Am 12. Dezember hat das Bundesinnenministerium die islamistische türkische Gruppierung "Kalifatsstaat" (eine offizielle Bezeichnung ist auch "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden", ICCB) mit 20 Unterorganisationen verboten und aufgelöst. Es stützte sich dabei rechtlich auf die erst wenige Tage zuvor erfolgte Änderung des Vereinsgesetzes, mit der das Verbot religiöser und weltanschaulicher Gruppierungen stark erleichtert wurde.
Die Terroranschläge vom 11. September dienten dabei nur als Vorwand. Innenminister Otto Schily selbst hat darauf hingewiesen, dass er bereits am 5. September seine Gesetzesänderungspläne vorgestellt und dabei den ICCB als exemplarisches Beispiel für "extremistische Vereinigungen, die sich als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften tarnen," genannt hatte.
Am frühen Morgen wurden mit einem martialisch auftretenden Großaufgebot der Polizei über 200 Vereinsgebäude und Privatwohnungen durchsucht und alles Vereinsvermögen beschlagnahmt. Allein in Baden-Württemberg nahmen 600 Beamte an der Aktion teil. Auch in Köln, wo die Zentrale der Gruppierung ist, nahmen mehrere Hundertschaften der Polizei an den Durchsuchungen teil.
Die Polizisten trampelten dabei mit ihren Stiefeln auch in mehreren Moscheen des Vereins herum. Eine Moschee zu betreten, ohne vorher die Schuhe auszuziehen, gilt im islamischen Glauben als Beleidigung. Auch Hunde schnüffelten in den Gebetshäusern herum. Obwohl die Gruppe von Medien und Regierung zu einem hochgefährlichen Nest krimineller und terroristischer Umtrieben aufgebauscht worden war, kam es aber nur zu einigen wenigen Festnahmen.
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat am selben Tag angekündigt, ICCB-Führer Metin Kaplan, der zur Zeit eine vierjährige Gefängnisstrafe absitzt, werde nach dem Ende seiner Haft in die Türkei abgeschoben. Eine Ausweisungsverfügung hat Kaplan bereits erhalten. Aus Furcht vor der Auslieferung hat er kürzlich die Aussetzung seiner Strafe zur Bewährung abgelehnt.
Auch den meisten der etwa 1.100 Mitglieder und Unterstützer des ICCB, die sich im Gegensatz zu ihrem "Kalifen" keiner Straftat schuldig gemacht haben, droht die Ausweisung. Der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber hat dies als "Nagelprobe" für die Politik der Bundesregierung bezeichnet und die Zustimmung seiner Partei im Bundesrat zum sogenannten Sicherheitspaket II von Innenminister Schily (SPD) davon abhängig gemacht.
Haltlose Begründung
Die von Schily und dem Verfassungsschutz angegebenen Gründe für das Verbot des ICCB, die von den Massenmedien in einer Art freiwilligen Selbstzensur unkritisch nachgebetet werden, erweisen bei näherem Hinsehen als haltlos.
Stark herausgestellt wurde von Schily zum einen die Demokratiefeindlichkeit des "Kalifatsstaats". Der ICCB ist unbestreitbar eine extrem rechte, antidemokratische Organisation, für die nach eigenem Bekunden "Islam und Demokratie unvereinbar" sind. Eine antidemokratische Gesinnung allein rechtfertigt aber noch nicht die staatliche Unterdrückung einer Organisation. Selbst der rechtspolitische Sprecher der Grünen Volker Beck, der Schilys Gesetzesänderungen und das Verbot der Kaplan-Gruppe unterstützt, gab zu, dass auch "christliche Gruppen wie die Zeugen Jehovas oder Opus Dei [eine ultrakonservative katholische Organisation] Überzeugungen haben, die sich mit dem Menschen- und Gesellschaftsbild des Grundgesetzes nicht vertragen". Diese Überzeugungen, so Beck, "muss man ertragen, solange sie nicht mit rechtswidrigen Mitteln durchgesetzt werden".
Schily führt in seiner Presseerklärung weiter an, der "Kalifatsstaat" richte sich "gegen den Gedanken der Völkerverständigung". Begründung: "Agitation gegen die Türkei, Israel und andere Staaten sowie gegen Juden".
Der erste Teil des Arguments ist ein offener Angriff auf die Meinungsfreiheit. Der repressive Charakter der Staaten Türkei und Israel ist allgemein bekannt. Ihre Unterdrückung der Kurden bzw. der Palästinenser widerspricht grundlegenden demokratischen Prinzipien, international anerkannten Rechtsstandards und zahlreichen UN-Beschlüssen. Wenn die "Agitation" gegen diese Staaten ein Grund für das Verbot von Organisationen und die Abschiebung von Aktivisten ist, kann dasselbe für jede politische Kritik an Regimes gelten, die mit der Bundesrepublik verbündet sind, ganz gleich wie blutbefleckt sie sind.
