Panik ergriff am 11. Mai die amerikanische Hauptstadt und wurde über die Medien im ganzen Land verbreitet. Die Ursache war ein Leichtflugzeug aus dem ländlichen Pennsylvania, das von zwei vom Pech verfolgten Piloten versehentlich in den gesperrten Luftraum um Washington DC gesteuert wurde.
Alarmglocken schrillten, bewaffnete Sicherheitsleute räumten das Kapitol und kommandierten die Abgeordneten und Senatoren herum. Sie wiesen die Gesetzgeber in lautem Befehlston an, das Parlament nicht gehend, sondern rennend zu verlassen. Andere Einheiten des Sicherheitsdienstes vertrieben Richter aus dem Obersten Gericht.
Währenddessen wurde Vizepräsident Dick Cheney in einem Autokonvoi an einen "unbekannten Ort" verbracht. Präsident George W. Bush wurde erst nach Ende des Zwischenfalls unterrichtet. Der Secret Service sah keine Veranlassung, seine tägliche Routine zu unterbrechen, und ließ ihn ungestört einen Mountainbike-Ausflug in einem Park in Maryland beenden.
Während in Washington 35.000 Menschen in großer Hast evakuiert wurden, blieb am andern Ufer des Potomac Rivers, in Virginia, die Arbeit des Pentagon unbeeinträchtigt. Dort erwog Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bereits, den Befehl zum Abschuss des verirrten Flugzeugs zu geben. Schließlich eskortierten zwei F-26 Jäger der Air Force das Flugzeug zu einem nahegelegenen Flugplatz.
Bei dieser 45-minütige Episode wurde zum ersten Mal die höchste Alarmstufe Rot nach dem Alarmsystem des Heimatschutzministerium ausgerufen.
Die Massenmedien nahmen den Zwischenfall zum Anlass, die Erinnerung an den 11. September wachzurufen. Obwohl sie niemals ernsthaft untersucht haben, wie der 9. September eigentlich passieren konnte, diskutierten sie, ob die Amerikaner heute "sicherer" leben als vor den Anschlägen auf New York und Washington. Mehrmals fragten Fernsehkommentatoren ungehalten, warum die Air Force das Flugzeug nicht einfach abgeschossen habe, oder regten an, die beiden Piloten schwer zu bestrafen, weil sie eine Massenevakuierung verschuldet hätten.
Wie immer wurden die wichtigen Fragen, die der Vorfall aufwirft, von den Medien nicht gestellt, geschweige denn genauer untersucht. Waren das einfach routinemäßig ausgelöste Sicherheitsmaßnahmen, oder gab es auch politische Motive dafür? Und was sagt die Evakuierung über den Zustand der amerikanischen Demokratie aus?
Der Zwischenfall vom Mittwoch war nicht der erste dieser Art. Verletzungen des gesperrten Luftraums über dem Weißen Haus und dem Kapitol sind nicht ungewöhnlich. 1994 flog ein Pilot in selbstmörderischer Absicht mit einer anderen Cessna gegen das Weiße Haus, wobei er so gut wie keinen Schaden anrichtete. In den zehn Jahren vor dem 11. September gab es mindestens 90 Verletzungen des gesperrten Luftraums.
Seit den Anschlägen vom 11. September und der Ausdehnung der Sperrzone haben die Verletzungen eher noch zugenommen. Im Juni 2002 gab es einen fast identischen Zwischenfall wie am Mittwoch. Eine einmotorige Cessna 182 näherte sich dem Weißen Haus bis auf sieben Kilometer, und der Pilot reagierte nicht auf die Versuche der Fluglotsen, über Notfallfrequenzen Kontakt mit ihm aufzunehmen. Damals wurden zwar unter anderem die Journalisten aufgefordert, das Weiße Haus zu verlassen, der Präsident blieb jedoch dort, und es wurden auch keine anderen Gebäude evakuiert.
Noch viel weniger gab es einen Aufschrei der Medien. Associated Press berichtete damals: "Wie Beamte mitteilen, haben sich in den vergangenen Wochen Dutzende solcher Luftraumverletzungen über dem Weißen Haus ereignet, ohne dass es nennenswerte Auswirkungen am Boden gehabt hätte."
Im Juni vergangenen Jahres gab es einen Zwischenfall mit einer vergleichbaren Evakuierung des Kapitols und des Obersten Gerichtshofs. Es war der Vorabend von Ronald Reagans Begräbnis, als eine zweimotorige Propellermaschine, die den Gouverneur von Kentucky, Ernie Fletcher, zu den Begräbnisfeierlichkeiten nach Washington brachte, nicht auf die Fluglotsen reagierte. Kampfflugzeuge und Blackhawk Hubschrauber stiegen auf, bevor das Flugzeug identifiziert und zum Flugplatz von Washington eskortiert wurde.
Seltsamerweise provozierte der Zwischenfall, der damals sogar zum Abschuss eines amtierenden Gouverneurs hätte führen können, eine sehr viel schwächere Reaktion der Medien. Auch setzte das Heimatschutzministerium die Warnstufe nicht auf Rot.
