Im Februar 2003 wurde der muslimische Prediger Hassan Mustafa Osama Nasr, besser bekannt als Abu Omar, in Mailand auf offener Straße gekidnappt und vom amerikanischen Geheimdienst CIA nach Ägypten entführt, wo er gefoltert wurde und bis heute gefangen gehalten wird.
Die damalige italienische Regierung unter Silvio Berlusconi behauptete stets, italienische Stellen hätten die Entführung Abu Osmars weder unterstützt noch davon Kenntnis gehabt. Gleichzeitig hintertrieb sie die Aufklärung der Tat und die Verfolgung der Verantwortlichen mit allen verfügbaren Mitteln. Und dies obwohl Abu Osmar in Italien Asyl genoss und seine Entführung durch einen ausländischen Geheimdienst einen schweren Rechtsbruch darstellte.
Mittlerweile lässt sich die Vertuschung nicht mehr aufrechterhalten. In den dreieinhalb Jahren seit Abu Omars Entführung sind detaillierte Einzelheiten über Hergang und Täter ans Licht gelangt. Die Identität der CIA-Entführer steht fest, und es gibt kaum mehr Zweifel, dass der italienische Militärgeheimdienst SISMI (Servizio per le Informazioni e la Sicurezza Militare) - und damit aller Wahrscheinlichkeit auch die Regierung - nicht nur über die Entführung informiert war, sondern sich aktiv daran beteiligte.
Die Mailänder Staatsanwaltschaft, die den Fall bearbeitet, hat gegen 26 amerikanische und 13 italienische Staatsbürger Anklage wegen Menschenraubs und Beihilfe zur Entführung erhoben. Bei den amerikanischen Beschuldigten handelt es sich mit einer Ausnahme um CIA-Angehörige, unter den italienischen befinden sich drei hochrangige Verantwortliche des Militärgeheimdiensts.
Doch obwohl die Mittäterschaft italienischer Stellen inzwischen aktenkundig ist, hält die Mitte-Links-Regierung von Romano Prodi an der Geheimhaltungspolitik ihrer Vorgängerin fest. Staatssekretär Enrico Micheli, in der Regierung für die Koordination der Geheimdienste zuständig, erklärte am 25. Oktober vor der parlamentarischen Geheimdienst-Kommission, jede Form der Zusammenarbeit von italienischen und amerikanischen Geheimdiensten in Fragen des Terrorismus unterliege seit den Anschlägen vom 11. September strikter Geheimhaltung.
Wie der Vorsitzende der Kommission, Claudio Scajola, anschließend berichtete, antwortete Staatssekretär Micheli "auf unsere ausdrücklichen Fragen, ob die amerikanischen Autoritäten die italienische Regierung vor, nach oder während der vermuteten Entführung von Abu Omar informiert hätten, diese Frage sei ein Staatsgeheimnis". Micheli habe betont, dass die Regierung Prodi dieses Staatsgeheimnis schützen werde, wenn es sein müsse auch vor dem Mailänder Gericht.
Diese Geheimhaltung ist umso verwerflicher, als sich die Aktivitäten der italienischen Geheimdienste im Fall Abu Omar nicht auf die Entführung des Opfers beschränkt haben. Laut Medienberichten sollen sie auch Journalisten bestochen haben, um die Operation zu vertuschen und Politiker und Richter zu diskreditieren, die sich um Aufklärung bemühten.
So hat der Chefredakteur der rechten Tageszeitung Libero, Renato Farina, zugegeben, er habe gegen Bezahlung mit dem SISMI zusammengearbeitet und gefälschte Dokumente veröffentlicht, um Berlusconis damaligen Herausforderer Prodi zu diskreditieren. Zwei Journalisten der Zeitung La Repubblica, die Recherchen über die Entführung Abu Omars anstellten, wurden vom SISMI bespitzelt und abgehört.
