Vom Kino der Weimarer Republik sind nur Bruchstücke erhalten. Rund 90 Prozent der produzierten Filme gelten als verloren. Die Retrospektive der diesjährigen Berlinale stellte Filme vor, die in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit gerieten, wie viele ihrer Regisseure. Die rund 30 Werke, thematisch aufgegliedert in Exotik, Alltag und Geschichte, wurden in oft internationaler Zusammenarbeit aufwendig und liebevoll restauriert. Sie lassen erkennen, wie vielfältig das Filmschaffen in der Weimarer Republik war, komplex, modern und widersprüchlich, Fortschritt und Rückschritt standen nah beieinander.
Der künstlerische Leiter der Deutschen Kinemathek Rainer Rother verfolgt den Weg, ein differentes Bild des frühen Filmschaffens zu zeigen, schon länger. So erinnerte die Retrospektive 2012: „Die rote Traumfabrik - Meschrabpom-Film und Prometheus (1921-1936)“ an die sozialistischen Einflüsse auf das Weimarer Filmschaffen und die fruchtbare Zusammenarbeit sowjetischer und deutscher Filmkünstler. Die revolutionären Entwicklungen seit 1917 beeinflussten das Weimarer Kino maßgeblich.
Die diesjährige Retrospektive zeigte den bisher weitgehend unbekannten Film „Der Favorit der Königin“ (1922) von Franz Seitz, ein Film in aufklärerischer Tradition über die Unterdrückung der Wissenschaft im 16. Jahrhundert. Neben demokratisch-humanistischen Einflüssen reflektiert er die Angst vor einer revolutionären Massenbewegung. Am Ende des Films wird die launische Königin mit dem Habitus einer modernen, genusssüchtigen Frau gezwungen, aus Gründen der Staatsraison das Todesurteil über ihren Liebhaber, einen korrupten, adligen Würdenträger, zu unterschreiben. „Volkes Stimme ist Gottes Stimme“, so der Zwischentitel. In der Stadt ist immer wieder das versammelte, aufgebrachte Volk zu sehen.
Der zeitgenössische Bezug ist deutlich. Auch die demokratischen Errungenschaften der Republik waren eher Zugeständnisse, um das Volk zu beschwichtigen. Die erste Regierung, eine SPD Regierung, kam an die Macht, indem sie gleichzeitig die von der russischen Revolution inspirierte revolutionäre Bewegung mit Hilfe von Freikorps niederschlug. Die erwachte Masse aber blieb ein Machtfaktor und rettete die Regierung 1920 vor dem Putsch rechter Militärs.
Die Angst des Bürgertums vor der Revolution blieb, zumal unter der SPD die soziale Spaltung zunahm. Millionen hatte die Inflation ins Elend getrieben. Die verpasste Chance einer sozialistischen Alternative, die die KPD im Jahr 1923 nicht nutzte, vergrößerte die politische Frustration und stärkte rechte Kräfte. Eine Folge war das Ergebnis der Reichspräsidentenwahl 1925, die der ehemalige Weltkriegsgeneral Paul von Hindenburg gewann.
Seit 1920 hatten einige nostalgische Filme über Friedrich den Großen an die „gute alte Zeit“ der preußischen Monarchie erinnert. Nach der Wahl Hindenburgs vermerkt der Retrospektive-Katalog einen regelrechten Motiv-Wechsel auf der Leinwand. Das beliebte Motiv der Französischen Revolution mit entfesselten Volksmassen verlor an Popularität. Im „Preußenfilm“ marschierte das Volk gebändigt, unter Aufsicht patriotischer Offiziere, in Reih und Glied.
Besonders die Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon war geeignet, die Empörung über den Versailler Vertrag oder die Besetzung des Rheinlands 1923 durch französische Truppen in eine aggressive, nationalistische Richtung zu lenken. Gleichzeitig verklärten die Filme einen vom Militär regierten Staat zum „Volksstaat“.
