2024 war das tödlichste Jahr für Migranten auf dem Weg nach Europa

Das letzte tödliche Schiffsunglück im Jahr 2024 vor den Toren der Festung Europa wurde am 27. Dezember gemeldet: Ein Boot mit 80 Menschen an Bord sank auf seinem Weg zu den Kanarischen Inseln. Nur elf Leben konnte gerettet werden, 69 Menschen starben. Viele der Verunglückten stammten aus dem westafrikanischen Land Mali, das seit über einem Jahrzehnt von einem bewaffneten Konflikt gezeichnet ist, in dem verschiedene, auch europäische Mächte kräftig mitmischen.

Ein von der griechischen Küstenwache am Mittwoch, den 14. Juni 2023, zur Verfügung gestelltes Bild zeigt zahlreiche Menschen, die praktisch jeden freien Bereich des Decks auf einem ramponierten Fischerboot bedecken, das später vor Südgriechenland kenterte und sank [AP Photo/Hellenic Coast Guard via AP]

Das Jahr 2025 begann auf dem Mittelmeer mit dem Untergang von zwei Flüchtlingsbooten mit Ziel Italien vor der tunesischen Küste, bei dem 27 Menschen ihr Leben verloren. Näheres über die verstorbenen Menschen war den Nachrichten nicht zu entnehmen. Mit ihnen beginnt die traurige Zählung der Toten an den Außengrenzen Europas im neuen Jahr.

2024 war das bislang tödlichste Jahr für Migranten auf dem Weg nach Europa, resümiert die spanische Menschenrechtsorganisation Caminando Fronteras. Mehr als 30 Menschen starben durchschnittlich täglich auf dem Weg von Afrika nach Spanien, insgesamt zählte die NGO 10.457 auf der See verstorbene oder verschwundene Migranten.

Dies bedeutet einen Anstieg von mehr als 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr und einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahre 2007. Caminando Fronteras bezieht die Daten von Hotlines für Migranten in Seenot, von Familienangehörigen vermisster Migranten und von offiziellen Statistiken zu Rettungsaktionen.

Die Opfer kamen aus 28 Länder, vorwiegend aus Afrika, aber auch aus Pakistan und dem Irak. Die meisten Toten sind auf Schiffsunglücke auf der Atlantikroute zwischen dem afrikanischen Kontinent und den Kanaren zurückzuführen. Die Kanarischen Inseln liegen an der nächsten Stelle etwa 100 Kilometer vor der marokkanischen Küste entfernt, sind aber auch das Ziel von Booten, die deutlich weiter südlich im Senegal starten.

Das spanische Innenministerium meldet, dass zwischen dem 1. Januar und dem 15. Dezember des vergangenen Jahres 60.216 Flüchtlinge irregulär nach Spanien einreisten, was einen Anstieg um 14,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum darstellt. Über 70 Prozent von ihnen kamen auf den Kanarischen Inseln an.

Doch etwa jeder fünfte Migrant verliert sein Leben auf der Atlantikroute, Caminando Fronteras dokumentierte auf diesem Weg 9.757 Tote. Gefährlich ist die Strecke nicht nur wegen der Wellen auf offener See und starken Strömungen, die in dem tiefen Wasser herrschen. Die meisten Boote, die zur Überfahrt eingesetzt werden, sind nicht hochseetauglich und überladen. Vor allem aber sind die Rettungssysteme, -maßnahmen und -ressourcen völlig unangemessen angesichts der Anzahl an Unglücken, die sich auf der Route permanent ereignen. „Mehr als 10.400 Tote oder vermisste Menschen in einem einzigen Jahr sind eine nicht hinnehmbare Tragödie“, bemerkte die Sprecherin der NGO Helena Maleno und nannte die Bilanz den „Beweis für ein tiefgreifendes Versagen“.

Diese Tragödie wird von der Europäischen Union jedoch nicht nur hingenommen, sondern man lässt sie sehr bewusst geschehen, da sie der Abschreckung so genannter „illegaler“ Migration dienen soll. Nicht nur Spanien, sondern vor allem auch Italien und Griechenland als die größten EU-Mittelmeeranrainerstaaten tragen direkte Verantwortung für den Tod Tausender, die vor Armut und Unterdrückung fliehen und sich in Europa ein besseres Leben für sich und ihre Familien erhoffen. Die brutale Grenzpolitik wird jedoch letztlich von allen EU-Ländern mitgetragen und vor allem auch von Deutschland vorangetrieben.