Es gibt auch Hinweise, dass die Zusammenarbeit von SISMI und CIA im Fall Abu Omar nur die Spitze einer größeren Verschwörung ist, die sich gegen missliebige Politiker, Richter und andere Personen des öffentlichen Lebens richtet.
So gibt es Querverbindungen zum Abhörring um den Sicherheitschef der italienischen Telecom, Giuliano Tavaroli. Dieser Abhörring war im Herbst dieses Jahres aufgeflogen. Er hatte in Zusammenarbeit mit Steuerfahndern, Polizisten, Bankangestellten, Justizbediensteten und Privatagenten einen schwunghaften Handel mit Abhördaten betrieben. Der stellvertretende Chef des SISMI, Marco Mancini, der im Sommer wegen der Entführung Abu Omars verhaftet wurde, ist ein enger Freund Tavarolis, hat ihn regelmäßig getroffen und in kurzer Zeit über tausend Mal mit ihm telefoniert.
Kurz nach der Enttarnung dieses Abhörrings, war eine weitere Bespitzelungsaffäre aufgeflogen. Die Steuerdaten prominenter Politiker - vor allem aus dem heute regierenden Mitte-Links-Lager - waren jahrelang systematisch und völlig rechtswidrig ausgeforscht worden.
Unter den Betroffenen beider Skandale befanden sich auffallend viel Gegner oder Rivalen des früheren Regierungschefs Silvio Berlusconi - neben Romano Prodi auch der Altkommunist und heutige Staatspräsident Giorgio Napolitano, dessen Vorgänger Carlo Azeglio Ciampi, Industrielle wie die Brüder Benetton und Carlo De Benedetti, und viele andere. Berlusconis Steuerdaten sollen zwar ebenfalls ausgeforscht worden sein, doch dies könnte aus Gründen der Verschleierung geschehen sein.
Obwohl also zahlreiche Mitglieder der gegenwärtigen Regierung, einschließlich des Regierungschefs selbst, Opfer dieser Verschwörungen geworden sind, hält die Regierung ihre schützende Hand über die Geheimdienste und ist nicht bereit, den Schleier der Geheimhaltung gegenüber dem Parlament oder der Justiz zu lüften.
Italien und Nato
Der Grund für dieses Verhalten ist, dass die Regierung Prodi die traditionell enge militärische und geheimdienstliche Zusammenarbeit Italiens mit den USA nicht gefährden will.
Italien ist Mitglied der Nato. Die amerikanischen und italienischen Sicherheitskräfte haben während des gesamten Kalten Krieges eng zusammengearbeitet. Ihr vorrangiges Ziel war die Verhinderung einer Regierungsbeteiligung der Kommunistischen Partei, die Beziehungen zur Sowjetunion unterhielt und zeitweise stärkste Partei im Parlament war.
Die auf Sabotage- und Terroraktionen spezialisierte Nato-Geheimorganisation Gladio war in Italien besonders aktiv. In den 1960er, 1970er und 1980er Jahren verübte ein Netzwerk aus CIA, SISMI, Neofaschisten und Mafia zahlreiche Terroranschläge, die das Land destabilisieren, den Einfluss der Kommunistischen Partei unterhöhlen und die Voraussetzungen für ein autoritäres Regime schaffen sollten. Verwickelt waren auch der Vatikan und die Geheimloge P2, in deren Dunstkreis Silvio Berlusconi seinen Aufstieg zum reichsten Mann Italiens begann. Beim spektakulärsten Bombenanschlag dieser rechten Kräfte starben 1980 im Hauptbahnhof von Bologna 85 Menschen, 200 wurden verletzt.
Über diese Verschwörungen existiert eine umfangreiche Literatur. Mutige Journalisten und teilweise auch Staatsanwälte haben zahllose Details aufgedeckt, die auch in populären Filmen und Theaterstücken Eingang fanden. Doch zur Verantwortung gezogen wurden nur Wenige. Nun leben die alten Strukturen im Rahmen des so genannten "Kampfs gegen den Terror" wieder auf, ohne dass die Regierung Prodi und die sie stützenden Nachfolgeorganisationen der Kommunistischen Partei ernsthaft dagegen einschreiten.