Um den zweiten Teil des Arguments steht es nicht besser. Hetze gegen Juden oder andere Minderheiten lässt sich ohne weiteres mit den Mitteln des Straf- und Zivilrechts ahnden, etwa nach den Tatbeständen der Beleidigung, der Volksverhetzung, der Aufstachelung zum Rassenhass oder der Aufforderung zu Straftaten. Die Betroffenen oder staatlichen Behörden hätten ohne weiteres auf gerichtlichem Wege gegen Funktionäre der Kaplan-Gruppe vorgehen können, die seit vielen Jahren intensiv observiert wird. Tatsächlich ist die Gruppe jedoch weitgehend von Gerichtsverfahren verschont worden.
Das kann nur zwei Gründe haben. Entweder mangelte es an Beweismaterial, das einer gerichtlichen Überprüfung standgehalten hätte, oder die Behörden ließen der Gruppe bewusst freie Hand, weil sie ihnen den nötigen Vorwand für eine Verschärfung des Vereinsgesetzes lieferte. Auf letzteres deutet die Tatsache hin, dass sogar Morde im Umfeld des ICCB ungeklärt blieben und die Staatsorgane sich recht desinteressiert zeigten, obwohl es an rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten für ein polizeiliches und gerichtliches Vorgehen gegen einzelne Mitglieder der Gruppe nicht gemangelt hätte. Um so hohler klingen heute die Beschwörungen, die bizarre Kaplan-Sekte, die bis vor kurzem laufend Mitglieder verloren hat, sei "eine Gefahr für die innere Sicherheit".
Interesse zeigten die Behörden nur in einem Fall, der jetzt auch ständig von Schily und den Medien angeführt wird: 1996 hatte Kaplan nach einer Spaltung des Verbands eine Fetwa (Rechtsurteil eines islamischen Gelehrten) gegen den mit ihm rivalisierenden zweiten "Kalifen" Halil Ibrahim Sofu ausgesprochen. Sofu wurde zehn Monate danach von einem unbekannten Killerkommando erschossen. Kaplan wurde wegen "Bildung einer terroristischen Vereinigung" innerhalb des Verbandes angeklagt, die sich zum Ziel gesetzt habe, "Kritiker und Abweichler auszuschalten sowie fanatische Anhänger zu Anschlägen in der Türkei anzuleiten". Nachgewiesen werden konnte Kaplan aber nur Aufruf zum Mord mittels der "Fetwa", die dann womöglich ohne seinen Willen von einzelnen Mitgliedern der Gruppe in die Tat umgesetzt wurde.
Die türkische Polizei behauptete 1998, einige Monate später, sie habe ein großes Attentat der Kaplan-Gruppe in letzter Minute verhindert. Ein Selbstmordattentäter habe sich per Flugzeug während des Nationalfeiertags in das Atatürk-Mausoleum stürzen wollen. Nur wegen schlechten Wetters sei der Anschlag verschoben worden. Peinlich nur, dass an diesem Tag im ganzen Land Windstille und Sonnenschein herrschten, wie damals die Süddeutsche Zeitung berichtete. Dass es sich offensichtlich um ein dümmliches Fabrikat des türkischen Geheimdienstes handelte, hat allerdings kaum eine deutsche Zeitung daran gehindert, die Geschichte jetzt als wahr oder zumindest glaubhaft zu verkaufen.
Der Spiegel grub darüber hinaus die Tatsache aus, dass Cemaleddin Kaplan, Vater des jetzigen "Kalifen" und Gründer des ICCB, 1989 den Mordaufruf Ayatollah Khomeinis gegen den Schriftsteller Salman Rushdie unterstützt hatte. Der Artikel unterschlug jedoch geflissentlich, dass Kaplan sich auch verquast, aber deutlich von der Durchführung des Mordes distanziert hatte. Dem Ethnologen Professor Werner Schiffauer zufolge, der im Prozess gegen Metin Kaplan als Sachverständiger aussagte, stammte dieser Vorwurf von einer Gruppe von Abspaltern.
In dem Bemühen, der Kaplan-Gruppe terroristische Aktivitäten nachweisen und damit ein Verbot besser rechtfertigen zu können, haben die Medien einen weiteren Fall hochgespielt: Am 17. Oktober wurde Harun Aydin, Herausgeber der Verbandszeitung des ICCB und Schwippschwager Kaplans, am Frankfurter Flughafen festgenommen. Der BGS notierte als beschlagnahmte Gegenstände unter anderem einen ABC-Schutzanzug, Materialien zur Herstellung eines Bombenzünders und einen Abschiedsbrief. Es fehlte nur noch ein selbstgebasteltes Pappschild mit der Aufschrift "Terrorist" um den Hals.