Warum also dieses Mal eine solch hysterische Atmosphäre? Die Bush-Regierung versucht ständig, die amerikanische Öffentlichkeit mit Warnungen vor einer angeblich allgegenwärtigen Terrorgefahr in Angst und Schrecken zu versetzen, damit sie ihre Politik akzeptiert. Da die Regierung mit einer wachsenden Oppositionswelle gegen ihren aggressiven Militarismus und ihre Angriffe auf soziale Errungenschaften konfrontiert ist, besteht durch aus die Möglichkeit, dass Befehle ausgegeben wurden, den kleinsten Zwischenfall zu einem großen Terroranschlag aufzubauschen.
Die Art und Weise, wie auf den Vorfall vom Mittwoch reagiert wurde, verheißt nichts Gutes für die demokratischen Rechte in den Vereinigten Staaten.
So beschreibt die Washington Post die Evakuierung des Kongresses: Sitzungen wurden von Polizisten gesprengt, die "Kommandos bellend in Säle des Kapitols eindrangen". "Die Fraktionsvorsitzende der Demokraten im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, wurde in einem Gang vor dem Plenarsaal kurzerhand aus ihren rosa Stöckelschuhen gehoben", von Kapitolspolizisten in ein Auto verfrachtet und weggefahren. Während Polizisten mit Automatikwaffen herum fuchtelten und Abgeordnete anschrieen, sie sollten laufen, "keuchte Edward Kennedy, der demokratischer Senator aus Massachussetts, in der Hitze des Nachmittags und lehnte sich erschöpft an einen Pfosten, um Atem zu schöpfen".
In Artikel 1 der US-Verfassung heißt es: "Alle in dieser Verfassung verliehene gesetzgebende Gewalt soll einem Kongreß der Vereinigten Staaten übertragen sein, der aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus bestehen soll." Das Gründungsdokument bezeichnet eindeutig die Legislative als "oberstes Organ" der amerikanischen Regierung, das den Willen des Volkes am unmittelbarsten ausdrücken soll.
Aber am Mittwoch zeigte dieses Gremium ein Bild der Ohnmacht und Feigheit. Seine Mitglieder rannten in panischer Angst weg, weil ein kleines Flugzeug möglicherweise auf sie zuflog. Nicht einer unter den Demokraten oder Republikanern hatte das Interesse oder den Mut, Auskunft darüber zu verlangen, warum dieses angeblich mächtigste Organ des Landes weggeschickt wurde.
"Ich befand mich im Plenum, wie alle anderen", berichtete der Sprecher des Repräsentantenhauses, Dennis Hastert, gegenüber CNN News. "Das Sicherheitspersonal forderte uns auf zu gehen. Also gingen wir", fügte er schwach hinzu.
Pelosi, die gegenüber CNN bestätigte, dass sie "wirklich aus den Schuhen gehoben wurde", erklärte: "Es ist besser, in Sicherheit zu sein, als hinterher Trübsal zu blasen."
Es scheint der demokratischen Kongressführerin nicht in den Sinn zu kommen, dass es wichtigere Dinge gibt als die persönliche Sicherheit. Zumindest für sie und ihre Kollegen sollte dazu die Unabhängigkeit und politische Integrität des Kongresses gehören.
Seit Jahrzehnten wird die Macht des Kongresses mehr und mehr beschnitten und dafür die Macht in der Hand des Präsidenten konzentriert. In den letzten viereinhalb Jahren hat sich dieser Prozess allerdings enorm beschleunigt, weil die Demokraten die Einsetzung eines ungewählten Präsidenten akzeptiert haben, einen kriminellen Krieg unterstützen und dazu beitragen, grundlegende demokratische Rechte abzubauen.
Die Demokratische Führung ist kaum prädestiniert, auf der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung und der Autorität des Kongresses zu bestehen. Sie hat auch kein Interesse daran. Es sind kleine Leute, denen es nicht um politische Prinzipien geht, sondern um ihre eigene Karriere und die Wirtschaftsinteressen, die sie entweder emporheben oder vernichten.
Die Ereignisse vom Mittwoch waren lehrreich. Eine kleine Gruppe bewaffneter Männer drang in das Kapitol ein und schrie den Kongress an, sich zu zerstreuen, was er auch widerstandslos tat. Inzwischen übernahm das Pentagon die Kontrolle, und Vizepräsident Cheney wurde zu einem unbekannten Ort gebracht. Dabei handelt es sich beinahe sicher um die Bunkeranlage, in der eine Schattenregierung in Wartestellung bereit steht, um während eines nationalen Notstands mit diktatorischen Mitteln zu regieren.
Was, wenn das nächste Mal die bewaffneten Männer den Befehl haben, den Zugang zum Kongress zu sperren, wenn das Weiße Haus entscheidet, die Legislative ganz zu schließen und mit unbeschränkter Macht zu regieren? Gibt es irgendeinen Grund zur Annahme, dass sich die verängstigten Hühner im Maßanzug, die am Mittwoch die Treppen des Kapitols hinunterhasteten, dann widersetzen würden?