industriezweige schlossen sich ihre Kollegen in internationalen Konzernen wie Bosch, Toyota, Volvo, CEAT, Crompton und Samsonite an.
Die zahlreichen Berichte über gewaltsame Zusammenstöße, Entlassungen und Verhaftungen von streikenden Arbeitern verdeutlichen die scharfen Klassenspannungen und die brutale Reaktion der Arbeitgeber und Regierungen. In mehreren Bundesstaaten, u. a. in Westbengalen und Tamil Nadu, streikten die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, obwohl ihnen die Regierung mit Entlassungen, Lohnkürzungen und anderen Disziplinarstrafen drohten.
Der bedeutendste Konflikt brach in einer Klimaanlagenfabrik des Unternehmens Daikin im Industriegürtel Neemrana in Rajasthan aus. Am Mittwoch wurden dort zwölf Arbeiter wegen angeblicher Randale und versuchtem Mord verhaftet. Ähnliche fingierte Vorwürfe wurden gegen 700 noch nicht namentlich genannte Arbeiter erhoben. Zuvor waren am Dienstag Polizei und Sicherheitskräfte mit schweren eisenbeschlagenen Schlagstöcken, Gummigeschossen und Tränengas auf 2.000 Streikende losgegangen.
Dieser Vorfall ereignete sich weniger als 70 Kilometer von dem Maruti Suzuki-Autowerk in Manesar im Nachbarstaat Haryana, wo dreizehn Arbeiter nach einem fingierten Mordprozess zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Diese dreizehn Arbeiter sind das Ziel einer Hexenjagd der Regierung und des Unternehmens, weil sie in den Jahren 2011 und 2012 Streiks und eine Werksbesetzung gegen die brutalen Arbeitsbedingungen und prekären Zeitarbeitsverhältnisse angeführt hatten.
Berichten zufolge hatte der zweitägige Streik beträchtliche Auswirkungen in den wichtigen Bundesstaaten Haryana und Rajasthan, in den ostindischen Staaten Odisha und Westbengalen, in den westindischen Staaten Maharashtra und Goa, im nordindischen Punjab und in den südindischen Staaten Kerala, Karnataka und Tamil Nadu.
Beschäftigte der privaten Krankenhäuser und aus dem „unorganisierten“ Sektor, u. a. der Tabak- und der Baubranche sowie aus Einzelhandel und Vertrieb, beteiligten sich in vielen Bundesstaaten am Streik.
In Kerala streikten die Fahrer der staatlichen und privaten Busunternehmen. In Karnataka und Haryana, wo sich der Industriegürtel Gurgaon-Manesar befindet, wurde der öffentliche Busverkehr eingestellt.
In Mumbai, der zweitgrößten Stadt und dem Finanzzentrum Indiens, blieben die meisten Banken und Regierungsbehörden geschlossen, im Hafen fand nur eingeschränkter Betrieb statt. Insgesamt 32.000 Beschäftigte der öffentlichen Verkehrsbetriebe der Stadt führten bereits seit dem Vortag einen unbefristeten Streik für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, obwohl die Regierung ihnen dies unter Berufung auf den Essential Services Maintenance Act (EMA) untersagt hat.
Allerdings verzichteten die Gewerkschaften darauf, einige der wichtigsten und stärksten Teile der Arbeiterklasse zu mobilisieren, darunter die Bahnarbeiter. Die Flughäfen blieben in Betrieb, wenn auch mit geringen Beeinträchtigungen. Hier zeigte sich die politische Perspektive der Gewerkschaftsbürokratien.
Zu dem Streik hatten zehn große Gewerkschaften aufgerufen, die politische Führung des Streiks hatte die stalinistische Kommunistische Partei Indiens (Marxisten), kurz KPM. Zu den Gewerkschaften gehörten die KPM-nahe Center of Indian Trade Unions (CITU) und der All India Trade Union Congress (AITUC), der von der zweiten großen stalinistischen Partei, der Kommunistischen Partei Indiens (KPI), kontrolliert wird. Dazu kamen der vom Nationalkongress angeführte National Trade Union Congress (INTUC) und die Labour Progressive Front (LPF), die der rechten Partei DMK aus Tamil Nadu nahesteht.
Die Bundesstaatsregierung von Kerala, die von der KPM angeführt wird, rief zur Teilnahme auf. Allerdings einigte sie sich mit der CITU darauf, aus Rücksicht auf drohende finanzielle Verluste den Personenzugverkehr und die Tourismusbranche von dem Streik auszunehmen. Dieses Abkommen verdeutlicht den wirtschaftsfreundlichen Charakter der stalinistischen Parteien.
Die Gewerkschaften verzichteten außerdem auf die Mobilisierung der Autoarbeiter in Oragadam außerhalb von Chennai, das wegen der dortigen Werke der großen Autokonzerne als „Indisches Detroit“ gilt.
Erst letzten November beendeten die Gewerkschaften zweimonatige Streiks von über 3.000 Arbeitern der drei in Oragadam tätigen Unternehmen Yamaha, Royal Enfield und Myoung Shin India Automotive, ohne dass sie auch nur eine der Hauptforderungen der Arbeiter erfüllt hätten. Die CITU versprach in ihrem Tarifabkommen mit Yamaha, den „Betriebsfrieden“ zu wahren und auf Sitzstreiks zu verzichten.