Am nächsten Tag wurde Haftbefehl erlassen, einen weiteren Tag später übernahm Generalbundesanwalt Kay Nehm die Ermittlungen. Die Bundesanwaltschaft beauftragte das BKA mit der Untersuchung der Gegenstände und einer Hausdurchsuchung bei Aydin. In allen Medien wurde aufgeregt über die Festnahme eines "Schläfers" und "Selbstmordattentäters" berichtet. Doch dann entpuppte sich der Schutzanzug als Regenmantel, der Zünder als Talisman und der Abschiedsbrief als Liebesbrief. Aydin musste wieder freigelassen werden. Dafür interessierten sich die meisten Medien allerdings kaum. Bezeichnenderweise hat Schily die peinliche Geschichte in seiner Begründung des Verbots nicht erwähnt, und auch der Großteil der Medien unterließ es geflissentlich, daran zu erinnern.
Stattdessen erwähnten einige Zeitungen, um den ICCB doch noch irgendwie mit "Terrorismus" in Verbindung zu bringen, Erkenntnisse des Verfassungsschutzes, wonach sich Vertreter der Organisation mit den Taliban und Osama Bin Laden getroffen hätten. Tatsächlich hatte die Verbandszeitung der Gruppe selbst 1997 berichtet, dass im vorangegangenen Jahr eine Delegation nach Afghanistan gegangen sei und dort mit den Taliban gesprochen habe. Dabei habe sie auch Bin Laden getroffen. Dazu ist zu bemerken, dass 1996 und 1997 auch Vertreter des amerikanischen Ölkonzerns Unocal und des US-Außenministeriums mit den Taliban verhandelten. In diesen Jahren wurde von der USA auch noch keine öffentliche Forderung nach Auslieferung Bin Ladens erhoben.
1998 gab es dann noch einen Besuch eines ranghohen Taliban-Vertreters auf einer öffentlichen Veranstaltung des "Kalifatsstaats". Aber auch zu dieser Zeit existierten noch nicht einmal die UN-Sanktionen gegen das afghanische Regime. Aus diesen vereinzelten Treffen entwickelte sich dann keinerlei konkrete Zusammenarbeit wie etwa militärische Ausbildung, was sogar der Verfassungsschutz zugab.
Die wirklichen Gründe
Das Verbot des "Kalifatsstaats" und die drohende Abschiebung von Kaplan hat mit "Kampf gegen Terrorismus" oder der "Verteidigung von Demokratie und Völkerverständigung" also nichts zu tun. Vielmehr ist hier ein Präzedenzfall für das Vorgehen der Exekutive gegen jede abweichende Meinung und oppositionelle Strömung geschaffen worden.
Gestützt auf das verschärfte Vereinsgesetz hat sich das Innenministerium in einer Art und Weise über individuelle Freiheitsrechte hinweggesetzt, wie dies im Rahmen eines normalen juristischen Verfahrens niemals möglich gewesen wäre. Mit dem Verbot des "Kalifatsstaats", das ohne Gerichtsverfahren auf Beschluss des Innenministers erfolgte, wurde nicht nur die Organisation aufgelöst, sondern auch ihr Vermögen und das zahlreicher Mitglieder beschlagnahmt. Aus der Wohnung von Harun Aydin, der als Kaplans Stellvertreter gilt, nahm die Polizei zum Beispiel sämtliche Unterlagen, Bücher und Zeitschriften mit, wie sein Anwalt berichtete. Auch die vor dem Kölner Zentrum der Gruppe parkenden Autos wurden abgeschleppt, und nicht einmal Döner-Spieße und Obstkisten blieben verschont.
Noch wesentlich schlimmer als der Verlust ihres Eigentums sind die Folgen der Abschiebung, die zahlreichen Mitgliedern der Gruppe als Folge des Verbots droht. Sie müssen in de Türkei mit jahrelanger Haft, Folter oder sogar dem Verlust ihres Lebens rechnen.
Innenminister Schily hat außerdem deutlich gemacht, dass das Verbot der Einschüchterung gilt und dabei insbesondere auf in Deutschland lebende Muslime abzielt. Das Vorgehen gegen den "Kalifatsstaat" müsse als Warnung an die Adresse anderer extremistischer Gruppen verstanden werden, sagte er. In seiner Presserklärung appellierte er mit deutlich drohendem Unterton an "die gesetzestreuen Islamanhänger in unserem Land": "Auch sie müssen deutlich werden lassen, dass islamistischer Extremismus und Terrorismus nichts mit Religionsausübung zu tun haben, sondern kriminelle Aktivitäten sind."