Im Retrospektive-Film „Der Katzensteg“ (1927) von Gerhard Lamprecht, nach dem gleichnamigen Roman von Hermann Sudermann, spielt die Frage des Patriotismus eine große Rolle. Es ist die Zeit kurz vor dem Ausbruch der Kriege gegen die napoleonische Besetzung. Die Hauptfigur ist ein junger ostpreußischer Landadliger. Er verkörpert im Film das Ideal des „echten“ Patrioten, der sich gegenüber den niederen Ständen nicht ignorant verhält.
Dem wird ein sich aus eigennützigen Motiven speisender, Unfrieden stiftender, falscher Patriotismus scharf gegenübergestellt. Massenszenen, inspiriert vom russischen Revolutionsfilm, zeigen die Dorfbevölkerung als gefährlich-unberechenbaren Pöbel, ganz in dem Sinn, wie der Offizier und Schriftsteller Ernst Jünger den einfachen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs in seinem Buch „In Stahlgewittern“ beschrieb, immer bereit für den „Dolchstoß“ des nationalen Verrats. Am Ende von „Der Katzensteg“ führt der junge Landadlige die geläuterten Bauern in einem Freikorps gegen Napoleon.
Zur Qualität des eher unpathetischen Films gehört die berührend-menschlich und psychologisch genaue Darstellung der Beziehung zwischen dem jungen Adligen und seiner Dienerin Regine. Das Standesdenken lässt sie zunächst gegen ihre Gefühle füreinander ankämpfen. Wie in seinen realistischen Filmen über das soziale Elend der Weimarer Republik verzichtet Lamprecht auf die im Stummfilm vorherrschende Übertreibung von Mimik und Gestik zugunsten sachlich-moderner Natürlichkeit. Das Menschliche überwiegt fast das Patriotische. Der melancholische Schluss lässt die wenig heldische Interpretation zu, dass der Offizier, für den Regine ihr Leben opfert, im Kampf für die Freiheit den Tod sucht.
„Heimkehr“ (1928) von Joe May ist eine filmische Auseinandersetzung mit den Folgen des Ersten Weltkriegs. Tragisch war für alle Beteiligten die Heimkehr eines Totgeglaubten nach langer Kriegsgefangenschaft, während der seine Frau neu geheiratet hatte. Der Film nach der Novelle von Leonhard Frank „Karl und Anna“ (1926) schildert eine ähnliche Situation. Wie sich verhalten? Der Film vermittelt eindringlich die Notwendigkeit menschlicher Größe im Unglück, aber nichts von den gesellschaftlichen Spannungen der Zeit. Man widmet sich wieder dem Tagesgeschäft, das der Krieg unterbrach.
Unter dem Druck der wirklichen sozialen und politischen Konflikte zerbrach 1930 die Große Koalition unter Hermann Müller (SPD). Die neue Minderheitsregierung regierte vor allem mit Notverordnungen des Reichspräsidenten. Neben dem Aufstieg der NSDAP erfolgte mit der Harzburger Front 1931 eine Vereinigung von Rechtsparteien. Der Militarismus zeigt sich selbstbewusst. In den Preußenfilmen, teilweise am amerikanischen Western orientiert, tummeln sich verwegene Freikorps. Die Lützower oder die schwarzen Husaren mit Totenkopf am Helm (das spätere Vorbild der SS) reiten siegesgewiss gegen Napoleon für die Nationale Befreiung. Ähnlich kämpferisch sind Filme über den Ersten Weltkrieg.
Breite Schichten der Bevölkerung erkannten die herannahende Kriegsgefahr. Ausdruck dieser Opposition waren Antikriegsfilme wie „Westfront 1918“ (1930) von Georg Wilhelm Pabst und „Niemandsland“ (1931) von Victor Trivas, die an die internationale Solidarität einfacher Menschen appellierten. Während des Wahlkampfs zu den Reichstagswahlen 1930 hielten KPD und SPD Antikriegskundgebungen ab.
Ist der Film „Die andere Seite“ (1931) von Heinz Paul ein Antikriegsfilm, wie in der Presse mehrfach zu lesen war? Vorlage ist das britische Theaterstück „Journey´s End“ (1928) von R.C. Sheriff. Man sieht keine strahlenden Helden, sondern nach drei Jahren Krieg psychisch deformierte Menschen. Unter den Offizieren ist jede Kriegseuphorie verschwunden. Unmittelbar vor der deutschen Frühjahrsoffensive 1918 geben sie sich im Offiziers-Quartier demoralisiert ihrer Angst hin. Nur der Hauptmann hält sich aufrecht, auch er nur mit Alkohol.