Millionen von Arbeitern haben durch ihre Teilnahme an dem zweitägigen Streik ihre wachsende Wut auf die wirtschaftsfreundlichen Maßnahmen zum Ausdruck gebracht, die eine Regierung nach der anderen eingeführt hat, seit die herrschende Elite 1991 beschlossen hatte, das Land in eine Billiglohnplattform für die globalen Konzerne zu verwandeln.
Es war der 18. landesweite Streik, den die CITU seit 1991 angeführt hat. Doch alle Zentral- und Bundesstaatsregierungen, die von jenen Parteien gebildet wurden, in deren Umfeld sich die Gewerkschaften bewegen, haben die gleiche „investorenfreundliche“ Politik betrieben. Das gilt für die Kongresspartei und für regionale Parteien wie die DMK ebenso wie für die stalinistischen KPI und KPM. Letztere hat in Westbengalen, Tripura und Kerala die Bundesstaatsregierung gestellt.
Der viel gelobte „Aufschwung“ Indiens hat einer winzigen kapitalistischen Elite enormen Reichtum gebracht und gleichzeitig die große Mehrheit der Bevölkerung zu Armut und wirtschaftlicher Unsicherheit verdammt. Jeder Schicksalsschlag, von einer Krankheit bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes, kann eine Familie in den sozialen Abgrund stürzen.
Mitte der 1990er Jahre gab es in Indien nur zwei Milliardäre – mittlerweile verzeichnet das Land mit 130 die viertgrößte Konzentration von Milliardären auf der Welt. Gleichzeitig müssen mehr als 70 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar pro Tag leben. Um globale Investoren zu umwerben, betont Modi immer wieder, dass die Löhne in Indien nur ein Viertel so hoch sind wie in China.
Die BJP wurde im Jahr 2014 wegen ihres Versprechens gewählt, Arbeitsplätze zu schaffen. Dies hat sich als grausamer Betrug erwiesen. Das Center for Monitoring Indian Economy, das die indische Wirtschaft beobachtet, veröffentlichte diese Woche eine Studie, laut der die Arbeitslosigkeit im Dezember auf 7,4 Prozent angestiegen ist. Wenn man diejenigen mit einbezieht, die seit September 2016 aus der Erwerbsbevölkerung ausgeschieden sind, läge die Arbeitslosenquote bei fast 13 Prozent, d. h. mehr als 50 Millionen Arbeitslose.
Um das Großmachtstreben der herrschenden Klasse zu fördern, ist Indien eine „globale strategische Partnerschaft“ mit dem US-Imperialismus eingegangen und hat seine Militärausgaben drastisch erhöht. Mittlerweile hat Indien den weltweit fünftgrößten Militäretat und gibt zweieinhalb Mal mehr für sein Militär aus als für die Krankenversorgung seiner 1,3 Milliarden Einwohner.
Finanzminister Arun Jaitley veröffentlichte am Mittwoch einen Tweet, der die gefühllose Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Problemen der arbeitenden Bevölkerung deutlich machte. Der Multimillionär verurteilte den Streik mit dem Vorwurf, die „linken Gewerkschaften“ wollten „Proteste um nicht existente Probleme“ schüren.
Der zweitägige Streik ist Teil einer wachsenden internationalen Protestbewegung der Arbeiterklasse, zu der auch die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich gegen die Macron-Regierung, die Streiks der amerikanischen Lehrer und Autoarbeiter und die Forderung der srilankischen Plantagenarbeiter nach einer Verdopplung ihrer Löhne gehören.
Die Arbeiter geraten bei ihren Kämpfen auf der ganzen Welt in Konflikt mit den Gewerkschaften und den offiziellen „linken“ Parteien, die früher behauptet haben, sie würden ihre Interessen vertreten. Die indischen Gewerkschaften haben zu dem Streik aufgerufen, um die wachsende Wut der Arbeiter und der Landbevölkerung einzudämmen und sie für Wahlkampfmanöver auszunutzen, die darauf abzielen, eine andere kapitalistische Regierung an die Macht zu bringen – sei es unter der Führung der konzernnahen Kongresspartei oder der regionalen und kastenbasierten Parteien.
Deshalb haben die stalinistischen Gewerkschaften das Schicksal der Maruti Suzuki-Arbeiter mit keiner Silbe erwähnt. Sie fürchten ihr militantes Beispiel und vor allem wissen sie, dass eine Kampagne, die die Verteidigung der verfolgten Arbeiter mit dem Kampf gegen Armutslöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse verknüpft, ihr eigenes Bündnis mit der Kongresspartei und ihre korporatistischen Beziehungen mit dem Großkapital zerstören würde.
Die Stalinisten haben den Streik außerdem benutzt, um Modis Regierung zu einem Dialog zu drängen, u. a. über die jüngsten Arbeitsgesetze. Die CITU veröffentlichte am Mittwoch einen Appell an die Regierung, „sämtliche arbeiterfeindlichen Zusatzartikel zu den Arbeitsgesetzen sofort zurückzunehmen und sofortige und konkrete Maßnahmen zu treffen, um auf alle Forderungen einzugehen, die von der gemeinsamen Gewerkschaftsbewegung gestellt wurden“.
Anhänger des IKVI und der WSWS verbreiteten an beiden Tagen des Streiks unter Arbeitern WSWS-Artikel über den Streik und diskutierten über die zentralen politischen Aufgaben, vor denen die Arbeiter stehen. Vor allem ging es dabei um die Notwendigkeit eines sozialistischen Programms für den Kampf gegen die Offensive der Regierungen und Konzerne.