Die neue italienische Regierung hat zwar entsprechend ihrem Wahlversprechen die italienischen Truppen aus dem Irak abgezogen. Doch der letzte Soldat war noch nicht zu Hause, da schickte sie ein weit größeres Kontingent in den Libanon, um den Waffennachschub an die Hisbollah zu stoppen. Auch in Afghanistan ist sie weiterhin mit Truppen präsent. Damit steht Italien im Mittleren Osten militärisch an vorderster Front. Die italienischen Geheimdienste und das Militär arbeiten dabei weiterhin eng mit ihren US-Partnern zusammen.
Einen offenen Konflikt mit der CIA und der Bush-Administration will sich die Regierung Prodi daher nicht leisten, selbst wenn die rechten Verschwörungen im Hintergrund ihre politische Zukunft oder - wie dies bei Aldo Moro in den 1970er Jahren der Fall war - sogar das Leben von Regierungsmitgliedern bedrohen. Damals gab es viele Hinweise, dass Gladio bei der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Politikers durch die Roten Brigaden die Hände im Spiel hatte.
Die Entführung Abu Omars
Die Aufklärung der Entführung Abu Omars hatte der Mailänder Staatsanwaltschaft keine besonderen Schwierigkeiten bereitet. Die beteiligten CIA-Agenten hatten sich so sicher gefühlt, dass sie völlig unbekümmert zu Werk gingen und keine besonderen Anstrengungen unternahmen, ihre Spuren zu verwischen.
Die Entführung fand mitten am Tage auf offener Straße statt. Drei Männer zerrten den muslimischen Prediger, der sich auf dem Weg von seiner Mailänder Wohnung zur Moschee befand, in einen Minibus und fuhren mit ihm weg. Eine zufällige Augenzeugin konnte der Polizei später den Ablauf detailliert schildern.
Omar wurde zum mehrere Autostunden entfernten Luftwaffenstützpunkt Aviano gebracht, über Deutschland nach Kairo ausgeflogen und in einem ägyptischen Gefängnis schwer gefoltert.
Erst im April 2004, als ihn die ägyptischen Behörden über ein Jahr nach seiner Entführung vorübergehend freiließen, gelang es ihm, mit Freunden und Verwandten in Kontakt zu treten. Er schilderte ihnen die Einzelheiten seiner Entführung und seines Leidenswegs. Er sei geschlagen, mit Elektroschocks und Heiß-Kalt-Behandlungen misshandelt worden und habe auf einem Ohr das Gehör verloren, berichtete er. Drei Wochen später wurde er erneut verhaftet und sitzt seither ohne Prozess im Gefängnis.
Jetzt konnten die Mailänder Fahnder, die auf Betreiben der Familie und der muslimischen Gemeinde von Mailand nach ihm gesucht hatten, den Hergang der Entführung ziemlich genau rekonstruieren, da die beteiligten CIA-Leute Mobiltelefone und Kreditkarten benutzt, Mietwagen gechartert, in den Hotels ihre Namen hinterlassen und sehr viel Geld ausgegeben hatten. In der Wohnung eines CIA-Agenten in Mailand wurden Überwachungsfotos sichergestellt.
Im Juli 2005 beantragte der Mailänder Staatsanwalt schließlich Haftbefehl gegen dreizehn amerikanische Staatsbürger, die Italien bereits verlassen hatten. Im Dezember wurden die Haftbefehle auf 22 amerikanische Staatsbürgern ausgeweitet.
