Der deutsche Staat und Scientology

Vom Umgang mit Sekten oder: Wer bedroht die Demokratie?

Die Feindbilder haben sich gewandelt. Galten in den siebziger Jahren noch radikale linke Gruppen wie die terroristische RAF als Inbegriff staats- und demokratiefeindlicher Gesinnung, so sind es seit einiger Zeit "Weltverbesserer" ganz anderer Art, sogenannte "Sekten", von denen sich die führenden kapitalistischen Staaten - mit auffälliger Ausnahme der USA! - in höchstem Maße bedroht fühlen. Eine dieser Sekten hat es den Sektenexperten der Kirchen, Politikern und Medien ganz besonders angetan: Scientology. Kaum je zuvor in der jüngeren Geschichte wurde eine Organisation so erbittert bekämpft und unisono verketzert wie die von dem US-amerikanischen Sachbuch- und Science-Fiction-Autor Lafayette Ronald Hubbard in den fünfziger Jahren initiierte Scientology-Kirche. Woher kommt die Angst vor Scientology? Ist sie begründet? Oder gilt sie nur einem Phantom?

Als die Scientoloy-Kirche 1996 in einer Anzeigenserie in großen amerikanischen Tageszeitungen die Verfolgung ihrer Mitglieder in Deutschland mit derjenigen der Juden im Dritten Reich verglich und einzelne Mitglieder der Bundesregierung des Verfassungsbruchs bezichtigte, da ging ein Aufschrei der Empörung durch die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Anlaß für die Scientology-Aktion: die Entscheidung Bayerns, vom 1. November 1996 an alle Anwärter für den öffentlichen Dienst über ihre Beziehungen zu Scientology zu befragen - eine Art religiöser Radikalenerlaß. Eine "ungeheuere Beleidigung" der Opfer des Nationalsozialismus nannte der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, einer der Wortführer im Kampf gegen die umstrittene Organisation, den von Scientology gezogenen Vergleich.

Die Vorwürfe von Scientology wiegen in der Tat schwer, und sie erscheinen umso dreister, als doch gerade dieser Organisation "totalitäre", ja "faschistische" Strukturen nachgesagt werden. Bis etwa zur Jahresmitte 1998 überschlugen sich die Medien geradezu im Aufbau eines furchterregenden Bedrohungsszenarios. Kaum ein Tag verging ohne neue Horrormeldungen über die Gefährlichkeit von "Sekten" - und immer wieder Scientology an erster Stelle. Längst sollte die "Sekte" die Wirtschaft unterwandert haben und in empfindliche Bereiche von Staat und Gesellschaft eingedrungen sein. Wie eine Krake greife Scientology nach Macht und Einfluß und verfolge konsequent und skrupellos nur ein Ziel: die absolute Weltherrschaft, die Vernichtung der Demokratie und die Versklavung der Menschheit! Obwohl die Beschuldigungen klingen, als stammten sie aus einem billigen Science Fiction, wurden die Medien nicht müde, die Bevölkerung auf die Gefährlichkeit der "Sekte" einzuschwören, so daß allein der Name "Scientology" wenn nicht Verfolgungsbereitschaft, so doch reflexhafte Ablehnung hervorrufen mußte. Entsprechend drastisch waren die Maßnahmen, mit denen Staat, Parteien und Privatwirtschaft in Deutschland gegen Scientology vorgingen.

Staatsfeind Scientology

Die Liste dieser Maßnahmen ist lang. Sie reicht von staatlichen "Aufklärungsprogrammen" über Aufrufe zum bundesweiten Verbot der "Sekte" von Bundes- und Landespolitikern, den Ausschluß von "Scientology"-Unternehmen von der privaten Arbeitsvermittlung durch das Bundesministerium für Arbeit, behördliche Verordnungen, um die Verbreitung von Scientology-Publikationen und das Anmieten öffentlicher Räume durch die Organisation zu verhindern, den Ausschluß von Scientologen-Kindern aus Kindergärten und Schulen bis hin zur Änderung des Landesdatenschutzgesetzes in Schleswig-Holstein zum Zweck, personenbezogene Daten von Mitgliedern von "Sekten und sektenähnlichen Vereinigungen" sammeln zu können. Selbst die öffentlichen Bibliotheken der Bundesrepublik wurden in der Folge weitgehend von Primärlitertur der Scientology-Organisation bzw. den Schriften ihres Stifters L. R. Hubbard "gesäubert". Bücherspenden werden, zum Teil auf Anraten bzw. auf Anweisung der Länder-Kultusminister - wie etwa in Hessen und Niedersachsen -, nicht in die Bibliothekenbestände aufgenommen. Laut Aussagen von Bibilothekaren öffentlicher Bibliotheken in Hessen gilt diese Aufforderung auch für Bücher der Zeugen Jehovas.

Hinsichtlich Scientology herrscht seltene Einmütigkeit. Längst haben alle etablierten Parteien beschlossen, Scientologen in ihren Reihen nicht zu dulden. Gipfel der Unduldsamkeit: eine Form-Beitrittserklärung der Jungen Union, die unter dem Motto "Ich bekenne Farbe" das Bekenntnis verlangt: "Mit meiner Unterschrift bestätige ich, daß ich weder einer anderen Partei noch der Scientology-Sekte angehöre." Auch viele private Unternehmen wie beispielsweise die Würth GmbH im hohenlohischen Künzelsau verlangen von ihren zukünftigen Mitarbeitern die ausdrückliche Erklärung, daß sie mit Scientology nichts zu tun haben.