Es gibt Momente, die an Soldaten-Verbrüderung denken lassen. Ein kleiner Hund läuft zwischen den feindlichen Gräben, die hundert Meter auseinanderliegen, hin und her, einmal mit einem Pappschild um den Hals mit Grüßen von der deutschen Seite. Sehnsucht nach Frieden unterstreicht die sympathische Zeichnung des völlig unsoldatischen Freiwilligen Raleigh, der von einem anderen Stern zu kommen scheint.
Die anfängliche Abenteuerlust ist ihm nach dem ersten Einsatz völlig vergangen. Er ist empört, dass der Erfolg des Einsatzes mit einem Sektbesäufnis gefeiert wird, während etliche Kameraden, darunter ein warmherziger Offizier, im Zivilstand Lehrer, tot auf dem Schlachtfeld liegen. Es gehe um Bewahrung des Menschlichen, heißt es sinngemäß im Vorspann des Films. Im echten Ersten Weltkrieg äußerte sich das Menschliche 1918 radikaler. Einfache Soldaten verweigerten zunehmend den Befehl weiterzukämpfen, es gab Massendesertationen.
Der Charakterisierung von „Die andere Seite“ als Antikriegsfilm steht vor allem die zentrale Figur des Hauptmanns entgegen. Auflösungserscheinungen in der Armee würde er nicht dulden, Deserteure ohne Zögern erschießen. Ähnlich wie in „Der Katzensteg“ wird hier eher ein „echter“ Patriot gezeichnet, der sich abhebt von oberflächlichem, unzuverlässigem Hurra-Patriotismus. Zwar schwer gezeichnet vom Krieg, ist er erfüllt von der Verantwortung gegenüber der Heimat, der gefallenen Soldaten und als Führer gegenüber der ihm unterstellten Soldaten. Als die Offensive beginnt, vom Unterstand bleiben nur Splitter, stürmt er mit starrem Gesicht aus dem Graben. Diese Gesichtsmaske verkörpert geradezu die festgefahrene Situation – in der er dennoch seine Pflicht tut.
Der spätere Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels lobte 1931 den Film. Als die Nazis ihn 1933 verboten, hoben die Zensoren dennoch positiv hervor, der Hauptmann sei als „pflichtbewusster Mann, man könnte fast sagen, heroische Figur“ dargestellt. Nach 1933 dreht Regisseur Heinz Paul mehrere Nazi-Kriegsfilme. Trotzdem ist sein Hauptmann eine realistische Figur.
„Weimar neu gesehen“ bedeutet, neben dem Blick auf die enorme Vielfalt von Produktionen, auch die Wahrnehmung der realistischen Tendenzen. Das Interesse am realen Leben, dass sich in vielen Filmen findet, reflektiert eine Nachdenklichkeit. Sie ist das Gegenstück der morbiden „Tanz auf dem Vulkan“-Stimmung, der immer noch völlig unberechtigt der Ruch des Unangepassten, Opponierenden anhaftet. Das Interesse an der Wirklichkeit lässt sich auch nicht vereinbaren mit dem gängigen fatalistischen Vorausblick Richtung Faschismus.
Gleichwohl steckt in Figuren wie der des Hauptmanns oder des jungen, aufgeklärten preußischen Landadligen einiges von den damaligen politischen Problemen, auch Illusionen in die Weimarer Demokratie, die vor allem errichtet wurde, um eine sozialistische Revolution zu verhindern. Ein Antikriegsfilm, wie Charlie Chaplins „Gewehr über“ (1918), der die deutsche Militärkaste und ihre Führung völlig lächerlich machte, ist aus der Weimarer Republik bisher nicht bekannt geworden. Ansätze finden sich jedoch in Ernst Lubitschs Stummfilm-Groteske „Die Bergkatze“ von 1921.