Auch im Mittelmeer verlieren weiterhin Tausende Menschen jedes Jahr ihr Leben, weil es für sie keine legalen Wege nach Europa gibt. Die Grenzpolitik der Europäischen Union mit der Praxis der Pushbacks, der Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Machthabern und ihren Hilfstruppen sowie der aktiven Behinderung von Seenotrettung ist direkt verantwortlich für das Sterben in den an Europa angrenzenden Gewässern.

Die NGO SOS Humanity berichtet in ihrer Jahresbilanz 2024: „Fast 21.000 schutzsuchende Menschen wurden von der EU-finanzierten, sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen, widerrechtlich nach Libyen zurückgebracht und dort inhaftiert - unter Bedingungen, welche die Untersuchungsmission der Vereinten Nationen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstufte.“

Italien drangsaliert unter der Regierung der Faschistin Giorgia Meloni nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die zivile Seenotrettung immer stärker. Seit 2023 dürfen zivile Rettungsschiffe durch ein Regierungsdekret festgesetzt und vom Rettungsgebiet weit entfernten Häfen im Norden und Osten Italien zugewiesen werden. SOS Humanity zählt für das Jahr 2024 insgesamt 323 Tage Festsetzung, 117.000 zusätzliche Kilometer und 293 verlorene Einsatztage für die zivile Flotte, die von NGOs im Mittelmeer unterhalten wird.

Mit einem weiteren Dekret, das die italienische Regierung erst Anfang Dezember 2024 verabschiedet hat, können künftige zivile Rettungsschiffe nach mehrmaliger Festsetzung beschlagnahmt werden. Zudem dürfen die Schiffe nunmehr niemandem in Seenot helfen, sobald sie bereits Geflüchtete an Bord haben. Verschiedene zivile Seenotrettungsorganisationen haben das so genannten Flussi-Dekret daher als „getarntes Todesurteil“ bezeichnet.

Sie resümieren: „Es scheint das Ziel zu sein, das Leben derjenigen unmöglich zu machen, die Leben retten und Zeugen der Verletzungen des internationalen Rechts sind, die täglich im zentralen Mittelmeer stattfinden. Es handelt sich um ein weiteres schädliches, propagandistisches und unmenschliches Gesetz, das zudem offenkundig unrechtmäßig ist.“ Die italienische Regierung versuche mit dem Dekret, das Völkerrecht zu beseitigen, um Rettern und Geretteten „den größtmöglichen Schaden zuzufügen“.

Für 2024 wird die Zahl der im Mittelmeer tot geborgenen oder vermissten Menschen vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mit etwa 2.400 angegeben. Die Gesamtzahl der seit 2014 auf den Mittelmeerrouten vermissten Personen erhöht sich damit auf über 31.000.

Auch an einer weiteren Seegrenze der Europäischen Union, im Ärmelkanal wurde eine Rekordzahl an irregulären Überfahrten und eine Höchstzahl an Toten seit Beginn der offiziellen Zählung im Jahr 2018 registriert. Die britische Regierung berichtet, dass bei 20 Unglücken auf dem Weg zwischen Frankreich und Großbritannien insgesamt 76 Menschen ums Leben kamen.

Das gewaltige Verbrechen an Flüchtlingen und Migranten wird 2025 weitergehen. Die europäischen Regierungen sind einzeln und gemeinsam verantwortlich für den massenhaften und völlig vermeidbaren Tod auf See von denjenigen, die in Europa Schutz und Sicherheit, Arbeit und ein besseres Leben suchen. Das grundlegendste Menschenrecht, das Recht auf Leben, wird den Migranten vor den Toren Europas abgesprochen. Und wenn sie europäischen Boden betreten, droht ihnen unmenschliche Unterbringung in Lagern, alle Arten von Schikanen und die Abschiebung in Kriegs- und Krisengebiete.

An der Behandlung von Flüchtlingen und Migranten lässt sich ablesen, wie es um Demokratie und Menschenrechte in Europa tatsächlich bestellt ist. Umgekehrt ist die Verteidigung der Migranten eine der grundlegendsten Aufgaben im Kampf der Arbeiterklasse gegen Kapitalismus und Krieg und für soziale und demokratische Rechte für alle.

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