Bereits im Mai 1992 verständigten sich die Justizminister der Länder auf einer Konferenz in Hannover auf ein "schärferes Vorgehen" gegen Scientology, wobei erstmals auch erwogen wurde, die Organisation vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Den Anfang machte dann - wie einst beim Radikalenerlaß - der SPD-geführte Hamburger Senat, der im Juni 1992 weitreichende Maßnahmen gegen Scientology beschloß und zu deren Umsetzung eine "Arbeitsgruppe Scientology" ins Leben rief. Zur Leiterin wurde die SPD-Politikerin Ursula Caberta ernannt, eine der treibenden Kräfte in der Anti-Scientologen-Front. Zu der gehörte seinerzeit auch Ex-Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Im September 1994 entzog Kohls Lieblingsminister per Anweisung Scientologen das Recht, als private Arbeitsvermittler tätig zu werden. Und im November des darauffolgenden Jahres verlangte der Berliner Senat von jeder mit ihm in geschäftlicher Verbindung stehenden Firma die schriftliche Erklärung, daß sie nichts mit Scientology oder den Lehren des "Sekten"-Stifters Hubbard zu tun habe. In einem Beschluß vom 6. Mai 1994 (AZ: SIK 34/13) befand die Innenministerkonferenz, die Scientology-Organisation stelle sich "gegenwärtig den für die Gefahrenabwehr und die Strafverfolgung zuständigen Behörden der inneren Verwaltung als eine Organisation dar, die unter dem Deckmantel einer Religionsgemeinschaft Elemente der Wirtschaftskriminalität und des Psychoterrors gegenüber ihren Mitgliedern mit wirtschaftlichen Betätigungen und sektiererischen Einschlägen vereint."

Noch einen Schritt weiter ging die Regierung des Freistaats Bayern. Auf Initiative von Innenminister Beckstein verabschiedete die bayerische Landesregierung einen Entschluß, wonach ab sofort alle Anwärter für den öffentlichen Dienst in einem Fragebogen mögliche Beziehungen zu der Organisation offenlegen müssen. Bereits Beschäftigten des Freistaats drohen Disziplinarverfahren, wenn sie in Kontakt mit Scientology stehen. Bewerber für staatliche Aufträge müssen schriftlich erklären, nichts mit der Organisation zu tun zu haben. Nach Auffassung der Landesregierung handelt es sich bei Scientology um ein Wirtschaftsunternehmen, das seine Anhänger mit "rücksichtslosen Psychomethoden" einer totalen Kontrolle unterwirft. Beamtenanwärter mit Beziehungen zu dieser Gruppe könnten, so die bayerische Landesregierung, angesichts des Absolutheitsanspruchs von Scientology in Konflikt mit ihren Dienstpflichten geraten. Dadurch seien Zweifel an ihrer Eignung für eine Tätigkeit im staatlichen Bereich gegeben.

Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die staatliche Diskriminierung mit der Beobachtung von Scientology durch den Verfassungsschutz, zunächst in Baden-Württemberg (seit Anfang 1997) und schließlich, seit Juni 1997, bundesweit, mit Ausnahme Schleswig-Holststeins. Zum erstenmal in der 50jährigen Geschichte der Bundesrepublik wurde eine Religionsgemeinschaft damit offiziell zum Objekt geheimdienstlicher Schnüffelei.

Ein Jahr zuvor hatte eine vom Bundestag eingesetzte Enquetekommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" ihre Arbeit aufgenommen. Diese legte im Sommer 1998 ihren lange erwarteten Abschlußbericht vor. Bereits vor Erscheinen dieses Berichts hatten angesehene Wissenschaftler der Kommission "Weltanschauungskontrolle" vorgeworfen. Sie begünstige einseitig das Machtinteresse "der beiden Amtskirchen" gegen konkurrierende "soziale Dienstleister" und "kleine religiöse Gruppierungen". In einer 10-Punkte-Erklärung warfen namhafte Professoren, darunter der Heidelberger Kirchenhistoriker Gerhard Besier sowie der ehemalige Ex-Bundesminister Hans Apel (SPD), der Enquete eine Reihe von Verstößen gegen das Neutralitätsgebot vor. Tatsächlich hatte die Kommission als sachverständige Mitglieder Sekten- und Weltanschauungsbeauftrage der beiden großen Kirchen, nicht aber Sachverständige anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften berufen. In der praktischen Arbeit schlug sich die Befangenheit der Kommissionsmitglieder u.a. darin nieder, daß sich die Kommission zwar vermeintliche Sekten-Opfer vorführen ließ, den angeklagten Organisationen jedoch häufig nicht die geringste Gelegenheit zur Stellungnahme gab.

In ihrem Abschlußbericht kommt die Bonner Glaubenskongregation dennoch zu dem Ergebnis, Sekten und Psychogruppen stellten gegenwärtig "insgesamt keine Gefahr für Staat und Gesellschaft oder für gesellschaftlich relevante Bereiche, z. B. Wirtschaft" dar. Im Gegensatz zur allgemeinen Entwarnung steht freilich eine gesonderte Bewertung der Scientology-Kirche, deren angebliche Gefährlichkeit von der Kommission unterstrichen wird. "Obwohl die kirchlichen Sektenexperten selber nicht recht an die Gefährlichkeit ihrer Forschungsobjekte glaubten", so Der Spiegel(24/98), "fürchten sie doch die Konkurrenz. Mit dem Entwurf eines ‚Lebensbewältigungshilfegesetzes‘ wollte die Kommission den angeblich unmündigen Konsumenten des Psychomarktes den rechten Weg weisen - zurück in den Schoß der Amtskirchen. Damit scheiterten die Sektenbekämpfer jedoch schon am Einspruch des Bundesjustizministeriums. Der Gesetzentwurf hätte auch seriöse Anbieter benachteiligt."