Die Beteiligung des SISMI
Weitere Informationen kamen aus Brüssel, wo ein Ausschuss des EU-Parlaments die CIA-Praxis der außerordentlichen Überstellungen (extraordinary renditions) untersuchte. Der ehemalige CIA-Mann Michael Scheuer sagte vor dem Ausschuss aus und beschuldigte die italienische Regierung in mehreren Zeitungsinterviews der Komplizenschaft. Scheuer hatte von 1996 bis 1999 die Bin-Laden-Einheit der CIA geleitet und dem Dienst erst im November 2004 den Rücken gekehrt.
"Die Italiener haben uns erlaubt, den Imam in Mailand zu entführen", berichtete Scheuer der italienischen Zeitung Repubblica. Er kenne den bis Sommer 2003 amtierenden CIA-Chef in Rom, Jeffrey W. Castelli, gut. Der amerikanische Geheimdienst habe niemals eine Entführung ohne die Zustimmung der betroffenen Länder durchgeführt, ganz besonders, wenn es sich, wie bei Italien, um ein alliiertes Land gehandelt habe. Die italienische Zustimmung für die Entführung habe der Verantwortliche für Gegenspionageoperationen im Militärgeheimdienst SISMI, Marco Mancini, erteilt.
Im Juli 2006 wurde Mancini zusammen mit General Gustavo Pignero, seinem Vorgesetzten zum Zeitpunkt der Entführung, verhaftet. Abgehörte Telefongespräche zwischen den beiden, die der Corriere della Sera am 7. Juli 2006 veröffentlichte, zeigen, dass sie an der Entführung und deren Vorbereitung beteiligt waren. Auch mehrere andere Geheimdienstmitarbeiter haben inzwischen gestanden, an der Entführung beteiligt gewesen zu sein.
Kurz vor der Entführung hatten Pignero und Mancini sogar die lokalen SISMI-Chefs von Mailand, Padua und Triest von ihren Posten entfernt, weil diese Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Vorhabens geäußert hatten. Einer der Abgesetzten gab zu Protokoll, er habe sich gegen die gemeinsame CIA-SISMI-Operation ausgesprochen, weil der geplante Überfall offensichtlich "illegal" und "gegen die Prinzipien unserer Demokratie" gewesen sei. Danach sei er seines Postens enthoben worden, um die Aktion nicht zu gefährden.
Im Gefängnis begann Mancini auszupacken. Er berichtete über die Existenz eines sogenannten Counter-Terrorist-Intelligence Centers (CTIC), einer hochgeheimen Parallelorganisation zum staatlichen Geheimdienst. Die Organisation, der besonders ausgewählte SISMI-Beamte angehören, verfolgt den Zweck, unter dem Kommando der CIA gesuchte "Terrorverdächtige" festzunehmen.
Über ähnliche, mit der CIA kooperierende Organisationen in andern Ländern haben Wall Street Journal und Washington Post unter Berufung auf hochrangige CIA-Mitarbeiter bereits mehrfach berichtet. Sie sollen zu Dutzenden in den mit den USA befreundeten Staaten in Europa, Asien und dem Nahen Osten existieren.
Die Mailänder Staatsanwaltschaft hat auch Anklage gegen SISMI-Chef Nicolo Pollari, erhoben, der stets die Unschuld seines Dienstes im Entführungsfall Abu Omar beteuert und in diesem Zusammenhang sogar das Europaparlament belogen hatte. Pollari gilt als enger Vertrauter von Ex-Premier Berlusconi und hatte sich von diesem für seine Kampagnen gegen Mailänder Richter und Staatsanwälte und gegen Romano Prodi einspannen lassen. Trotzdem hat ihn die Regierung Prodi bisher im Amt belassen. Seine Entlassung wird erst zu einem späteren Zeitpunkt erwogen, im Rahmen einer umfassenden Reorganisation der Geheimdienste.
Derweil wartet Abu Omar, seit fast vier Jahren ohne Prozess inhaftiert und gefoltert, immer noch auf seine Befreiung. Weder die italienische Regierung, noch die Europäische Union haben bisher von Ägypten seine Freilassung verlangt und sich bei ihm entschuldigt.