Schily wies auch ganz offen auf einen weiteren Hintergrund des Vorgehens gehen die Kaplan-Sekte hin. Sie gefährde "erhebliche - insbesondere außenpolitische - Belange der Bundesrepublik Deutschland". Die Türkei fordert seit langem von den europäischen Ländern, im Exil tätige Gruppen zu verbieten und ihre Führer an sie auszuliefern.
Gleichzeitig kündigte Schily eine Prüfung weiterer Verbote radikal-islamistischer Vereinigungen an. Er nannte zwar keine Namen, aber in Diskussionen wird immer wieder die Gruppe "Milli Görüs" ("Religiös-nationale Sicht") genannt, von der sich der ICCB ursprünglich abgespalten hatte. Sie soll etwa 30.000 Mitglieder haben und über 400 Moscheen sowie mehr als 1.000 Vereine kontrollieren. Sie hat in vielen Großstädten beträchtlichen Einfluss in den Arbeitervierteln mit überwiegend türkischer Bevölkerung.
Ein weiterer Grund für das Verbot des ICCB ist die Durchsetzung des "Sicherheitspaketes II". Die Union hat ihre Zustimmung im Bundesrat zu dem Gesetz unter anderem vom Vorgehen gegen die Kaplan-Gruppe abhängig gemacht und jetzt signalisiert, dass sie es passieren lassen wird. Das bedeutet aber nicht, dass der rechte Unionsflügel damit besänftigt wäre, wie ihre Agitation gegen Einwanderer und Flüchtlinge zeigt.
Das "Sicherheitspaket II" enthält einen ganzen Katalog von Gesetzesverschärfungen und Einschränkungen demokratischer Rechte. Danach wären auch Ausländer auszuweisen, die zu "gewaltbereiten Gruppen" gehören oder "terroristische Vereinigungen unterstützen".
Schon nach bisherigem Recht können anerkannte Asylberechtigte (wie Kaplan, der 1992 anerkannt wurde) unter bestimmten Bedingungen ausgewiesen werden. Das Ausländergesetz durchbricht ihren Schutz, wenn eine "schwerwiegende" Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht. Diese wird bei einer Verurteilung zu mehr als drei Jahren Haft angenommen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts genügte bisher aber auch die Funktionärstätigkeit für eine "gewaltbereite" Organisation, um anerkannte Flüchtlinge auszuweisen. In Schilys Paket ist jedoch auch diese Hürde herabgesetzt. Es genügt künftig die Mitgliedschaft oder die bloße "Unterstützung" einer gewaltbereiten Organisation.
Um Kritiker zu besänftigen, hatte Schily zunächst noch versichern lassen, das Herkunftsland solle vorher "völkerrechtlich verbindlich" zusichern, das dem Betroffenen keine Folter oder Todesstrafe drohen. Gerade das Beispiel Türkei zeigt aber, wie hohl solche Zusagen sind. Aller Versprechungen der türkischen Regierung zum Trotz ist dort die Todesstrafe gerade erst in die Verfassung aufgenommen worden. Mehrere Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und der türkische Menschenrechtsverein IHD haben erst kürzlich wieder Berichte vorgelegt, wonach entgegen der offiziellen Darstellung auf den Polizeiwachen und in den Gefängnissen des Landes systematisch schwere Folter angewandt wird.
Wenn Schilys Vorschläge umgesetzt werden, droht damit praktisch allen, selbst den anerkannten, Asylbewerbern die Abschiebung. Denn die meisten politisch aktiven Flüchtlinge, seien es nun Kurden, Tamilen, Iraner oder Palästinenser, werden ja gerade wegen angeblicher "Unterstützung" für "terroristische Organisationen" verfolgt.
Selbst wer mittlerweile Deutscher geworden ist, ist nicht völlig sicher. Denn ob eine Einbürgerung wieder "rückgängig" gemacht werden kann, ist zwar verfassungsrechtlich umstritten, wird jetzt aber verstärkt diskutiert. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel erklärte Anfang Dezember in der Bild -Zeitung, eingebürgerten Ausländern, die sich die Staatsbürgerschaft nur verschafft hätten, um ihre Mitgliedschaft in Fundamentalisten-Gruppen zu tarnen, solle der deutsche Pass wieder entzogen werden können. Dies würde entweder bedeuten, dass Deutschen wieder aus politischen Gründen die Staatsbürgerschaft entzogen werden könnte, oder dass die Staatsbürgerschaft in zwei Klassen existiert: für eingebürgerte Ausländer und "echte", d.h. blutsmäßige Deutsche. Beide Alternativen würden an die Nazi-Zeit anknüpfen.