Als Ersatz für das abgelehnte Gesetz präsentierte die Kommission zwanzig Handlungsempfehlungen: so solle etwa der Straftatbestand des Wuchers künftig auch bei psychischen Zwangslagen greifen, die Polizei solle Sonderdezernate für Okkultismus und Satanismus einrichten, "obgleich", so Der Spiegel weiter, "eine Befragung der Landeskriminalämter keine Notwendigkeit ergab und die Kommission selbst zu dem Schluß kommt, es handle sich um ‚seltene Randerscheinungen‘."

Seit Veröffentlichung des Abschlußberichts der Enquetekommission hat sich zwar die Aufgeregtheit der Medien etwas gelegt, tatsächlich ging die Diskriminierung jedoch unverändert weiter. Eines der prominenteren Opfer: der französische Tennisspieler Arnaud Boetsch. Seit November 1997 spielte Boetsch für den Bundesliga-Aufsteiger TC Karlsuhe-Rüpurr. Obwohl Boetschs Mitgliedschaft bei Scientology seit langem im Verein bekannt war und dieser offiziell nie für die Kirche auftrat, wurde der Vertrag mit dem Franzosen im Juni 1998 aufgelöst. Den Ausschlag für diese Entscheidung gab eine Denunziation Boetschs in der örtlichen Zeitung, den Badischen Neuesten Nachrichten, die dazu führte, daß einige Sponsoren den Verein drängten, sich von Boetsch zu trennen.

Was allein der vage Verdacht, der "Sekte" anzugehören, bewirken kann, erlebte der Berliner Polizeidirektor Otto Dreksler. Aufgrund eines Behördenzeugnisses des Landesamtes für Verfassungsschutz über seine angebliche Mitgliedschaft bei Scientology wurde Dreksler im März 1998 vorübergehend vom Dienst suspendiert. Erst am 22. Juli 1998, nachdem sich die Beschuldigungen gegen ihn als haltlos erwiesen hatten, wurde der Beamte wieder als Leiter des Lagedienstes der Berliner Polizei eingesetzt. Im selben Jahr verhafteten die Schweizer Behörden einen Agenten des baden-württembergischen Verfassungsschutzes, der in der Eidgenossenschaft Scientologen ausspionieren wollte. Jetzt steht ihm ein Prozeß wegen Verletzung der Schweizerischen Souveränität ins Haus.

Wachsende Kritik aus Washington

Obwohl die rot-grüne Bundesregierung in Sachen Religionsfreiheit bislang keine klare Position bezogen hat, läßt sich seit dem Regierungswechsel doch eine gewisse Beruhigung an der "Sektenfront" feststellen. Die propagandistische Einstimmung einer wenig kriegsbegeisterten Bevölkerung auf den NATO-Krieg gegen Serbien und der Generalangriff auf Arbeitnehmer, Kranke und Ärzte nahmen das Schröder-Kabinett bislang voll in Anspruch. Der eigentliche Grund für die bisherige Zurückhaltung dürfte indes in Washington zu suchen sein. Dort zeigt man sich zusehends über den Umgang mit religiösen Minderheiten in Deutschland besorgt. Bereits im sechsten Jahr in Folge zeichnete der am 26. Februar diesen Jahres veröffentlichte Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums für das Jahr 1998 ein zwiespältiges Bild von der Religionsfreiheit in der Bundesrepublik. Nach einem Loblied auf die verfassungsmäßige parlamentarische Demokratie, das freie Mehrparteiensystem, die unabhängige Gerichtsbarkeit und eine Wirtschaft, die "den Bürgern einen hohen Lebensstandard ermöglicht", prangert der Bericht drastische Verletzungen internationaler Menschenrechtsstandards an. "Auch unter Ländern, die von sich behaupten, die Religions- und Glaubensfreiheit zu respektieren, setzten sich Mißbräuche fort", so die Feststellung des US-Außenministeriums. Deutschland wird zusammen mit Frankreich und Rußland in der Kategorie "Ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von neuen Religionen oder Minderheitsreligionen" aufgeführt. Auch in einem Bericht der International Helsinki Federation for Human Rights über religiöse Diskriminierung und andere Verletzungen der Vereinbarung von Helsinki für das OSZE-Menschenrechts-Meeting vom 22. März 1999 wird die Bundesrepublik Deutschland erwähnt. Kritisch vermerkt wird insbesondere die Überwachung von Scientology durch den Verfassungsschutz.

Während ähnliche internationale Rügen an die Adresse Bonns - etwa durch das Washingtoner Büro der KSZE (OSZE)-Menschenrechtsorganisation (Sep. 1993) oder durch den Sonderberichterstatter für religiöse Intoleranz der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (März 1995 u. Dez. 1997) - in der Vergangenheit kaum Wirkung zeigten, scheint das zunehmend vehementere Auftreten der USA als Mahner in Sachen Religionsfreiheit auf die Regierenden in Bonn Eindruck zu machen. In einem Schreiben an Bundeskanzler Gerhard Schröder führen die Senatoren und ehemaligen Senatoren Michael Enzi, Dan Coats, John Ashcroft und Alfonse D‘ Amato aus, sie seien "beunruhigt wegen fortgesetzter Berichte und Beweise über eine staatlich geförderte Diskriminierung, die sich gegen Minderheiten in Deutschland aufgrund der religiösen Überzeugungen ihrer Mitglieder richtet." Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Schlußakte von Helsinki verweisen die Autoren in ihrem Schreiben auch auf ein Gesetz mit der Bezeichnung H. R. 2431 ("Gesetz über die Religionsfreiheit im internationalen Raum").

Dieses Gesetz dürfte identisch sein mit dem vom Focus(51/1998) zitierten "Gesetz zum Schutz vor religiöser Verfolgung". Das "mit überwältigender Mehrheit vom Kongreß verabschiedete Gesetz gibt dem Präsidenten die Macht, im Alleingang sämtliche Staaten mit Sanktionen zu belegen, die die Religionsfreiheit aus US-Sicht verletzten: vom Stopp finanzieller Hilfen bis zum Veto gegen Weltbank- und IWF-Kredite." Auf der schwarzen Liste der Glaubenshüter im US-Außenministerium stehen 77 Staaten. "Neben den islamischen Erzfeinden Irak und Sudan sowie dem kommunistischen China und Nordkorea finden sich dort Staaten wie Deutschland oder Frankreich erwähnt, was überrascht", so das Nachrichtenmagazin.

Das beflissene Engagement der USA für die Glaubensfreiheit dürfte indes entgegen der Vermutung der Focus -Autoren nicht in erster Linie historische Gründe haben. Sicher gilt die Freiheit des Glaubens seit der Kolonialzeit als Grundpfeiler der Demokratie in den USA. Die Glaubensfreiheit wurde jedoch immer auch als Propagandawaffe gegen Andersdenkende eingesetzt. In der Rhetorik Eisenhowers erreichte der kalte Krieg die Dimension eines spirituellen Wettstreits zwischen "gottesfürchtiger Demokratie und gottlosem Kommunismus", und bei Reagan eskalierte er gar zum apokalyptischen Kampf zwischen dem "Reich der Freiheit" im Westen und dem "Reich des Bösen" im Osten. Gleichzeitig schreckten die US-Behörden nicht davor zurück, Religionsgemeinschaften, die mangelhafte Anpassung an die Normen der US-Gesellschaft bewiesen, recht nachdrücklich die Grenzen der amerikanischen Toleranz aufzuzeigen. Erinnert sei hier nur an die Verfolgung der Anhänger des indischen Gurus "Bhagwan" Sri Rajneesh (später "Osho"), der nach Angaben seiner Ärzte in US-Haft mit Thallium vergiftet wurde, die Bombardierung der Zentrale der Davidianer-"Sekte" im texanischen Waco oder an das Massaker in Guyana, bei dem nach unabhängigen Untersuchungen die CIA ihre Hand mit im Spiel hatte.

Die Vermutung, das Gesetz H. R. 2431 über die Religionsfreiheit könne der US-Regierung als "Werkzeug" dienen, um ihr politisch oder wirtschaftlich mißliebige Staaten abzustrafen, ist daher nicht von der Hand zu weisen. Im Bedarfsfall könnte dieses Gesetz rasch zum Interventionsinstrument avancieren. Das Muster für ein derartiges Vorgehen lieferte jüngst der NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Die Rolle der verfolgten Kosovo-Albaner können schon morgen die "unterdrückten" Anhänger des Dalai-Lama in Tibet spielen. Und die Liste ist lang...

"Keine Religionsgemeinschaft"

Die Instrumentalisierung der Religionsfreiheit durch die US-Regierung ändert freilich nichts daran, daß die Kritik Washingtons an der Praxis der Diskriminierung religiöser Minderheiten in Deutschland absolut berechtigt ist.

Nähme etwa die bayerische Landesregierung die Begründung für ihren oben zitierten Erlaß ernst, dann müßte sie auch Katholiken vom Staatsdienst ausschließen - Mitglieder einer Religionsgemeinschaft mit geradezu totalem Absolutheitsanspruch, deren Oberhaupt nicht nur mit dem Anspruch der "Unfehlbarkeit" auftritt, sondern die ihre Mitglieder auch so "rücksichtslosen Psychomethoden" wie der Beichte oder dem Beten unterwirft und selbst vor der Zwangstaufe Unmündiger nicht zurückschreckt.

Wie die christlichen Großkirchen ist auch die Scientology-Kirche darauf aus, Proselyten zu machen, die Schar ihrer Anhänger zu vergrößern sowie Macht und Einfluß zu gewinnen - ein legitimes Anliegen, das vom Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit geschützt ist. Dieses Recht ist nicht nur in den Verfassungen der meisten "demokratischen Staaten" verankert, es ist auch Bestandteil der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948. Darüber hinaus verbietet Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention jedwede Diskriminierung aus religiösen Gründen.

Die Berufung der Scientology-Kirche auf die Religionsfreiheit wird nun im allgemeinen mit der Behauptung gekontert, bei Scientology handle es sich ja gar nicht um eine Religionsgemeinschaft, sondern um ein rein kommerzielles Unternehmen. Scientology, so heißt es, schiebe die Religion nur vor und benutze sie als bloßen Vorwand für Geschäftemacherei. Hand in Hand mit dem Vorwurf geht die offen geäußerte Absicht, der Scientology-Kirche den Status einer steuerbefreiten Religionsgemeinschaft abzuerkennen. Dabei wird immer wieder empört darauf hingewiesen, daß sich Scientology religiöse Dienstleistungen wahre Unsummen kosten lasse. Nun kann man darüber streiten, ob die von Scientology hierfür verlangten Beträge angemessen sind oder nicht. Da es bei religiösen Angelegenheiten keine objektiven, rational nachvollziehbaren Qualitätskriterien gibt, ist allein ausschlaggebend, daß die von der Kirche angebotenen Dienstleistungen offensichtlich zahlreichen Menschen den verlangten Preis wert sind.

Die Auffassung, daß Scientology aufgrund ihrer wirtschaftlichen Betätigung keine Religion sei, konnte sich im Gegensatz zum deutschen Bundesarbeitsgericht die große Mehrheit der mit dieser Frage befaßten Gerichte denn auch nicht zu eigen machen. Eine Berufung auf Artikel 4 Abs. 3 Grundgesetz könne "Scientology keineswegs allein mit der Begründung verwehrt werden, sie biete Bücher und Dienstleistungen (Seminare etc.) gegen Entgelt an", befand etwa das Amtsgerichts Freiburg am 6. Februar 96. "In diesem Punkt", so die Begründung des Gerichts, "unterscheidet sich ‚Scientology‘ in keiner Weise etwa von Vorstellungen und Verhaltensweisen der Großkirchen, die überdies noch den Vorteil des Kirchensteuereinzugs haben. Allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften", so das Amtsgericht weiter, "müsse prinzipiell die Möglichkeit gegeben werden, entsprechende Einnahmen sowohl zur Finanzierung der laufenden Tätigkeit als auch zur Finanzierung des den meisten Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften innewohnenden Missionsgedankens zu erzielen (...) Anhaltspunkte etwa für die Annahme (...), daß die aus Dienstleistungen und Büchern erzielten Einkünfte bestimmten einzelnen Personen zufließen und aus diesem Grund davon ausgegangen werden müßte, daß ein Religionscharakter nur vorgeschoben ist," konnte das Gericht ausdrücklich nicht entdecken. "Die starke Medien- und Pressekampagne gegen ‚Scientology‘" betrachtete das Gericht als "zur Urteilsbildung vollständig ungeeignet".

Ähnlich hatten zuvor bereits das Verwaltungsgericht Berlin (1988), das Landgericht Frankfurt am Main (1989) sowie der Unabhängige Verwaltungssenat Wien in einem letztinstanzlichen Berufungsurteil (1995) entschieden. Und auch die US-Bundessteuerbehörde erkannte Scientology nach einer Jahrzehnte währenden Untersuchung im Oktober 1993 uneingeschränkt als Religion an.

Unterwanderung der Wirtschaft

Ähnlich absurd ist die von Gegnern der Scientology-Kirche in die Welt gesetzte Behauptung, die "Sekte" unterwandere die Wirtschaft und beherrsche bereits den gesamten Immobilienmarkt. Nach nicht widerlegten Angaben von Scientology sind unter den 30.000 Mitgliedern der Organisation in Deutschland (nach Erkenntnissen des Bundesverfassungsschutzes sind es sogar weit weniger) rund 40 selbständige Immobilienmakler, deren Anteil an den in Deutschland registrierten 22.000 Immobilienmaklern gerade 0, 2 % beträgt. Die Absurdität des Vorwurfs der Unterwanderung liegt angesichts dieser Relation auf der Hand. Selbst wenn man den Scientologen eine überdurchschnittliche Geschäftstüchtigkeit unterstellt, was in einer dem kapitalistischen Gewinnstreben huldigenden Gesellschaft kein Makel sein sollte, dürfte Scientology in dieser Beziehung der katholischen Kirche kaum das Wasser reichen können. Mit ihren vielfältigen geschäftlichen Beteiligungen und ihrem riesigen Grund- und Immobilienbesitz verfügt diese über eine ökonomische Potenz, von der Scientology nur träumen kann. Kein Sektenbeauftragter oder Politiker käme freilich auf die Idee, dem Heiligen Stuhl vorzuwerfen, er unterwandere die Wirtschaft.

Daß der Vorwurf der reinen Geschäftemacherei indes nur vorgeschoben ist, belegt eine Charakterisierung von Scientology im Jahresbericht des baden-württembergischen Verfassungsschutzes von 1998. Dort heißt es: "Die mitunter geäußerte Meinung, die SO sei rein gewerblich tätig, läßt außer acht, daß der SO-Stifter Hubbard und seine Nachfolger ‚Geld als eine Form von Macht‘ betrachten (...) und die Expansion der Organisation als ein dem Gelderwerb übergeordnetes Ziel ansehen." (S. 157) Aber auch in dem Ziel, Macht und Einfluß zu erringen, stehen die Amtskirchen den Scientologen kaum nach. Im Gegenteil: Kirchenvertreter lehren Religionsunterricht an den Schulen, sitzen in den Aufsichtsräten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und bestimmen über die Erziehung der Kleinen in den Kindergärten.

Magere Erkenntnisse

Die zweijährige Beobachtung von Scientology durch den Verfassungsschutz hat im übrigen keinerlei Hinweise auf strafbare oder verfassungswidrige Tätigkeiten erbracht. "Es gebe keine Erkenntnisse darüber, daß Scientology Einfluß auf die Politik nehme (...) Auch sei eine Einflußnahme auf namhafte Wirtschaftsunternehmen bislang nicht bekannt," konstatierte der Direktor des hessischen Verfassungsschutzes Hartmut Ferske bereits 1998. Angesichts dieser Erkenntnisse müsse überlegt werden, so der damalige hessische Innenminister Gerhard Bökel, "ob es Sinn hätte, die Beobachtung der Scientology fortzusetzen." ( Rhein-Neckar-Zeitung, 3. Mai 1998).

Äußerst mager sind auch die Erkenntnisse, die der Verfassungsschutz von Baden-Württemberg in seinem Jahresbericht von 1998 über die Organisation zusammengetragen hat. Zwar wird lang und breit die organisatorische Struktur der "Sekte" beschrieben, wobei sich die Verfassungsschützer insbesondere vom "Nachrichtendienst" OSA der Scientologen stark beeindruckt zeigen, der "in erheblichem Umfang Dossiers über Privat- und Amtspersonen, SO-Kritikerorganisationen, Politiker und staatliche Stellen anlegt." (S. 165). - Nun, das tun andere Organisationen auch, ohne daß ihnen deshalb Verfassungsfeindlichkeit vorgeworfen würde. Faßt man die Vorwürfe der Verfassungsschützer gegen Scientology zusammen, so zielen diese vor allem auf den "hohen Organisationsgrad der SO zur Durchsetzung ihrer Ziele" (S. 165), die eigene Gerichtsbarkeit (S. 157 f.) sowie den Absolutheitsanspruch der Kirche (S. 167). Die ausgesprochene Vermutung, Scientology verfolge die "langfristige Strategie", die "freiheitliche demokratische Grundordnung durch Errichtung eines ‚Parallelsystems‘ zu beseitigen, das letztlich in eine scientologische Gesellschaftsordnung münden soll" (S. 159), erscheint, da von Fakten nicht untermauert, geradezu paranoid. Und wenn die Verfassungsschützer feststellen, "Ziel sämtlicher PR-Aktivitäten der SO ist die Manipulation der öffentlichen Meinung", (S. 156), dann stellen sie damit nur ihren Mangel an demokratischer Gesinnung unter Beweis, der ihnen die herrschende ("öffentliche") als die allein zulässige Meinung erscheinen läßt.

Der Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz für 1998 führt unter der Rubrik "Tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen" nur einen einzigen, sehr spärlich begründeten Vorwurf auf. Unter Berufung auf einige wenige - unklare und aus dem Zusammenhang gerissene - Zitate aus frühen Schriften des Religionsstifters Hubbard wird der Organisation unterstellt, eine "Zivilisation" errichten zu wollen, in der die Grundrechte nur für einen im Sinne von Scientology begrenzten Personenkreis von "Ehrlichen" und "Nichtaberrierten" gelten sollten (S. 212).

Wie dünn die Beweislage für diese Behauptung ist, scheinen die Verfassungsschützer selbst gemerkt zu haben, wenn sie folgern: "Nach ihren aktuellen Werbebroschüren scheint die SO sogar eine Gesellschaftsordnung anzustreben, in der die Existenz und die Schutzbereiche der Grund- und Menschenrechte im willkürlichen Ermessen der Organisation liegen und noch nicht einmal zumindest allen ‚ehrlichen Wesen‘ als unveräußerliche Rechtsposition gewährt werden." (S. 212) Die "tatsächlichen Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen" bestehen demnach lediglich in der vagen Vermutung der Bundesverfassungsschützer, Scientology wolle "als Fernziel" (S. 212) die Grundrechte einschränken. Konkrete Angaben darüber, welche Grundrechte Scientology wie einschränken will, sucht man im Verfassungsschutzbericht freilich vergebens. So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Dämonisierung von Scientology habe hier vorrangig den Zweck, die Unentbehrlichkeit einer bundesdeutschen Geheimpolizei unter Beweis zu stellen.

Hysterie statt Aufklärung

Scientology-Gegner wie die bereits erwähnte Sektenbeauftragte des Hamburger Senats Ursula Caberta sind seit Jahren bemüht, Scientology kriminelle Handlungen nachzuweisen - und den Nachweis bisher schuldig geblieben. Jedenfalls wurde nicht bekannt, daß die umfangreichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen die Scientology-Kirche in Deutschland Hinweise für kriminelle Handlungen im Sinne des Strafrechts ergeben hätten. Was die Sektenbeauftragten mit ihrer Agitation dagegen erreicht haben, und hier waren sie in der Tat erfolgreich, ist ein Klima der Einschüchterung und Hysterie.

Zu den Opfern dieser Kampagne gehört u.a. der weltberühmte Jazzpianist Chick Corea. Obwohl ihn die Landesregierung Baden-Württemberg anläßlich der Leichtathletikweltmeisterschaften 1993 zu einer Konzertveranstaltung selbst eingeladen hatte, verweigerte sie ihm den Konzertauftritt und lud ihn wieder aus, nachdem bekannt wurde, daß Chick Corea Scientologe ist. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich auch bei der Europatournee Chick Coreas 1994.

Einer regelrechten Hexenjagd ausgesetzt war der Künstler Gottfried Helnwein. Obwohl sich Helnwein bereits mehrfach von Scientology distanzierte, geriet er immer wieder in die Schußlinie der selbsternannten Sektenjäger. So konnte im Sommer 1995 eine von Helnwein konzipierte und vom Kultusministerium Rheinland-Pfalz teilweise subventionierte Ausstellung zu Ehren des Comic-Zeichners Carl Barks erst über die Bühne gehen, nachdem sich "Sektenexperten" des Kultusministeriums, die Kultusministerin persönlich sowie ein Jurist im Rahmen einer Befragung von der tatsächlichen Distanz des Künstlers zu Scientology vergewissert hatten. Und nur weil er ein Buch des Scientology-Stifters Hubbard gelesen und positiv beurteilt hatte, wurde im Oktober 1995 einer der Stellvertreter des Cheftrainers der deutschen Fechtnationalmannschaft aus dem Team gefeuert und aufgefordert, das Fechter-Quartier zu verlassen. Erinnert sei schließlich auch noch an verschiedene Unternehmen, die - wie die Bierbrauerei Warsteiner - der Nähe zu Scientology bezichtigt, diesen rufschädigenden Verdacht erst mittels teurer PR- und Marketingkampagnen aus der Welt schaffen konnten.

"Sekte" – ein Kampfbegriff der Kirche

Die Amtskirchen genießen in Deutschland zahlreiche Privilegien (Einzug von Kirchensteuer durch den Staat, Subsidiaritätsprinzip, §166 StGb Gotteslästerung, Gültigkeit des Hitlerkonkordats von 1933). Von der Existenz einer Trennung von Kirche und Staat in der Bundesrepublik kann also nicht gesprochen werden. Diese bevorzugte Stellung der Amtskirchen erscheint ihren Repräsentanten und führenden Vertretern aus Politik und Medien als ein selbstverständliches Vorrecht. Kritiklos, als gehörte die Aufklärung einem längst "überwundenen" Zeitalter an, werden beim Kreuzzug gegen die "Sekten" Begriffe und Wertungen der etablierten Kirchen von Politik und Medien übernommen.

Die Folge ist eine selektive Rationalität bei der Beurteilung religiöser Praktiken und Inhalte. So wird etwa einerseits mit großem Eifer die Unwissenschaftlichkeit des von Scientology praktizierten "Auditing" angeprangert und der "Sekte" lautstark Betrug und Scharlatanerie vorgeworfen. Keinen Gedanken verschwenden die gleichen "aufgeklärten" Kritiker jedoch auf die Frage nach der versprochenen Effizienz des Betens, Beichtens oder des Abendmahls. Obwohl Erfahrung und Vernunft nicht weniger strapazierend als Hubbards Lehre von den "Operativen Thetanen" gelten die Lehren der etablierten Kirchen - von der Heiligen Dreifaltigkeit über die Jungfrauengeburt bis hin zur Himmelsfahrt - nicht als "verwirrend", "schädlich" oder "gefährlich". Ignoriert wird nicht nur, daß religiöse Inhalte kaum je der Überprüfung durch die Vernunft standhalten, sondern auch, daß das Bekenntnis zu ihnen die Privatangelegenheit jedes einzelnen ist. Gerade in diesem Punkt aber sind "Sekten" den Amtskirchen überlegen: Ihre Anhänger wurden nicht in unmündigem Alter ins Taufbecken getaucht, sondern haben in freier Wahl über ihre Religionszugehörigkeit entschieden.

Dies wollen die Amtskirchen vergessen machen, wenn sie die von ihnen bekämpfte religiöse Gemeinschaften als "Sekten" verketzern. Die Verwendung dieses uralten kirchlichen Kampfbegriffs macht die Stoßrichtung der gesamten Debatte deutlich. Das Wort "Sekte" leitet sich von sequi (Grundsätze, Gesamtheit von Grundsätzen, Schule, Lehre) ab, "Secta" bedeutete in der Antike nichts anderes als "Philosophenschule". Berühmteste "Sekte" der Antike waren die Pythagoräer. Gefährlich wurde das Wort Sekte für die mit ihm bezeichneten Personen, als das Christentum in Rom durch die Toleranzedikte Konstantins den anderen Religionen gleichgestellt und von Theodosius I. sogar zur alleinigen Staatsreligion erhoben wurde. Die Streitigkeiten innerhalb des Christentums wurden nun nicht mehr in Disputen, sondern durch die Hinrichtung der unterlegenen Fraktionen gelöst. Das Wort Sekte bezeichnete nun eine Organisation von Personen, die dem örtlichen Bischof nicht gehorchten und sich durch eine verbindliche religiöse Lehre und einen entsprechenden religiösen Kult auszeichneten. Die Enthauptung und später der Scheiterhaufen gehörten zu den Strafen, die für diese "Abtrünnigen" vorgesehen waren.

Zu den bekanntesten "Sekten", die von der mittlerweile etablierten Staatskirche verfolgt wurden, gehörten Arianer, Nestorianer, Manichäer und Katharer (von denen sich der Begriff "Ketzer" ableitet). Die Gesetze von Kaiser Theodosius gegen die Asketismus predigenden Manichäer, die den Verlust der staatsbürgerlichen Rechte, die Konfiskation der Güter und schließlich die Todesstrafe bzw. die Verbannung zur Folge hatten, wurden zum Vorbild für die spätere blutrünstige Inquisitionspraxis der Kirche. Zu ihren Opfern gehörten in der Folge potentiell alle, die mit der bestehenden Ordnung unzufrieden waren. "Jedem, der es wagte, die Ausschweifung, Käuflichkeit und Habgier der Geistlichkeit zu kritisieren; jedem, der irgendeinen Zweifel an der Wahrheit der religiösen Dogmen oder der kirchlichen Praxis äußerte - ihnen allen drohte nunmehr die Inquisition mit schonungslosem Gericht." (J.R. Grigulevic: Ketzer - Hexen -Inquisitoren)

Moderne Inquisitoren

Offenbar um Vergleichen mit den Ketzerverfolgungen früherer Jahrhunderte vorzubeugen, sprechen "Sektenexperten" mittlerweile denn auch offiziell nicht mehr von "Sekten", sondern von "religiösen Sondergemeinschaften" bzw. "destruktiven Kulten" oder "totalitären Gruppen", Begriffe, die zwar historisch weniger belastet, aber nicht minder despektierlich sind und in allen Fällen den Gedanken einer "Sonderbehandlung" dieser Gruppen explizit nahelegen. Auch wenn es heutzutage niemand mehr wagen würde, die physische Vernichtung von Andersgläubigen zu fordern, so zeigen die freimütigen Bekenntnisse der fast ausschließlich im kirchlichen Spektrum angesiedelten modernen "Sektenbeauftragen", daß der Vergleich mit der Inquisition nicht an den Haaren herbeigezogen ist.

"Verstehen wir unseren Glauben richtig, so haben wir kein Recht, den anderen in seinem Glauben zu lassen." Dieses Zitat stammt nicht etwa aus einem mittelalterlichen Inquisitionsleitfaden des Dominikanerordens, sondern aus der Feder von Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack, 1991 verstorbener Sektenbeauftragter der Evangelischen Kirche Bayerns, der mit seinem unermüdlichen Vorgehen gegen religiöse Minderheiten als einer der Vorreiter der Anti-Sektenkampagne gelten kann. Von Haack ist auch die Äußerung aktenkundig: "Wenn Sie bei mir auf Inquisition tippen, liegen Sie richtig!" Auffällig ist ohnehin, daß die schärfsten und unerbittlichsten Verfolger von Scientology wie auch aller anderen "Sekten" aus dem evangelischen Lager kommen. Führende Repräsentanten sind Thomas Gandow, Pfarrer für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, und der Psychologe Dr. Hansjörg Hemminger, Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Tübingen, der Scientology im März 1996 in einem Aufsatz für das "Börsenblatt des deutschen Buchhandels" als ein "politisches Problem" bezeichnet hatte.

Stärker als die Katholische Kirche von Kirchenaustritten heimgesucht, sehen die Evangelischen Kirchen in den sogenannten "Sekten" ganz offensichtlich ein zentrales Problem für den Fortbestand ihrer eigenen Organisation.

Opfer der Sektenhysterie sind neben Scientology eine Reihe sehr verschiedenartiger Gruppen und Organisationen, wobei sich die Angriffe der Sektenjäger in den letzten Jahren auf die folgenden Gemeinschaften konzentrierten: Universelles Leben, Verein Psychologischer Menschenkenntnis (VPM) sowie die Zeugen Jehovas.

Allen genannten Organisationen - einschließlich Scientology - ist gemeinsam, daß sie, ohne die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung prinzipiell in Frage zu stellen, deutliche Kritik an einer Reihe von gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen äußern. Anders als etwa die Sannjasins (Bhagwan-Anhänger) der siebziger und frühen achtziger Jahre zeichnen sich diese Gemeinschaften durch ein Festhalten an ausgesprochen konservativen Wertvorstellungen aus. Beklagt wird etwa der Verlust verbindlicher moralischer Werte, der Bedeutungsverlust von Ehe und Familie, Drogenkonsum, Kriminalität etc. Mit ihrer Kritik am "religiösen und kulturellen Zerfall" der Gesellschaft treffen diese Gemeinschaften die Gedanken und Gefühle vieler - überwiegend kleinbürgerlich geprägter und unpolitischer - Menschen.

Zum politischen Problem wurden die "Sekten" allerdings erst, als auch die letzten Reste einer organisierten politischen Opposition verschwunden war, was ungefähr seit Mitte der 80er, spätestens jedoch seit Anfang der 90er Jahre der Fall ist. Daß die "Sekten" von den Regierenden tatsächlich als politisches Problem betrachtet werden, zeigt die Stoßrichtung der Vorwürfe und des Vorgehens insbesondere gegen die Scientology-Kirche. Die offizielle Kritik an den "Sekten", wie sie von Vertretern der Kirchen und der Parteien vorgebracht wird, konzentriert sich auf deren vom Staat unabhängige Organisations- und Befehlsstruktur, die als "totalitär" oder gar "faschistisch" denunziert wird.

Auffallend ist, daß sich die obengenannten, als besonders gefährlich geltenden Gemeinschaften nicht nur durch eine auffällige Intransigenz, sondern auch durch einen vermeintlich hohen Organisationsgrad auszeichnen. Erst ihre Organisiertheit und damit relative Unabhängigkeit von staatlicher Beeinflussung macht die "Sekten" in den Augen der Regierenden so gefährlich. Die Träger staatlicher und geistlicher Macht sehen in den "Sekten" nicht nur die religiöse Konkurrenz zu den Amtskirchen, die deren Vormachtanspruch gefährden. Mehr noch scheinen sie diese als Ausdruck einer gegen die herrschenden Verhältnisse gerichteten unversöhnlichen oppositionellen Gesinnung zu fürchten, die sich dem Zugriff des staatlichen Gewaltmonopols beharrlich und geschickt entzieht. Dieses irrationale, ja paranoide Moment scheint einer der entscheidende Gründe zu sein, weshalb sich die staatlichen Autoritäten bei der Verfolgung von Scientology und anderen "Sekten" so bereitwillig vor den Karren der christlichen Großkirchen spannen lassen. Der sich gegen die "Sekten" richtende staatliche Verfolgungseifer verrät ein tief sitzendes Mißtrauen der Herrschenden gegenüber der gesamten Bevölkerung, deren geheimste Gedanken und Wünsche man fürchtet! Die "Sekten" scheinen den Mächtigen eine Ahnung davon zu vermitteln, was erst passieren könnte, wenn sich die Lohnabhängigen mit der gleichen Entschiedenheit zu ganz anderen Zwecken vereinen könnten.

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